... für Leser und Schreiber.  

Heute gehörst du mir

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© Heike Sanda   
   
Ich stehe an deinem Bett und schaue auf dich hinunter. Ein dicker Kloß steckt in meiner Kehle fest und will sich nicht hinunterwürgen lassen, obschon ich schlucke und schlucke und schlucke. Vorhin, bei der Besprechung, als zum ersten Mal dein Name fiel, habe ich es zunächst nicht glauben wollen. Doch du bist es. Tatsächlich.

Ich hätte dich fast nicht erkannt. Nehme an, dass auch du mich nicht mehr erkennen würdest, selbst wenn es dir gelänge, die Augen zu öffnen. Zwischen unserem letzten Treffen und heute liegen gut zweiundzwanzig Jahre. Heute bin ich so alt, wie du damals warst. Ich hatte dich ganz anders in Erinnerung: Vollbusig, untersetzt, mit roten Wangen und immer gut gelaunt, wenn auch ein wenig scheu. Du wurdest schnell rot, schautest Leuten selten in die Augen. Aber du warst tapfer, denn wenn du kämpfen musstest, dann tatest du es, und rangst deine Scheu nieder.

Sieh nur, was sie dir jetzt angetan haben! Und wieder einmal hast du einen Kampf vor dir.

Ich habe dich damals sehr lieb gehabt, weißt du das eigentlich? Nein, natürlich nicht. Woher auch. Ich habe es dir nie zeigen dürfen. Sympathie darf man zeigen, bestenfalls, aber niemals Zuneigung, wenn man sich nicht lächerlich machen möchte. Ich hegte für dich immens starke Gefühle, wollte dich in die Arme nehmen und knuddeln, dich auf die Wange küssen, mein Gesicht in deinen Haaren vergraben. Ich weiß nicht, woher das kam. Vielleicht aus einem früheren Leben? Ein unschuldiges, asexuelles Verlangen - aber wie hätte ich dir das klarmachen können? Ich wollte dich nicht erschrecken, wollte nicht, dass du etwas Falsches von mir denkst. In der besten aller möglichen Welten müssen wir Angst haben zuzugeben, dass wir jemanden lieben.

Meine Gedanken wandern in die Vergangenheit zurück. Ich war jung damals, knapp sechzehn, und kam gerade von der Berufsschule. Eine frischgebackene Büromaus, verschüchtert und voller Angst, etwas falsch zu machen. Unsere Chefin war ein Drache. Die elementarsten Höflichkeitsformen waren ihr fremd, oder sie hatte sie ihrer Meinung nach nicht nötig. Ich kann nicht zählen, wie oft du dich mit deinem breiten Rücken zwischen uns gestellt hast. Oder mich getröstet hast, wenn ich wieder mal völlig fertig war, mich nach einem Anschiß auf der Toilette eingeschlossen hatte und weinte. Zu dieser Zeit hat mir noch jeder hochtrabende Titel einen Heidenrespekt eingeflößt - da kannte ich die Menschen noch nicht so gut wie heute. Und wenn ich mal wieder kein Geld fürs Frühstück hatte und mir vor Hunger das Wasser in die Augen trat, dann warst du da und deine dicken Leberwurstbütterchen. Du hast nie auch nur ein einziges Wort darüber verloren. Den selbstgestrickten Pullover, den du mir damals vermacht hast, habe ich heute noch. Er passt nicht mehr und ist längst aus der Mode, aber irgendwie konnte ich mich nie davon trennen. Er liegt irgendwo in den Tiefen meines Kleiderschranks, ein Souvenir aus halbvergessenen Zeiten.

Ich weiß noch, du warst verrückt nach Sonnenaufgängen. Die Unterlage auf deinem Schreibtisch war mit Sonnenaufgangs-Postkarten gepflastert, und auch an der Wand hinter dir hing ein großes, feuerfarbenes Poster in dem Verschlag, den wir damals teilten. Du hast mir mal gestanden, dass dein ganzes Zuhause einen einzigen Sonnenaufgang darstellt. Sonnenaufgänge auf Bildern, auf Puzzles, auf Kissenbezügen und Wandteppichen - und sogar auf deinen T-Shirts. Ich habe gelacht und erklärt, dass es mir mit Diddle-Mäusen genauso ginge.

Wir haben uns dann einfach aus den Augen verloren. Als ich erwachsen wurde und andere Wege ging, meinen neuen Beruf erlernte, Mutter wurde. Manchmal habe ich schon an dich gedacht. Wo du wohl bist, habe ich mich gefragt, was du wohl machst und ob es dir gut geht. Besonders, wenn ich jemanden traf, der dir auf irgend eine Weise ähnlich sah. Aber ich habe nie versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen, zumal unsere alte Firma später aufgehört hatte zu existieren. Der Gedanke, frei nach dem Motto "Hier bin ich, jetzt freu‘ dich" unvermittelt in deine Privatsphäre zu platzen, war mir unangenehm. Für einen solchen Schritt gab es keine Veranlassung.

