... für Leser und Schreiber.  

Koma

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© Heike Sanda   
   
Klirren, Krachen. Vor meinen Augen tanzt die Welt einen irrsinnigen Tanz. Ein Baum, direkt vor mir. Wurzeln oben, Krone unten. Wasser an einer gläsernen Barriere. Ein penetranter Geruch steigt mir in die Nase, beißend. Ich weiß, ich müsste ihn kennen, aber der Name fällt mir nicht ein. Ein Tuten wird hörbar, langgezogen. Wie von einem Schiff, muss ich denken.
Dann: Stille.

***
Ich schwebe im Dunklen, es ist schön warm. Die Stäubchen, die in meinem Blickfeld tanzen, gefallen mir. Sie glitzern. Sie sind bunt.
Ich genieße es, so zusammengerollt zu sein. Wie eine Kugel. Ich rolle schaukelnd hin und her. Um mich herum schwappt Wärme, durchdringt mich, hüllt mich ein.
Das Licht kommt plötzlich, es ist leuchtend. Malt Dinge für mich in das Schwarz. Sieht kribblig aus, das Licht. Ich freue mich darüber. Andere, die nicht ich sind, freuen sich auch. Ich kann ihre Freude spüren.
Ich dehne mich aus, strecke mich weit. Alles ist so warm, so leuchtend, so schön. Ich wundere mich flüchtig, wie groß ich bin.

