... für Leser und Schreiber.  

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"Sage mir die Ordnung der Erde, die du schautest!"

"Ich sag sie dir nicht, mein Freund, ich sag sie dir nicht!
Sag ich dir die Ordnung der Erde, die ich schaute -
Du müßtest dich setzen und weinen!"

Gilgamesch-Epos; Sumer ~ 1800 v. Chr.



"pale against the sun
my world is
slowly dissolving
ground beneath my feet
it's melting away
black falls into black
I'm just a shadow
of
my former self
losing gravity
don't you know I'm
slipping away"

The Creatures - Slipping Away



"It's only theatre of pain"

Christian Death - Mysterium Iniquitatis



"You insist that the weight of the World
Should be on your shoulder"

Metallica - My Friend Of Misery

* * *



Caleb hatte den Tod gebracht. Unzählige sind durch seine Hand gestorben. Durch ihm, der sich seine Opfer wahllos ausgesucht hatte; der blind wie das Schicksal zuschlug; willkürlich wie eine Naturgewalt und gleichzeitig effizient wie eine Maschine.
Durch ihn, der tötete, so lange er denken konnte und niemals Mitleid empfand.
Im Laufe der Zeit hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Fähigkeiten im Dienst bestimmter Persönlichkeiten zu stellen, zu denen er, in ihrer Menschenverachtung und ihren Hass Sympathie empfand. Wahrscheinlich sah er in ihnen einen Spiegel seiner eigenen Persönlichkeit. Seine Künste waren so hoch entwickelt, daß es einem Todesurteil gleichkam, wenn man ihn auf jemanden ansetzte.
Sie hielten ihn für nicht menschlich. Vielleicht für einen Todesengel - für das personifizierte, erbarmungslose Töten an sich. Er schmückte sich mit dem zweifelhaften Ruhm einer Naturgewalt. Das unerwartete Auftauchen seiner finsteren, in einen schweren dunklen Mantel gehüllten Gestalt, erfüllte selbst die unerschrockensten, zynischsten Herzen mit unbändiger Furcht. Es hieß über ihm - an dessen Gesicht sich niemals ein Zeuge seiner Taten erinnern konnte, aber dessen Erscheinung sich in ihre Gehirne unauslöschlich einbrannte - daß nur eine Maschine so perfekt, so effizient tötete.
Caleb aber kam auf seine Kosten. Es amüsierte ihn prächtig, wenn er ihr Leben ebenso einfach auslöschen konnte, wie er Ameisen zertrat.
Er befand sich in einem seltsamen, traumartigen Schwebezustand; ohne Vergangenheit und Zukunft. Einfach nur da für den Moment. Erinnerungen an sein früheres Leben hatte er keine, aber das war ihm egal. Es interessierte ihn nicht. Nicht einmal, ob er überhaupt ein früheres Leben hatte, oder ob er wirklich der Todesbringer war. Für ihn gab es nur das Hier und Jetzt. Keine Erinnerungen - keine Pläne.

Doch was sich dann ereignete, schien eine art Schalter in seinem Verstand umgelegt zu haben. Er, der ungezähltes Leid gebracht hatte, den niemals ein Leben, daß er ausgelöscht hatte, berührt hatte, er fühlte sich angesichts der Maßlosigkeit, des blindwütigem Mordens, dessen Zeuge er wurde, ohnmächtig und überkommen. Was er sah, hätte ihn zu einem früheren Zeitpunkt, wohl kaum berührt, aber es schien die Zeit dazu wohl einfach gekommen zu sein. Anders konnte er es sich nicht erklären: Die Menschen, so erkannte er, brauchten keinen Todesbringer, wie ihn - sie waren in sich selbst noch größere Bestien; noch schlimmere Mörder, als er je sein würde.
Sein Weg führte ihn eines Tages in ein kleines, heruntergekommenes Dorf.
Die Leute litten überall in dieser sterbenden Welt. Sie litten unter Hunger, Kriegen, Seuchen und den allgegenwärtigen Mißbildungen. Doch die Bewohner dieses Landstriches waren besonders schlimm dran gewesen. Ihre religiöse Verblendung zusammen mit vom Hunger hervorgerufenem Wahnsinn ging eine tödliche Verbindung miteinander ein, die schließlich in einem Rausch der Gewalt endete.
Als selbst Menschenopfer die Not nicht lindern konnten, brach unter den Menschen blutige Selbstjustiz aus, die schließlich in purer Anarchie endete, in der aus blanker Not geborener Kannibalismus noch das geringste Verbrechen war.
Vielleicht war es der Anblick all der verstümmelten, angefressenen Toten, oder die Tatsache, daß Caleb fast selbst Opfer des wahnsinnigen Mobs wurde, als er gerade durch den Sumpf aus Körperteilen und blutgetränktem Schlamm watete, der einst die Ortmitte war, ausschlaggebend für seine Veränderung - oder es war einfach die Zeit reif dazu; er wußte es nicht. Jedenfalls ließ ein tobender, aus abgezehrten und Geschwüren verunstalteten Gestalten - die mit all ihren Mißbildungen nur noch entfernt Ähnlichkeit mit Menschen hatten - bestehender Mob, plötzlich eine wahre Hölle der Gewalt losbrechen, aus der er nur knapp entkam. Die Welt war, nachdem er dem letzten der wahnsinnig gewordenen Einwohner mit einem Kopfschuß aus seiner elenden Existenz erlöst hatte, nicht mehr die Selbe. Er kam sich, angesichts des Schreckens, den er erlebt hatte, wie eine Karikatur seiner selbst vor.
Krank; schwindsüchtig dahinsiechend war diese Welt. Zum sterben verdammt; ohne Aussicht auf Heilung. Welchen Platz gab es darin für einen wie ihn? Einen der das Töten zu so hoher Kunst erhoben hatte und nun einsehen mußte, wie sehr er sich selbst getäuscht hatte. Er wollte elegant und präzise töten. Aber so war die Welt nicht. Sie war schmutzig und pervers; das Schicksal schlug blindwütig zu zerstörte lange gehegte Träume; mühsam aufgebaute Existenzen.
Die Erkenntnis, sich belogen zu haben, so lange er denken konnte, ließ Schmerz und Schuld in ihm aufkommen. Sie machte ihm aber gleichzeitig auch klar, daß das noch nicht alles war; daß er noch nicht einmal angefangen hatte, über sich selbst im klaren zu werden. Seine Vergangenheit lag im Dunkeln. Was war er, bevor er zum dem wurde, der er jetzt war?
Als er schließlich die Ruinen des Dorfes hinter sich ließ, in der Gewißheit, daß dieser Ort des Grauens bald vergessen sein würde und von einem anderen, noch viel schlimmeren ersetzt werden würde, dessen Bestimmung es ebenfalls war, vergessen zu werden, wußte er, daß etwas auf ihm zu kam. Er konnte es sich nicht erklären, aber etwas bedeutendes, aufgeweckt durch die Ereignisse in diesem namelosen Dorf, wartete nur darauf an die Oberfläche zu kommen.

