... für Leser und Schreiber.  

Möchte nicht mehr weiter gehen

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© Verena G.   
   
Sein Bruder lebt weiter...

Der Schmerz im Inneren seines Körpers wurde immer stärker. Am liebsten hätte er ihn laut hinausgeschrieen, doch irgendetwas drückte ihm die Kehle zu. Nicht einmal ein leises verlorenes Schluchzen entweichte ihm. Er saß stumm da und dachte nur noch an Eins: "Gab es für ihn nun überhaupt noch einen Grund weiter zu leben?" Sein Leben hatte für ihn keinerlei Bedeutung mehr. Sah er in die Zukunft, soweit dies sein Vorstellungsvermögen überhaupt zuließ, schaute er in einen tiefen schwarzen Brunnen. Ohne Licht, ohne auch nur einen winzigen Sonnenstrahl, ohne Begleitung würde er durch sein Leben, wie durch schmottriges Schlammwasser waten.
Er musste nicht einmal an all die Qualen und den Schmerz, den er täglich zu ertragen hatte und ab heute noch mehr, denken, er spürte ihn viel mehr schon in sich.
Es machte ihm Angst keinerlei Hoffnungen zu besitzen, dass dieses Gefühl je nachlassen würde. Doch noch größere Angst hatte er vor dem ständigen Alleinsein. Schon als Kind gab es für ihn nichts schlimmeres als alleine, ohne seine Zwillingsbruder, zum Kindergarten, zur Schule, in den Urlaub und zu Bett zu gehen. Sein Bruder war es, der in jeglichen Lebenssituationen an seiner Seite und ihm eine Stütze war. Zusammen mit seinem Bruder überwand er vielerlei Probleme, die für ihn selbst so ausweglos schienen. Er wußte, dass sein Bruder der einzige Mensch war, dem er blind vertrauen konnte und der ihn bestens verstand. Ob es nun um das Geld ging, von dem er nie behaupten konnte, dass er davon genug hatte, oder seiner Liebe, um die es bei ihm ganz ähnlich stand.
Sein Bruder war der einzige Mensch, dem er von seiner erschreckensten Gewissheit erzählt hatte. Seiner Krankheit, die sein Leben alles andere als einfacher gestaltete. Er hatte Aids. Nachdem er wußte, dass er nun nicht mehr davon los kommen würde und sie ihn an sich gefesselt hielt, war er sich im Klaren, dass er nur noch auf seinen Tod zu lebte, der ihn jeden Moment einholen konnte.
Seine Strafe dafür, dass er sein letztes Geld für ein wenig Liebe ausgab.
Sein Leben nahm eine Form der Trostlosigkeit an, die er noch nie zuvor in irgendeiner Weise gespürt hatte.
Sein Leben begann noch einsamer zu werden, als es ohnehin schon war. Monatelang sprach er nur noch, wenn er es für wirklich notwendig hielt. Er wurde ein schweigsamer Mann, der sich von allen Menschen verschanzte und als Außenseiter lebte. Die Abende verbrachte er allein mit einer Flasche Rotwein in einem kleinen Keller eines leerstehenden Hauses. Seinem zu Hause, seit er mit seinen 18 Jahren von daheim auszog. Die meiste Zeit verbrachte er in diesem Keller mit Stiften und Papier. Die enzige Lebensbeschäftigung blieb das Gedichte schreiben. Gedichte über den Kummer aus seinem Inneren, seine Gefühle, verlorene Hoffnungen und Ängste entstanden. In seinen Gedichten erzählte er nur von sich und der Welt, die er sah. Keinerlei andere Personen kamen darin vor. Er hätte auch nicht gewußt, über wen oder was er da hätte schreiben sollen. Beachtete er keinen dieser Menschen, denen er begegnete, wenn er hin und wieder seinen Keller verließ. Wozu auch? Für sie Alle war er der stille Außenseiter, den man besser in Ruhe ließ, aus Angst seine Trauer teile zu müssen, die ihn zu beherrschen schien.