***
Drei Wochen ist es nun schon her, seit ich wieder aufgewacht bin.
Man hat mir erzählt, ich hätte einen schweren Autounfall gehabt und danach im Koma gelegen. Drei ganze Jahre lang.
Ich konnte mich an keinen Unfall erinnern. Das kann ich bis heute nicht.
Mein Name ist Doris Margolies, so hat man es mir gesagt, und ich bin selbständige Handelsvertreterin. Zweiunddreißig Jahre bin ich alt, allein lebend, keine Kinder. Im Bereich Partnerschaft auch Zero, denn nach dem Wissen der Schwestern hat mich in den ganzen drei Jahren keine lebende Seele besucht. Meine Mutter soll kurz nach meinem Unfall gestorben sein. Ich gäbe sonst etwas drum, wenn ich mich an ihr Gesicht erinnern könnte. Geschwister sind keine vorhanden. Sofern es noch weitere Familienmitglieder gibt, ist das Verwandtschaftsverhältnis so weitläufig, dass ich mich nicht einmal dann an sie erinnern könnte, wenn kein Unfall mein Gedächtnis in ein salatgleiches Chaos nicht zusammenpassender Bildfetzen verwandelt hätte.
Am Tage des Unfalls war ich wohl gerade auf Geschäftsreise. Wohin? Gute Frage. Man hatte einen Terminplaner, ein Notebook und mehrere Angebotsentwürfe bei mir gefunden. Sah also nicht so aus, als wäre ich unterwegs ins lange Wochenende gewesen. Der Rest ist schnell erzählt: Blitzeis auf der Fahrbahn, ein Lastwagen im Gegenverkehr, Kontrolle verloren, Wagen überschlagen, Bekanntschaft mit einem Baum gemacht - Ende Gelände.
Diese spärlichen Informationen sind alles, was von meinem Leben übrig geblieben ist. Und selbst die habe ich aus zweiter Hand.
Es klopft an der Tür, ich drehe den Kopf und schaue in das Gesicht meiner Physiotherapeutin. Wie immer schaut sie gut gelaunt drein. So gut gelaunt, dass es mir gehörig an den Nerven zerrt.
?Guten Morgen, Frau Margolies, na, wie geht?s es uns denn heute?? will sie von mir wissen. Dumme Frage, weil rein rhetorisch. Sie kann gar keine Antwort erwarten. Ich bin immer noch intubiert - mein Atemzentrum ist noch nicht ganz aus seinem Drei-Jahres-Urlaub zurück und setzt ab und zu aus. Das einzige, worauf ich antworten kann, sind Ja-Nein-Fragen. Ich beantwortete sie mit Hilfe der Augen. Einmal blinzeln heißt ja, zweimal blinzeln nein. Darauf hatte ich mich mit den Ärzten und Schwestern geeinigt als es galt zu prüfen, ob und an was ich mich überhaupt noch erinnerte.
?Also, dann wollen wir mal.? Strahlendes, professionelles Zahnpastalächeln. Die Therapeutin hebt meinen linken Arm an. Mir wird immer noch schlecht bei dem Anblick. Dünn wie ein Stock ist er, die Finger sind klauenartig einwärts gekrümmt. Kontraktur nennt sich das, habe ich mich belehren lassen. Zu gut Deutsch: Die Muskeln sind verkümmert. Kommt vor, wenn man lange inaktiv im Bett liegt und - mangels Angehöriger - nur so oft bewegt wird, wie es der knapp bemessene Zeitplan der Schwestern zulässt. Also beim morgendlichen und abendlichen Waschen und beim zweistündigen Lagern. Wie der Rest von mir aussieht, will ich besser gar nicht wissen.
Die nächsten dreißig Minuten werde ich geklopft, geknetet, massiert, durchbewegt, mit Öl eingerieben und ausgestrichten. Ich mache gut mit, das sagt selbst meine anspruchsvolle Krankengymnastin. Ich will mich ja auch so schnell wie möglich wieder bewegen können. Ich MUSS mich wieder bewegen können, koste es, was es wolle. Wenigstens ein bißchen. Also strenge ich mich an, ungeachtet der Schmerzen, die mir den Schweiß in die Augen treiben und in meinem Blickfeld schwarze Kreise tanzen lassen. Und wirklich gelingt es mir heute zum ersten Mal, den rechten Arm vollständig auszustrecken, das linke Bein ganz anzuwinkeln und meine Lage minimal selbständig zu verändern. Heureka!
Meine Therapeutin ist vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen und lobte mich überschwänglich. Ich bin auch ganz hin und weg. So breit, wie meine Gebissstange es zulässt, grinse ich sie über den Tubus hinweg an. Sie gibt mir noch einen aufmunternden Klaps auf das angestellte Knie, verabschiedet sich und eilt weiter zum nächsten Patienten.
Ich entspanne mich erst einmal, lasse den Schweiß auf meiner Stirn trocknen und warte darauf, dass das Zittern in meinen Muskeln wieder aufhört. Ich sammle Kraft.
Während ich die Decke über mir mustere erinnere mich an meinen ersten Besuch seit drei Jahren. Der kam vorgestern. Begleitet von meinem Arzt und einer Schwesternschülerin erschien ein verlegen dreinblickender Mann mittleren Alters. Er stellte sich vor - den Namen hab? ich schon wieder vergessen - und friemelte einige Papiere aus der mitgeführten Aktentasche. Und dann ging es los: Er erzählte mir etwas von Unterversicherung, von zurechenbaren Kosten, von Inkasso und gerichtlichen Mahnverfahren, von pfändbaren Titeln und anderen Dingen, von denen ich kein Wort verstand. Nur eines hörte aus dem ganzen Gewäsch heraus: Welches Geschäft ich auch immer vor dem Unfall besessen hatte, es ist hochverschuldet und existiert praktisch gar nicht mehr. Ganz davon abgesehen, dass ich ohnehin nicht mehr weiß, wie die Welt da draußen funktioniert, bin ich auch noch komplett ruiniert. Mir gehört nicht einmal mehr das Nachthemd, das ich am Körper trage, und was noch mein ist, ist es mit Sicherheit nicht mehr lange.
Ich blinzelte wie eine Aufziehpuppe mit den Augen, ja, nein, anscheinend immer in adäquater Art und Weise, denn der Mann beendete seinen Monolog und zog mit dem Arzt wieder ab. Zehn Minuten später, als sie sich sicher sein konnte, dass ich nicht vor Aufregung einen Infarkt schoß, entfernte sich auch die Schülerin.
Das also ist der Stand der Dinge.Tolle Aussichten, nicht wahr? Finde ich auch.

Endlich bin ich soweit wieder bei Kräften. Tief Luft holen. Es gibt etwas zu tun.
Millimeterweise ruckel? ich mich so weit wie möglich an die rechte Bettkante. Puh, ich schwitze schon wieder wie ein Marathonläufer. Noch ein kleines Stückchen, dann kann ich den grünen Knopf erreichen. Gut, dass ich beim Waschen immer aufmerksam zugesehen habe, was die Schwestern machen, wenn sie sicher gehen wollen, dass nicht bei jeder kleinen Lageveränderung die Monitoren lospiepsen. Wie lange schaltet der Unterbrecher die Überwachung aus? Zwanzig Minuten, oder sind es mehr? Wie lange braucht man für eine Ganzkörperwäsche? Drücken, so, nun noch den roten Knopf für die künstliche Beatmung... Die Maschine zischt noch einmal, der Kolben sinkt nach unten und steht still.
Endlich.

Stäubchen beginnen vor meinen Augen zu tanzen. Mir gefallen diese Stäubchen. Sie sind bunt, und sie glitzern.
Ich gehe nach Hause. In das einzige Zuhause, in dem ich noch etwas Wärme zu erwarten habe. Und diesmal für immer.
 

http://www.webstories.cc 29.04.2024 - 18:10:37