Er entschied sich, die Totenstadt aufzusuchen. Ein Ort, der mehr alptraumhafte Phantasie, als Wirklichkeit zu sein schien. Ein Name, dessen Klang Lippen versiegeln und Gesichter sich abwenden ließ; auch wenn niemand genau wußte, ob es die Stadt wirklich gab, oder nur eine alte Sage aus längst vergangener Zeit war. Caleb wußte um all die Mythen, die diese Stadt zu einem Ort machten, an dem die Geister der Vergangenheit im Schatten gewaltiger Monumente zum Klang wahnsinniger Trommeln tanzten, doch er wußte auch, daß wenn es irgendwo in dieser düsteren, trostlosen Welt einen Ort gab, wo er Antworten erwarten konnte, der eine gewisse Macht, oder auch nur eine besondere Ausstrahlung besaß, dann würde er ihn hier finden. Auf den Gipfeln gewaltiger Türme, auf deren Treppen in grauer Vorzeit Ströme von Blut geflossen waren, zu Ehren bestialischer Gottheiten die den größten Tribut forderten, den die Menschen ihnen machen konnten: das Blut ihrer eigenen Kinder.
Caleb konnte den Weg nur wage anhand einiger Beschreibungen ableiten, die ihm im laufe der Zeit in die Hände gefallen waren, doch er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war, auch wenn alles um ihn herum in Bedeutungslosigkeit zu fallen schien. Ihn beschäftigten andere Dinge; brennende Fragen, auf denen er sich Antworten ersehnte, wie ein Ertrinkender festes Land unter den Füßen.
Seine unerklärliche Gewißheit, auf dem richtigen Weg zu sein wurde schließlich durch den Anblick gewaltiger, pyramidenartiger Türme bestätigt, die sich massiv wie ein Gebirge gegen den ewig wolkenverhangenen, roten Himmel abhoben. Die Türme der Totenstadt.

Während er durch die menschenleeren Straßen der Randbezirke bewegte - vorbei an anfangs eher gewöhnlich anmutenden, schmucklosen Gebäuden, die bald jedoch immer titanischer wurden, je tiefer er in die Totenstadt vordrang, wurde ihm immer mehr die Größe der Stadt bewußt. Schließlich standen die Gebäude so hoch, daß sie die Straßen in zyklopische Schatten tauchten und Caleb sich wie ein Wanderer auf dem Grund einer tiefen Schlucht vorkam.
Traumwandlerisch streifte er durch die, in einem rechtwinklichem Muster angelegten Straßen, wobei er unbewußt, fast wie zufällig, sich immer an den breiten Hauptstraßen hielt, als würde ihm ein innerer Kompaß durch die ihm fremde Stadt leiten.
Er nahm die riesigen, hoch aufragenden Stufentürme, die sich wie steingewordene Monumente der Unterdrückung über der Stadt erhoben, kaum wahr; er nahm ohnehin kaum mehr Notiz von irgend etwas. Zu sehr war sein Denken mit der Frage beschäftigt, was das sein könnte, das ihn zu so rastloser Suche antrieb. War es womöglich die Suche nach einem Abschnitt in seinem Leben, den er verleugnet hatte; so lange, bis er ihn so vollständig verdrängt hatte, so daß ihm jede Erinnerung daran fehlte? Und wenn ja, was führte dazu?

Er hatte die Totenstadt einige Stunden lang durchquert, als ihn ein Anblick überraschte, auf den er keineswegs vorbereitet war; ja der so unwahrscheinlich war, daß es Caleb aus seinem Trancezustand zu reißen vermochte:
Vor ihm - im Schatten der Treppe eines mächtigen Turmes - stand eine kleine Hütte. Licht brannte golden wie Bernstein in den Fenstern und eine dünne Rauchfahne kräuselte sich, ohne von einem Windhauch gestört zu werden, zum Himmel empor, wo sie sich verlor.

Die Hütte war ärmlich und verkommen. Sie wirkte im Schatten der gewaltigen Monumente deplaziert und falsch; wie ein Traumbild. Caleb versuchte, durchs Fenster nach drinnen zu blicken, doch er konnte außer dem bernsteinfarbenem Leuchten nicht erkennen. Wiederstrebend und knarrend öffnete sich schließlich die Tür; ganz so, als wäre sie Äonen lang verschlossen gewesen und sich nun dagegen sträubte, Fremde einzulassen.
Drinnen hing ein angenehmer, würziger Duft in der Luft. Ein alter Mann saß in einem alten, abgenützten Schaukelstuhl vor einer primitiven Feuerstelle und hieß ihm mit einem einzigen, einladenden Blick willkommen.