Die einzige Person, die ab und zu zwischen den Zeilen seiner vielen Gedichte auftauchte, war sein Zwillingsbruder.
Dieser war der kleine Sonnenstrahl, der seine finsteren Gedichte einen winzigen kleinen Lichtblick gab aus all den Frust und den Kummer ein Stückchen Hoffnung zu sehen. Sein Bruder packte es ohne seine Anwesenheit den Keller zu erhellen und die Gedichte zum Atmen zu bringen. Somit glich sein Leben sehr den Dichtungen auf den Papieren.
Sein Bruder gab ihm den notwendigen Trost, den er brauchte um sei9nen leben kein frühzeitiges Ende zu setzen.
Sein Bruder spendete ihm Unmengen von tröstenden Worten, sowie Zärtlichkeit, die ihn wieder zu Hoffen überwanden. An manchen Tagen konnte sein Bruder ihn sogar ein wenig aufheitern, so dass er sich zu einem Lächeln überwinden konnte. In seinem sonst so ernsten und nachdenklichen trüben Blick erschien für kurze Zeit ein Strahlen und zugleich hatte man das Gefühl, dass das kleine Kellerfenster plötzlich alle Lichtstrahlen der Außenwelt bündelte um dein zu Hause, sein Herz, hell erleuchten zu lassen.
Doch sein Bruder erzählte ihm auch von dem unbeschwerten Leben außerhalb seines Kellerfensters. Von dem Leben der Leute, die sich um nichts Gedanken machen, was sie nicht angeht. Die sich ujm nichts kümmern, was sie nicht interessiert. Die zu sich sagen, dass sie nicht allen Menschen helfen können uns somit Keinem helfen. Diese Menschen ließen ihn genauso kalt, denn sie zeigten keine Gefühle und schienen ihm somit als gefühlskalt und selbstverliebt. Er wollte gar nicht viel über die Menschen draußen erfahren. Er würde es nicht ertragen von ihnen ewig missverstanden zu bleiben, weil sie nicht annähernd so dachten wie er. Er brauchte sie nicht um glücklich zu sein, denn er würde nie wieder glücklich werden. Das Einzige was er brauchte, neben seinen Gedichten, war die Anwesenheit seines Bruders. Dies langte ihm, um sein Leben wie bisher weiter zu führen: Das Versprechen seines Bruders ewig, bis seine Krankheit diesem leben ein Ende setzen würde, für ihn da zu sein.
Nun war das Versprechen gebrochen.
Sein Bruder war tot.
Es war der größte Verlust, den er sich hätte vorstellen können. Es schien für ihn unmöglich und nun war es eingetreten.
Mit zitternden Händen, die er bisher nur daher kannte, wenn er mit seinem Bruder wieder mal zuviel getrunken hatte, schenkte er sich ein weiteres Glas Rotwein ein. In einem zug trank er es aus und hielt es fest umklammert, soweit dies möglich war.
Die schreckliche Nachricht wurde ihm vor einer halben Stunde über das Radio mitgeteilt: "Durch einen Autounfall verunglückte ein 28jähriger tödlich..." Er hatte dem Sprecher nicht länger zu hören müssen, um zu wissen, dass damit sein Bruder gemeint war. Seit er in seinem Keller lebte, besuchte ihn sein Bruder jeden Sonntagabend. Sein Bruder hatte stets spätestens um 20 Uhr an seiner Tür geläutet. Noch nie hatte er sich verspätet, nie hätte er ihn einfach so im Stich gelassen. Als es bereits 2 Minuten nach acht war, wußte er, dass seinem Bruder etwas zugestoßen sein musste.
Bis jetzt konnte er noch keinen klaren Gedanken fassen. Er spürte nur wie die Leere in seinem Herzen nach und nach immer größer wurde. Diese stieg proportional mit der Kälte in seinem Körper und diesem Keller. Nicht nur um sich zu wärmen nahm er noch einen kräftigen Schluck des Lieblingsrotweins seines Bruders, sondern auch um aus diesem vermeintlichen Alptraum endlich auf zu wachen.