Jetzt umkreise ich dein Lager, auf der Lauer, gierig nach jedem Brocken Information, den du vermittelst. Viel kommt da nicht. Ich studiere deinen Gesichtsausdruck und die Spannung deiner Muskeln mit weit geöffneten Pupillen, damit mir nur ja nichts entgeht. Ich schnuppere deinen Atem. Wie eine Liebende, die Angst davor hat, irgend ein kleines Signal, einen wichtigen Hinweis zu verpassen.

In den kommenden Stunden gehe ich meinen üblichen Verrichtungen nur widerwillig nach. Ich bin an diesem Tag den anderen gegenüber etwas kurz angebunden, habe keine Geduld und keine Nachsicht. Das mag vielleicht unfair sein, aber heute ist mir weder nach Smalltalk noch nach Rumgezicke. Alle Versuche in diese Richtung werden gleich im Keim erstickt. Ich will den üblichen Kram hinter mir haben. Die Türe zu deinem Zimmer habe ich offen gelassen, und wann immer ich den schmalen Spalt passiere, halte ich kurz den Atem an und lausche nach dem deinen. Du wirst zunehmend unruhiger.

Gegen halb drei ist die tägliche Routine erledigt, und jetzt kann ich mir endlich Zeit für dich nehmen. Ich stelle die Rufanlage auf dein Zimmer um und schließe die Türe hinter mir. Das schnurlose Telefon deponiere ich auf deinem Nachtschrank. Doch ich hoffe inständig, dass uns jetzt niemand stört.

Dass du geschieden bist, habe ich gelesen. Aber du hattest doch Kinder. Zwei, glaube ich, einen Jungen und ein Mädchen. Beide müssten so ungefähr in meinem Alter sein. Britta, und... wie hieß doch gleich dein Sohn? Seinen Namen habe ich vergessen. Ist ja auch unwichtig. Wichtig ist, dass sie jetzt nicht hier sind. Wut will aufsteigen, doch ich darf ihr keinen Raum geben. Hier und jetzt hilft sie uns beiden nicht weiter. Später vielleicht.

Heute gehörst du mir. Hier und jetzt darf ich dich endlich lieb haben, und du darfst meine Liebe annehmen, bedingungslos und ohne Angst, ohne Verlegenheit und falsche Scham. Jetzt bin ich alles, was du hast. Hätten wir uns das damals je träumen lassen?

Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und krabble hinter dir ins Bett. Dein Körper ist ganz kalt und bereits lila marmoriert. Du ringst nach Luft, zitternd, schnappend, und dein Gesicht sieht verängstigt aus. Ich ziehe dich in meine Arme und stelle das Bett so ein, dass wir beide bequem liegen können. Die erhöhte Oberkörperlage erleichtert dir das Atmen. Ich schmiege meinen warmen Körper an deinen kalten, verschränke meine Finger mit den deinen und atme langsam, tief und vernehmlich an dein Ohr. Es dauert nicht lange, und du reagierst darauf und nimmst meinen Rhythmus auf. Ich kann spüren, wie du dich entspannst. Die gerunzelte Stirn glättet sich. Ich kann zusehen, wie die Angst von dir weicht.

Stundenlang liegen wir so, ich halte dich in meinen Armen. Wenn ich ein Bedürfnis bei dir spüre, dann stille ich es, so gut ich kann. Ich streichele deine Arme, spiele mit deinen Haaren, flüstere dir beruhigende, kleine Belanglosigkeiten in dein Ohr, singe, summe und lache leise. Nur einmal verlasse ich dein Bett, um die Jalousien hochzuziehen, die Vorhänge zurückzuziehen und das Fenster weit aufzumachen. Kurz bevor es soweit ist.

Draußen geht gerade die Sonne auf. Über den Dächern der Stadt ist der Abschnitt des Himmels, den wir sehen können, eine einzige Explosion von Farbe und Licht. Lila mischt sich mit Rot, Rosa, Orange und Graublau, goldfarbene, von innen angeleuchtete Wölkchen segeln bandförmig dazwischen. "Der ist für dich", flüstere ich dir ins Ohr. "Geh! Ich wünsche dir was Schönes."

Ich bin ganz steif, als ich mich auf die Beine quäle und tue, was in einem solchen Fall zu tun ist. Ich ziehe dir alle Zugänge, wasche dein Gesicht, beziehe das Bett neu und räume dein Zimmer auf. Du siehst aus, als ob du schliefest und etwas Wunderbares träumtest. So glücklich, so zufrieden, so entspannt. Du bist so schön, dass ich am liebsten weinen möchte, wenn ich dich ansehe. Doch meine Augen bleiben trocken.

Ganz zum Schluss greife ich zum Hörer und mache meinen Pflichtanruf: "‘Morgen, Dr. Mertens. Hier ist Onko Drei, Schwester Angela. Frau Macholdt auf Sieben ist soeben verstorben. - Ja, ist gut. Kurve und Totenschein liegen im Arztzimmer. Was? Nein, ist nicht schlimm, jetzt eilt es ja nicht mehr. Ja, okay. Man sieht sich. Bis gleich."

Ich trete an das Fenster des Stationszimmers und proste dir mit einer Tasse Kaffee zu. Am Himmel verblassen die letzten Farben. Ein neuer Tag beginnt.
 

http://www.webstories.cc 30.04.2024 - 16:54:31