"Du bist da." was der alte Mann sagte, als Caleb sich auf einen Hocker ihm gegenüber setzte, war weder eine Frage, noch eine Begrüßung. Es war schlicht eine Feststellung.
"Du hast mich erwartet, alter Mann?" Erwiderte Caleb mißtrauisch - das Ganze hier gefiel ihm nicht.
"Ja, deine Suche nach Erkenntnis, nach einem Sinn, oder wie auch immer du es ausdrücken willst, ist vorerst zu Ende. Du suchst Antworten - nun, ich habe einige für dich."
"Nicht alle?" fragte Caleb lakonisch. Er war noch immer mißtrauisch; aber irgend etwas war an dem Mann, das Caleb dazu veranlaßte, ihm zu vertrauen; mehr, als er es je bei einem Menschen für möglich gehalten hätte.
"Niemand hat alle Antworten. Wir sind allesamt Blinde, auf der Suche nach Erlösung - und die meisten sterbend unwissend.
Wir leben in einer grausamen Welt. Angst und Schrecken beherrscht die Seelen der Menschen und ich bin müde geworden, dies alles mitzuerleben. Es ist immer schlimmer geworden, weißt du.
Es gab einmal eine Zeit, das war bevor die Dinge sich zum schlechten wandten, als es noch so etwas wie Hoffnung gab. Hoffnung auf ein besseres Leben. Ein Leben, daß es wert war, gelebt zu werden. Doch das ist lange her. Weißt du, was mich bedrückt? Daß ich nicht einmal mehr sagen kann, wie lange es schon her ist. Fünfzig Jahre? Hundert? Zehntausend? Es ist nur noch ein Dahinvegetieren; ohne Hoffnung; ohne Ende.
Menschlicher Stolz und menschliche Torheit hatten damals bösen Mächten erlaubt, über die Menschheit hereinzubrechen. Mächte, denen es niemals bestimmt war, in diese Welt zu kommen.
Mächte - finster und grausam."
Nachdem der Alte Mann geendet hatte, erfüllte Stille die Hütte. Was er gesagt hatte, war beunruhigend und phantastisch, aber es klang plausibel in Caleb's Ohren. Er fragte sich nur, welche Rolle er dabei zu spielen hatte.
"Ich sehe mein Ende nahen" fuhr der alte Mann fort. "Ich bin alt und müde und das einzige, was ich mir wünsche ist, in Frieden zu sterben" Er machte eine kurze Pause während der seine Augen in eine unerreichbare Ferne zu blicken schienen. "und dies in der Gewißheit, daß es noch eine Hoffnung für die Welt gibt.
Und es sieht so aus, als würde es tatsächlich Hoffnung geben."
Die Worte des alten Mannes erfüllten Caleb mit Sehnsucht. Die beschwörenden Ausführungen fesselten ihn und begeisterten sein zernarbtes Herz. Hoffnung. Für die Menschen; und für sich. Niemals hatte er dies auch nur zu träumen gewagt, was dieser Mann so frei aussprach. Caleb konnte es kaum fassen.
"Doch diese Mächte, diese Wesenheiten sind stark. Sie haben sich auf dieser Welt lange schon etabliert; sie nach ihren Wünschen geformt - darum all das Elend. Die Hungersnöte, die Mißbildungen, die ewigen, sinnlosen Kriege; all dies geschieht nach ihrem Willen.
Die Bestrebungen, die Wesenheiten wieder von dieser Welt zu verdrängen, sind natürlich enorm gefährdet. Die Aussichten auf Erfolg nicht allzu hoch, aber es besteht eine kleine Chance."
Der alte Mann zögerte mit dem weitersprechen. Es schien, als wäre er sich nicht so ganz sicher, was er tun solle.
"Am besten ich zeige dir etwas, bevor ich weiterspreche."
Er legte einen Scheit Holz ins Feuer nach, worauf die Flamme sogleich anfing, höher und hektischer zu lodern. Wie zufällig sah Caleb nach oben und sah, daß die Hütte, obwohl er von außen einen Kamin ausmachte, keinen Rauchabzug besaß. Aber der schien auch nicht nötig zu sein: Die Flamme brannte ohne, daß Rauch aufstieg.
Der alte Mann bemerkte Caleb's Entdeckung und lenkte dessen Aufmerksamkeit wieder auf die Feuerstelle.
"Es ist nicht wirklich, siehst du; kein Rauch - keine Hitze. Es ist alles nur eine Frage des Verstandes." Auch wenn Caleb in einem entfernten unzugänglichen Teil seines Geistes - der auch die Antworten auf mehr Dinge, die ihn beschäftigten, zu besitzen schien - vielleicht verstand, was der Mann meinte; er war mißtrauisch. Feuer war Feuer. Das hatte nichts mit dem Verstand zu tun.
"Na los - halt die Hand hinein, du wirst keine Schmerzen spüren - deine Hand wird unversehrt bleiben."
Caleb sah die Flamme an. Sie war echt; flackerte; knisterte; loderte. Doch als er zögernd und nun wieder völlig gegenwärtig die Hände daran hielt, war da keine Hitze.
"Keine Angst, es wird dir nichts geschehen. Es ist nur Einbildung. Nur Phantasie. Ein Werk des Verstandes." Im Blick des alten Mannes lag Aufrichtigkeit, wie sie wahrer nicht hätte sein können. Ihm nicht zu glauben wäre wie eine Verleugnung aller Weisheiten dieser Welt - ein gedankenloses sich abwenden von der einzig wahren Erkenntnis.
Er faßte Mut und vertraute dieser ehrlichen Aura des alten Mannes. Der Griff in die Flammen war schmerzlos, als wären sie gar nicht da. Die Luft über der Flamme flimmerte nicht einmal. Caleb spürte nicht einen Hauch.
Es war, als würde er in eine Luftspiegelung greifen. Ungläubig sah er den alten Mann ins nun zufrieden blickende Gesicht.
"Es ist wahr."
"Oh ja - Geist herrscht über Materie. Nun zieh die Hand heraus."