Als das Telefon klingelte erschrak er so heftig, dass er das Glas und die Rotweinflasche umstieß. Diese blieb unversehrt auf dem harten Kellerboden liegen. Nur das Glas zersprang in tausend Scherben. "Wie mein Herz", fuhr es ihm durch den Kopf. Dieses Geräusch des Aufpralls war genauso schmerzlich wie das läuten des Telefons. Seit Jahren rief ihn Keiner mehr an. Niemand, außer sein Bruder besaß seine Telefonnummer. Für einen kurzen Augenblick kam ihm der Hoffnungsschimmer, dass es sein Bruder war, der ihm sagen wollte, er würde sich verspäten. Blitzschnell nahm er ab und lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung. "Es tut mir ja so Leid", hörte er eine Frau jammern. Sein Kopf fiel mit einem Ruck schwer auf den Tisch, an dem er saß. Hatte er es doch genau gewußt, sein Verstand hatte es ihm gesagt, aber er hatte es nicht wahrhaben wollen. Erst jetzt, mit dieser Bestätigung, spürte er den stechenden Schmerz in seiner Brust so deutlich, dass es ihn fast zerriß. Er wünschte es wäre nicht der Schmerz der Trauer, sondern der Schmerz seiner Krankheit, die nun auch ihn holen wollte und zu seinem Bruder bringen würde. Doch wieder mischte sich sein Verstand ein und gab ihm zu verstehen, dass dies Unfug sei. Auch die Stimme am Telefon hörte er das Gegenteil schluchzen: "Wir zwei müssen jetzt zusammen halten und ganz stark sein..." Er hatte diese Stimme noch nie zuvor gehört, und doch wußte er durch Erzählungen seines Bruders, dass es nur dessen Lebensgefährtin sein konnte.
"Ich kann in einer Stunde bei dir sein. Wenn das okay ist. Ich weiß wo ich dich finden kann. Ich komme vorbei. Dein Bruder hätte es so gewollt, dass du jetzt nicht alleine bist."
"Ja", murmelte er. Dieses "Ja" kam von sehr tief unten seines Körpers. Es hatte sich den engen Weg durch sein zersprungenes Herz gesucht, es dabei gestreift und war mit einem schweren, erdrückenden Schluchzen aus ihm herausgebrochen.
Mit diesem einen Wort lösten sich alle Anspannungen in ihm. Die lang zurückgehaltenen Tränen liefen ihm heiß über die Wangen. Und noch ehe er los heulte, seinen Gefühlen freien Lauf ließ, unterbrach er die Verbindung in dem er auflegte. Er wußte nicht mehr zu was er dieses Ja gesagt hatte, er wußte nur, dass er nun von grenzenloser Einsamkeit umgeben war, die nie wieder aus seinem Leben verschwinden würde. Er stand praktisch in der großen heiße Wüste Afrikas, ohne Ausweg, ganz alleine. Und er fror. Ihm wurde klar, dass er endlich etwas gegen dieses Gefühl des Verlassens und der Kälte tun musste, sonst würde er durchdrehen...
Er trat zu seiner Hausbar, an die sie sich jetzt auch bedient hätten, wenn sein Bruder bei ihm gewesen wäre. Sie hätten sich einen, oder auch zwei Sherry genommen und er hätte seinen Bruder reden lassen. Er hätte ihm zugehört und für dies Zeit der Zweisamkeit die Leere in ihm und seiner Welt vergessen. Nun war sie allerdings deutlich zu spüren. Zu deutlich. Auch jetzt nahm er zwei Gläser aus der Vitrine, goß sie voll, soweit das seine zitternden Hände noch zuließen und trank sie beide ohne zögern leer. Diese angenehme Prozedur wiederholte er solange, bis er es läuten hörte. Diesmal war es nicht das Telefon, was ihn in die schreckliche Realität zurückholte, sondern die Tür. Jemand klingelte an seiner Haustür! "Mein Bruder!", schoss es ihm durch den Kopf und ein Strahlen huschte über sein Gesicht. Er wollte schnell zur Tür laufen um seinen Bruder hereinzulassen. Der Keller war auf einmal fürchterlich finster. Auf den Weg zur Tür mußte er sich an der Wand festhalten. Er stand dort angelehnt und atmete schwer. Langsam schien er wieder zu sich zu kommen, sein Verstand schaltete sich ein. "Mein Bruder ist tot", sagte er ihm. "Mein Bruder ist tot", wiederholte er laut zu sich selbst und sank dabei schwer an der Wand entlang nieder. "Mein Bruder ist tot!" Sein Körper sollte das endlich begreifen. Er sah die Rotweinflasche vor sich liegen und langte danach. Der letzte Schluck daraus rann bitter seine Kehle hinunter.