Caleb zog die Hand heraus. "OH MEIN GOTT - NEIN!" Schrie er und konnte, wie gelähmt vor Schock, nicht glauben, was er sah: Seine Hand war krebsrot, blasenübersät und dick angeschwollen. Die Haut an einigen Stellen aufgeplatzt, entblößte verbranntes Fleisch. Die Fingerspitzen waren bis auf die Knochen herunter schwarz und verbrannt. Er spürte noch keinen Schmerz, doch er wußte, der Schmerz würde kommen, wenn der erste Schock vorbei war.
"Was zum Teufel hast du gemacht?!" Doch der alte Mann blickte unbeeindruckt drein und zeigte keine Regung im Gesicht. Er sagte nur:
"Laß dich nicht täuschen. Erinnere dich: Geist herrscht über Materie. Dies hier," er deutete auf Calebs Hand "ist nicht wirklich. Nichts ist wirklich. Auf eine gewisse Art und Weise.
Die aufgeplatzte Haut schloß sich wieder und die Schwellung ging zurück. Die Blasen verschwanden und das weggebrannte Fleisch schien durch Zauberhand nachzuwachsen. In wenigen Augenblicken war die Hand wieder unversehrt. Es geschah völlig schmerzlos.
"Manchmal hat die - scheinbare - Wirklichkeit; die Welt, wie wir sie kennen, keine Macht über uns. Es ist nur eine Frage des Verstehens - und der richtigen Fähigkeiten."
Nach einer Pause fuhr er fort.
"Nicht immer war es so einfach. Früher war die Realität fester, stabiler, doch die Welt hat sich verändert und verändert sich auch jetzt noch. Ein Umstand, der uns zum Vorteil gereichen könnte."
"Wohin wird diese Veränderung führen?"
"Alles fließt, weißt du. Die Zukunft wird durch jedes Ereignis in Vergangenheit und Gegenwart verändert. Es mag zwar scheinen, daß der Strom in eine feste, unveränderliche Richtung fließt, daß in unbedeutenden Ereignissen der Gegenwart, die Saat für Katastrophen in der Zukunft stecken, doch dies ist Täuschung. Nichts ist gewiß. Der Strom kann plötzlich seinen Lauf ändern und sicher geglaubtes hinfort spülen, während anderes verschont wird. Und manches - manches kann dadurch wieder an die Oberfläche kommen und alles dagewesene auf den Kopf stellen.
Und dies ist unsere Chance. Es ist nur eine Frage des Willens und der Fähigkeiten. Große Schamanen wirken schon seit langem im Verborgenen, um verloren geglaubtes Wissen wieder zu beschaffen, das für uns alle die Rettung bedeuten könnte.
Diese Schamanen - große Magier - halten eine uralte Bewegung aufrecht; eine Bewegung, die als einzige das Licht der Hoffnung in dieser Welt hochhält; die das Elend beenden und diese Welt wieder zum dem Ort machen kann, der er einst war: zu einem Ort voller Frieden und voller Hoffnung."
"Und was ist meine Rolle dabei?"
"Sie haben Feinde. Diese Feinde versuchen mit gleichen Mitteln das zu verhindern, was die Schamanen zu erreichen versuchen. Es ist ein Kampf im verborgenen. Ein Krieg in den Köpfen. Und gerade deshalb brauchen wird dich. Diese Feinde mögen mächtig sein; haben Wesenheiten auf ihrer Seite, deren Natur unser aller Vorstellungskraft übersteigt, aber auf einen direkten, physischen Angriff werden sie nicht vorbereitet sein. Und wer wäre dafür besser geeignet, als du, Todesbringer?"
Offenbar konnte der alte Mann die Überraschung in seinem Gesicht ablesen, denn er machte eine kurze Pause, damit Caleb sich wieder fassen und seinen Ausführungen weiter folgen konnte.
"Ja, ich kenne deine Biographie. Sie ist mit Blut geschrieben. In mechanisch- präziser Schrift. Und sie erzählt von ungezählten Jahres des Tötens. Du hast auch für Geld gemordet, aber dir ging es nie ums Geld; für dich zählte allein die Herausforderung. Die unmöglichsten Aufträge hast du angenommen und dabei niemals auch nur einen Kratzer davongetragen. Dies dürfte die Krönung von alldem sein: deine größte Herausforderung."
"Ich habe mich verändert."
"Ich weiß. Darum bist du auch hier. Ich habe gesehen, was dir geschehen würde und diese Gelegenheit ergriffen mit dir in Kontakt zu treten. Du möchtest wissen, was mit dir geschehen ist und ich denke ich kann dir helfen - aber dafür mußt du mir helfen.
Ich bin alt und müde. Meine Macht ist im schwinden, aber du - du bist auf dem Gipfel deines Könnens. Und jene kleinen Tricks, von denen ich dir gerade einen gezeigt habe, haben nur begrenzten Einfluß auf dich. Andere kann man mit solchen harmlosen Illusionen töten. Du hast nicht einmal etwas gespürt. Oder warum glaubst du, hast du den Weg hierher, wo kein Sterblicher sonst hingelangt, überlebt?"
"Was genau muß ich tun?"
"Niemand, nicht einmal ich, weiß genau, wo sich die Magier aufhalten, oder gar wie viele es sind. Sie leben versteckt; Ihnen selbst kann nichts geschehen. Aber ihre Feinde - sie sind in einem fernen Land auf der anderen Seite des Kontinents. Viel mehr weiß ich aber auch nicht; nur daß sie ihren Sitz auf einer Insel vor der Küste haben und sich dort eine gewaltige, stählerne Brücke über den Ozean spannt, die die Insel mit dem Festland verbindet. Die Brücke stammt noch aus der großen Zeit war einst die Verbindung zu einem großen Heiligtum auf der Insel - aber das ist schon seit langem verfallen. Nun haben sie die Insel dieses Heiligtums besetzt, wie Blutegel und suhlen sich in dessen Ausstrahlung.
Du mußt sie aufhalten, bevor sie das Vorhaben sabotieren können. Du bist unsere letzte Hoffnung. Dann wird sich auch deine Erinnerung klären und wirst mit dir selbst Frieden schließen können."

Als Caleb die Hütte schließlich verließ, war die Dämmerung bereits hereingebrochen. Der abendliche, ewig wolkenverhangene Nachthimmel schien im Zwielicht zu bluten, während die zyklopischen Türme sich in ihrer kalten Geometrie in die Wolken zu bohren schienen.
"Du glaubst," hatte der alte Mann noch gesagt "auf der Spitze dieser Türme, Antworten zu finden. Da muß ich dich enttäuschen. Die Schatten von Urzeiten wirst du dort finden; jedoch nicht die Spuren deiner eigenen Vergangenheit."
Die Totenstadt schien sich verändert zu haben. Vielleicht lag es auch daran, daß Caleb sich nun präsenter durch die Straßen bewegte, als auf seinem Hinweg. Er glaubte, immer wieder metallisches Kreischen zu vernehmen, aber vielleicht war es auch einfach nur die Stille, die ihn anzuschreien schien. Es fiel ihm, in den titanischen Schatten, durch die er lief, nicht schwer zu glauben, daß er der letzte Mensch auf dieser Welt sei. Ein einsames und verlassenes Individuum in einer längst abgestorbenen, lebensfeindlichen Schattenwelt.

Es wurde immer finsterer und die kläglich durch die dichte Wolkendecke hindurchschimmernde Sonne gab für heute ganz ihre Bemühungen auf, Licht in diese Welt zu bringen und verschwand hinter dem Horizont; einzig die Silhouette der ungezählten Türme, die sich bedrohlich unter einem sternenlosen Firmament erhoben, zurücklassend.
Langsam, aber unaufhaltsam starb diese Welt. Die Ernten waren schlecht und die Leute hungerten. Kriege hatten das Land verwüstet und jegliche Ordnung war längst ausgelöscht. Es war eine Welt der Gewalt und der Gottesverachtung und vielleicht war nur noch er der einzige, der noch dafür sorgen konnte, daß am Ende des Tunnels ein bißchen Hoffnung wartete.

Sein Weg führte ihn zunächst aus der Stadt hinaus und dann in Richtung der nächstbesten Siedlung. Er brauchte Vorräte für seine lange Reise. Eine Reise quer durch den Kontinent. Durch unbekannte Landstriche, die kein Reisender je besucht hatte. Caleb wußte nicht viel über das Ziel, daß er hatte. Einzig das Bild einer gigantischen Brücke aus korrodiertem Metall, die sich von steilen Kliffs aus über das Meer hin zu einer nahegelegenen Insel erstreckte, hatte er vor Augen. Doch das mußte genügen. Wie der alte Mann richtig sagte: wer wäre besser hierfür geeignet, als er, der Todesbringer?

Die Türme des Totenstadt verschwanden allmählich hinter ihm in der Dunkelheit und ein Wald tat sich vor Caleb auf. Ein kahler Wald aus dürrem, abgestorbenem Buschwerk und verkümmerten Bäumen. Der Pfad, dem Caleb folgte, war ein schmaler und undeutlich erkennbarer Streifen durch die, im fahlen Schein der Nacht, bleich leuchtenden Bäume. Die verdorrten Äste kratzten wie knochige Finger an seinem Gesicht, zerrten am robusten schwarzen Stoff von Hut und Mantel.
Nach einigen Kilometern, er befand sich nun mitten in dem unwirklichen Wald, wurde ihm bewußt, daß er verfolgt wurde. Die brüchigen Äste knackten bei jeder Bewegung und verrieten seinem geübtem Gehör sofort die Gruppe Männer, die ihm versteckt durchs Unterholz schleichend, nachsetzte.
Sie schätzten ihn ab; warteten auf ihre Gelegenheit, denn sie wußten, wer sich alleine in diese Gegend wagte, mußte ohne Zweifel bewaffnet sein. Nur Narren würden sich in diesen Zeiten nicht schützen. Und sie hatten recht damit. Caleb hatte dabei, was er zum Überleben brauchte, insbesondere zwei großkalibrige Revolver die, versteckt von seinem langen Mantel rechts und links an seinen Hüften hingen. Sorgfältig lauschte er der Stille. Der Wald war hier so dicht, daß nur wenig Licht hineinfiel und die verwucherten Äste überall ließen jede Kontur zu Trugbildern zerfließen, aber auf sein Gehör konnte sich Caleb verlassen. Er zählte fünf. Zwei knapp hinter ihm auf jeder Seite seines Weges und einer - wahrscheinlich der Anführer - vor ihm.
Caleb schoß schnell und ansatzlos. Kaum hatte er gezogen, befand er sich schon in einer Drehung und gab beidhändig aus der Hüfte feuernd fünf präzise und absolut tödliche Schüsse ab. Die großen Kugeln seines Revolvers pflügten brutal durchs Unterholz und trafen ihre Ziele ausnahmslos. Keiner der fünf hatte Zeit zu reagieren. All dies geschah innerhalb eines Wimpernschlages. Kaum waren seine Gegner erledigt, hatte er auch schon seine Revolver wieder eingesteckt und durchsuchte seine Opfer schnell und effizient nach brauchbarem. Er fand nicht viel. Etwas Geld, eine Flasche Schnaps, trockenes Brot und etwas Dörrfleisch. Kaum der Rede wert.
Keine fünf Minuten nach den Schüssen war er wieder auf seinem Weg. Fast hätte er glauben können, es wäre so wie immer verlaufen, aber diesmal war es anders. Ein Teil von ihm, jenseits aller Routine, ekelte sich vor dem, was er getan hatte, auch wenn er die Banditen dadurch daran gehindert hatte ihn zu töten. Caleb wußte, daß er einen langen Weg angetreten war. Den Weg zurück in die Menschlichkeit.
Der Wald lichtete sich und wurde durch eine eintönige halbwüste abgelöst. Einzig die bleichen Knochen von verendeten Tieren und Menschen, unterbrachen das ewig gleiche Bild aus Sträuchern und Felsen. Tagelang wanderte er durch diese Einöde, bis sich sein Weg ihn schließlich zum Ortsschild von Desperation führte.