Zum zweiten Mal ertönte das Läuten an seiner Tür. Dann war es mit einem Schlag wieder vollkommen still um ihn. Sein Blick richtete sich nicht mehr auf die Tür. Er schaute zu seinem Bett, sah wie es auf ihn wartete. Mehr als er je geglaubt hatte, fühlte er ihm hingezogen. Er wußte wieso: "Ich muss bereit sein für den Tod. Wenn er mich jetzt holen kommt, sollte ich ihm keine Umstände machen!", sagte er ehrlich zu sich selbst. Er investierte seine letzte Kraft indem er zu seinem Bett robbte und sich daran hochzog. Als er endlich flach und wie vom Schicksal erschlagen dalag, hörte er einen Schlüssel sich im Schloß umdrehen.
"Gleich bin ich bei dir, mein Bruder. Wenn du nicht zu mir kommen kannst, dann werde ich eben zu dir kommen. Du weißt doch: Wir lassen uns nicht allein. Unser Versprechen, das ewig besteht."
Nach diesen tröstenden Worten, die er sich immer wieder leise zusprach um sich zu beruhigen, zog er die schwere Bettdecke über seinen Körper und seinen Kopf. Es war nun vollständig dunkel und still um ihn. Der Beginn der ewigen Dunkelheit und der ewigen Stille. Allerdings nicht der ewigen Einsamkeit, denn sein Bruder würde ja dann wieder bei ihm sein. Wenn er die Augen aufschlug, sah er das Nichts - nur schwarz. So musste es auch seinem Bruder ergangen sein, als der Tod ihn heute zu sich nahm. Schon bald würde auch er aufhören zu denken, das Gefühl in seinem Körper verlieren, und der stechende kalte Schmerz in seinem Herzen würde verschwinden. Seine Erlösung aus diesem Leben und seiner Krankheit würde geschehen. Der Tod war ihm so Nahe, er hörte ihn, als er das Herunterdrücken der Türklinke vernahm. Er schloß die Augen und entspannte sich. Er spürte keinerlei Angst vor dem Tod. Diese Angst hatte sein Bruder mit all seinen Besuchen und beruhigen Worten zu nehmen gewusst. Irgendwann ist es für jeden einmal soweit und dagegen sollte man sich nicht sträuben, sondern es einfach passieren lassen. Die Befreiung vielleicht sogar genießen. Die Befreiung aus seinem tristen, einsamen 28jährigen Leben. Das worauf er doch im Grunde all die Jahre gewartet hatte, worauf er zugelebt hatte. Er verspürte plötzlich großes Verlangen noch ein letztes Gedicht für seinen Bruder zu schreiben. Sein vielleicht erstes Gedicht der Zufriedenheit. Er wollte es probieren, doch seine Kraft hatte ihn bereits verlassen und der Alkohol so gut wie betäubt. Die Sinne waren zwar noch bei ihm, aber gleich würden auch sie mit seiner Seele aus diesem Körper, diesem Keller, diesem Leben gezogen werden...
Schritte, die von der Tür aus zu seinem Bett kamen und dort verstummten, waren das letzte was er vernahm ehe er in einen tiefen, tiefen Schlaf fiel.

Seinen letzten Schlaf, wie er vermutete...
 

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