Desperation war nicht gerade eine Perle in dieser verdorrten und trostlosen Landschaft. Von weiten sah die Stadt fast so aus, als seien einfach schmutzig-weiße Kalksteinblöcke, deren Kanten von der Erosion eines unablässigen Windes längst abgeschliffen waren, planlos zu einen niedrigen Haufen zusammengeschoben worden. Den selben Charme verströmte, wie Caleb bald bemerkte, die Stadt auch, wenn man sich in ihr befand.
Die zwei staubigen, kaum benutzten Hauptstraßen, die sich jeweils aus Nord-Süd- und Ost-West-Richtung kommend in der Mitte des Kaffs kreuzten, waren die einzigen, die eine Kutsche passieren konnte. Auch wenn die zahllose Steine und Schlaglöcher nicht dazu einluden.
Unweit der Kreuzung konnte Caleb eine Bar ausmachen. Das Schild über dem Dach war ausgeblichen und kaum lesbar. Eine passende Metapher für diese Stadt; und für diese Welt.
Die Bar wirkte zwar billig, war aber wenigstens leidlich sauber. Die Preise waren in Ordnung und Caleb fragte, nachdem er sich etwas bestellt hatte, warum nicht mehr los war in dem Laden.
"Das kommt noch, glauben Sie mir." Antwortete der Wirt, während er Caleb mißtrauisch in Augenschein nahm. "Ab neun, halb zehn komm' ich mit dem Nachschenken gar nicht mehr nach. Dann kommen die Viehtreiber und die Bauern von ihrer Arbeit nach Hause, wissen Sie.
Jedes Jahr wird die Ernte schlechter und die Menschen hier müssen immer härter ums überleben kämpfen. Die allermeisten haben schon jede Hoffnung aufgegeben, daß es je wieder besser wird. Wissen Sie, die besaufen sich nur noch, weil sie keine Perspektive mehr haben. Keine Zukunft, keinen Grund das wenige Geld, daß sie noch haben, zu sparen. Ihr Gesundheit ist wegen des harten Lebens mit 40 ruiniert, also betäuben sie sich, damit sie nicht so viel über dieses elende Leben nachdenken müssen."
"Machen das alle hier so?" fragte Caleb nachdem er das erste Glas geleert hatte und sich ein zweites bestellt hatte.
"Nein, viele der Jungen sind schon abgehauen. Irgendwohin, egal wo - überall ist es besser als hier, sagen sie. Zumindest die mit Grips tun das. Der Rest besäuft sich wie gesagt und knallt sich dann gegenseitig über den Haufen. Die Stadt geht den Bach hinunter. Nur noch kaputte, alte Leute."
"Warum wollen Sie nicht gehen?"
"Doch, das will ich schon, aber solange das Geld hier noch halbwegs fließt, wäre ich ja bescheuert abzuhauen. Glauben Sie mir, egal wie schlecht's denen geht, fürs Saufen haben sie immer noch Geld."
"Ich habe gesehen, daß Sie Zimmer vermieten" wechselte Caleb das Thema und deutete mit einer Kopfbewegung auf das entsprechende Schild.
"Ja, sie wären der erste Gast seit einem halben Jahr."
Und viel mehr werden wohl auch nicht mehr werden, dachte Caleb lakonisch. "Wieviel kostet die Nacht?"
"Fünf. Inklusive Frühstück."
"Ist gemacht." Caleb legte das Geld auf die Theke und für einem kurzen Moment hätten sich ihre Hände fast berührt. Der Wirt konnte das leise Entsetzen in seinem Gesicht kaum verbergen - als hätte er um ein Haar etwas unheiliges berührt.
Caleb dachte darüber nach, als er nach oben ging, um sein Zimmer zu inspizieren. Viele Menschen waren schon in purer Furcht vor ihm zurückgewichen. Der Anblick eines Gunman, noch dazu gekleidet wie der Tod persönlich weckte entsetzen in ihnen. Der Barkeeper hatte hier draußen wohl schon mit einigem zu tun gehabt, so daß seine Angstschwelle erst bei dieser Beinaheberührung erreicht war. Offenbar spürte er eine gewisse, bedrohliche Ausstrahlung von Caleb ausgehen. Vielleicht spürte er den Tod, den Caleb so oft mit sich gebracht hatte. Nichts in dieser Welt bleibt ohne Folgen, sagte er zu sich, der Geruch des Todes hängt an dir und den wirst du nicht so schnell los.

Die Frau des Wirtes mußte erst einmal die dicke Staubschicht, die alles in dem finsteren, kleinen Zimmer bedeckte, entfernen, bevor Caleb den Raum beziehen konnte. Das Zimmer war schäbig und das kleine Fenster trübe vor Dreck, doch zumindest knirschte nicht allzuviel Sand unter seinen Schuhen, als er durchs Zimmer ging.
Neben dem Waschbecken fand sich ein Eimer mit sauberem Wasser, sowie ein Stück Seife und ein Handtuch. Am Ende des Flurs befand sich außerdem noch eine alte Badewanne - kein Luxushotel, aber zumindest ein Ort an dem man sich den Staub von der Haut waschen konnte und ein, zwei Nächte in einem richtigen Bett schlafen konnte.
Caleb gönnte sich ein Bad - schließlich war es eine ganze Weile her, seit er das letzte Mal eines hatte. Entspannt lehnte er sich in dem dampfenden, heißen Wasser zurück. Völlig entspannt - aber einen Revolver immer in Griffweite.

Nach dem Bad hatte er sich noch etwas in der Stadt umgesehen und, nachdem er schnell herausgefunden hatte, daß es in dieser Stadt nicht viel zu sehen gibt, sich damit begnügt, seine Vorräte aufzubessern. Er wollte an diesem Tag früh zu Bett zu gehen, um am nächsten Tag weiterreisen zu können - schließlich, so stellte er schnell fest, vergeudete er hier nur seine Zeit, doch er fand nur schwer Schlaf. In der Bar unter ihm ging es hoch her: Für die schwer arbeitenden Bauern war ein weiterer entbehrungsreicher Tag zu Ende gegangen und nun ersäuften sie ihren Frust und ihre Erschöpfung in Unmengen von Alkohol.
Anfangs war es meist nur lautes Gerede und Gelächter, das ihn störte. Später wurden daraus die Geräusche einer handfesten Schlägerei und schließlich fielen zwei oder drei Schüsse.
Irgendwann gelang es ihn trotzdem etwas Schlaf zu finden. Der so lange vermißte Komfort eines richtigen Bettes half ihm dabei sehr.
Am nächsten Vormittag, noch bevor die letzten Betrunkenen der vergangenen Nacht wieder nach Hause gefunden hatten, brach Caleb wieder auf. Es gab keinen Grund mehr für ihn, länger zu bleiben; er fühlte sich ausgeruht und jede Stunde, die er hier länger verbrachte, erschien ihm wie eine Verschwendung.

Es war ein weiter Weg zur nächsten Stadt - Solitude - hieß sie und die trostlose Felsenlandschaft zog sich schier endlos dorthin. Wenigstens war das Gelände hier offen, so daß Caleb keinen Hinterhalt zu befürchten hatte. Auf seinem Weg fragte sich Caleb, wie viele Dörfer es wohl gab, die genauso wie Desperation langsam verfielen. Kleine Dörfer, die mit jedem Jahr ein Stückchen mehr starben; ihre Bewohner entweder verzweifelt oder resigniert; ums Überleben kämpfend, oder einfach nur auf das Ende wartend.

Die Straße, die von Desperation nach Solitude führte, mündete schließlich in eine der breiten Handelsstraßen, die sich schnurgerade durchs Land zogen. Die Handelsstraßen waren die Lebensadern des Landes, auch wenn die Not und die ewigen Kriege sei verfielen ließen, so daß sie selbst nichts mehr als ausgetretene Sandpisten waren. Wie die uralten Ruinen, auf denen Solitude errichtet wurde, waren sie Symbole einer längst vergangenen, besseren Zeit.
Caleb wußte, daß es nun nicht mehr weit war und er erwartete, bald die Umrisse der Stadt am Horizont ausmachen zu können. Die Händlerkarawanen, denen er von Zeit zu Zeit begegnete und die alle einem fernen, ungewissen Ziel entgegenstrebten, waren ein weiteres Indiz hierfür.
Nach ein paar Tagen auf der Handelsstraße konnte er endlich ausmachen, wie ihre weißen Gebäude ihm durch den Staub, der wie eine Patina auf allem lag, hindurchschimmerten.

Solitude war, im Gegensatz zu Desperation, eine lebendige Stadt. Ein bescheidener Wohlstand hatte sich in dem Kreuzungspunkt wichtiger Handelsrouten erhalten und auch wenn die Stadt bei weitem nicht die größte war - es gab bedeutend größere - genoß sie den Ruf, eine der letzten Städte zu sein, in denen die Menschen ein halbwegs würdiges Leben führen konnten. Die Spuren des Verfalls waren zwar auch in Solitude vorhanden, jedoch bei weitem nicht so deutlich, wie in den verseuchten, von Anarchie und Gewalt in Trümmer gelegten Großstädten.
Eine massive Ringmauer schützte die Stadt und stark befestigte Wachtürme an ihren sieben Haupttoren kündigten jeden, der sich Solitude näherte, schon von weitem an. Wenn auch die repräsentativen Gebäude der Stadtobersten von Sand und Wind mitgenommen waren und offenbar schon bessere Tage erlebt hatten, die Stadtmauer wurde sorgsam instand gehalten, denn jeder Bürger von Solitude wußte: würde die Stadtmauer fallen, wäre es um die Stadt und um ihre Bewohner geschehen.
Zielstrebig steuerte Caleb das Stadtzentrum an. Die großzügig angelegten Straßen, die von weißgekalkten Gebäudefronten flankiert waren, unter deren Arkaden sich zahlreiche Bars, Gasthäuser und Geschäfte ansiedelten, führten ihn rasch hin. Dort würde er vielleicht Informationen finden, die ihm auf seinem Weg behilflich sein konnten. Er wußte, daß es schwierig sein würde, an brauchbare Karten zu gelangen; die Gebiete jenseits der großen Wüste waren unbekannt. Seit Generationen war niemand mehr, der dorthin aufgebrochen war, zurückgekehrt um davon zu berichten.
Das Zentrum von Solitude bildete ein großer Marktplatz; gut besucht von Reisenden, Händlern, Abenteurern und Menschen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Der Marktplatz von Solitude war über seine Grenzen hinaus bekannt dafür, daß - auch wenn überall Mangel herrschte - man so gut wie alles bekommen konnte, wenn man nur bereit war, genügend dafür zu zahlen. Der Platz war, wie fast an jedem Tag, voller Menschen; überall hörte man Marktschreier ihre Waren anpreisen, Kunden mit Verkäufern feilschen, Reisende ihre Erfahrungen bei einem Glas Wein austauschen und das Schreien von Leuten, die einem Taschendieb zum Opfer fielen. Der Duft fremder Gewürze hing in der Luft; Weihrauch wehte aus den Zelten der Wahrsager und vermischte sich mit dem Geruch fettiger Imbißstände.
Er entdeckte in dem Gewühl einen Händler, der Waffen und Munition feilbot. Offenbar erkannte er an Calebs prüfendem Blick, der über seine feilgebotenen Waren hinwegglitt, daß es sich bei ihm nicht um einen Anfänger handelte. Caleb kaufte sich bei ein paar Schachteln Munition; er besaß nach dem Vorfall in dem namenlosen Dorf nur noch ein rundes Dutzend Patronen, deshalb erstand ein paar Schachteln, für die er einen fairen Preis zahlte.
Ein paar Stände weiter fand er auch einen Kartenzeichner, doch auf keiner Karte fand er, was er suchte. Jede davon war für einen Reisenden, der den Routen der bekannten Welt folgen wollte brauchbar, doch alle endeten mit der großen Wüste im Westen. Eine Karte ging sogar so weit, jenseits der Wüste die Worte 'hier Drachen' stehen zu haben.
Auf die Frage, wo er denn Karten bekommen könnte, die ihm verrieten, was weiter westlich, jenseits der Wüste, lag, schüttelte der Zeichner nur den Kopf.
"So was gibt's hier nicht. Niemand weiß, was jenseits der Wüste liegt" antwortete der Mann und fügte hinzu, daß ohnehin nie jemand danach fragen würde. Und daß es fraglich war, ob es da überhaupt noch etwas gäbe. "Schließlich ist keiner mehr von denen zurückgekommen, die es versucht haben."
"Was weißt du über sie?"
"Nichts. Nur was man so sagt."
"Und was sagt man?"
"Daß es keine gewöhnlichen Menschen waren."
"Inwiefern?"
"Nun," der Kartenzeichner legte eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach "Du bist auch kein gewöhnlicher Mensch - das spürt man sofort. Und offensichtlich willst du auch in den Westen."
Was dieses Thema anbelangte, hatte Caleb nun genug. Er sah sich nach weiteren Kartenständen um und fragte sich, ob die Feinde der mysteriösen Schamanen mit dieser Antwort gemeint waren.
Woanders hatte er auch wenig Glück. Keiner konnte ihm eine glaubwürdige Karte des Westens verkaufen. 'Was willst du in einem Lande, das die Sonne nur erreicht, um dort unterzugehen?' fragte ihn einer.

Schließlich begann auch die Sonne über Solitude unterzugehen und der ewig wolkenverhangene Himmel wechselte allmählich von verwaschenem graugelb über zu karminrot marmoriertem Schwarz.
Müde von dem langen Suchen suchte Caleb schließlich ein Gasthaus auf. Er hatte Hunger, also beschloß er, noch etwas zu Essen, bevor er sich ins Bett fallen ließ.

Er setzte sich zum Essen in eine der versteckt liegenden Sitzgruppen, wo er sich Ruhe vor dem Trubel vorne an der Theke versprach. Während er aß und ab und zu einen Schluck von dem verdünnten Gesöff trank, das man in diesem Laden Wein nannte, ließ er seinen Blick über die Gäste streifen.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte er sie vielleicht noch abgeschätzt; als potentielle Ziele; als Opfer eingeordnet. Jetzt waren sie ihm gleichgültig; ein paar taten ihm sogar fast leid.

Ihm war nicht entgangen, daß ihn eine junge, ganz gut aussehende Frau beobachtete. Mit einem mal schien sie Mut zu fassen und kam zu ihm herüber. Sie lächelte ihn mit Katzenaugen an und legte dann einen kleinen, zusammengefalteten Zettel auf den Tisch. Sie sah ihn noch einmal kurz an und ging dann Richtung Ausgang.
Caleb nahm den Zettel, 'wahrscheinlich ihre Adresse, oder irgendein Treffpunkt', dachte er, doch als er ihn auseinander faltete, standen dort nur folgende Worte:

Du bist ein toter Mann.

Caleb bemerkte ein Jucken an den Fingerspitzen. Als er seine Hände betrachte, sah er daß die Blutgefäße dort, wo er das Papier angefaßt hatte, seltsam weiß hervortraten. Gift! Sie hatte ihn vergiftet! Er sprang auf, wobei er fast das Gleichgewicht verlor und taumelte vom Tisch weg. Alles sah verzerrt aus und schien von einer Seite auf die andere zu kippen. Ihm schien es, als hätte er jeglichen Gleichgewichtssinn verloren. Schwankend wie betäubt, versuchte er sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Unter all den Betrunkenen fiel sein alarmierender Zustand kaum auf und er erkannte bald, daß er von hier keine Hilfe zu erwarten hatte.
Nach einer Ewigkeit des beiseiteschiebens und beiseitegeschoben werden, erreichte er endlich den Ausgang. Er stieß einen hereinkommenden Besucher beiseite und als er draußen auf der nächtlichen Straße war, war von der Frau nichts mehr zu sehen. Die Straßen lagen still vor ihm, und die Lichter, die aus den Fenstern drangen verschwammen und wurden zu streifigen Schlieren, als er den Kopf bewegte, um nach ihr Ausschau zu halten Er merkte, wie schnell sich das Gift in ihm ausbreitete. Seine Arme begannen zu pochen und seine Adern waren nun bis zum Gelenk hin weiß. Er zitterte und seine Glieder waren kalt und taub. Er glaubte, in einer Seitengasse das Geräusch von rennenden Füßen gehört zu haben und er folgte diesem Geräusch so gut, wie es ihm noch möglich war, doch als er einige Meter in die Gasse gerannt war, wurde es schwarz um ihn und er fiel bewußtlos zu Boden.

Er erwachte in einer spärlich mit Kerzen beleuchteten Hütte. Wie er hierher gekommen war und wie lange er hier lag, konnte er nur raten: es könnten Stunden oder Tage gewesen sein. Ein pochender Schmerz malträtierte seinen Kopf und ihm war, als würden dumpfe, von irgendwo her kommende Trommeln in seinem Ohr eine einschmeichelnde, giftig-süße Melodie spielen. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen; irgendwie wollte er es auch nicht - der betäubende Rhythmus der Trommeln raubte ihm den Willen; lähmte ihn.
Am Fußende des Bettes, auf der er lag, sah er die Frau wieder. Sie hielt eine kleine Puppe in der Hand, der sie ganz langsam eine rauchende, rußgeschwärzte Nadel in den Kopf bohrte. Gleichzeitig mit dem Eindringen der Nadel in den Kopf der Puppe bohrte sich ein furchtbarer Schmerz in Calebs Kopf. Er schrie. Es kam ihm vor, als würde eine glühende Lanze in sein Gehirn gebohrt werden.
Sie lachte. "Du kennst mich nicht. Aber ich kenne dich."
Haßerfüllt starrte sie ihm in die Augen. "Du hast meinen Mann umgebracht und jetzt mußt du dafür zahlen."
Sie war wahnsinnig vor Schmerz und Trauer. Aber Caleb konnte sich nicht an sie erinnern, auch wenn die Erinnerung an diesen Vorfall vielleicht seine Rettung bedeuten könnte.
"Auch wenn es für dich nur ein Auftrag war; ein Mord unter vielen; für mich war es nichts alltägliches, als du eines Tages in unserer Tür standest und meinem Mann eine Kugel in den Kopf gejagt hast. Ich seh' es noch vor mir, als wäre es gerade eben passiert. Er war noch gar nicht auf den Boden gefallen, da hast du schon den Revolver auf mich gerichtet, hast mich angeschaut und ihn dann wieder in den Halfter gesteckt. Wahrscheinlich hast du dir gedacht, daß du jemanden am Leben lassen solltest, jemand, der den anderen erzählt, daß der Todesbringer wieder zugeschlagen hat, der von deiner Grausamkeit berichtet und eine weitere Schreckensnachricht über dich verbreitet." In ihrer Ironie lagen Schmerz und Hilflosigkeit, die jetzt die Gelegenheit bekamen, sich in Genugtuung und Rache zu verwandeln.
Sie nahm eine weitere Nadel und stach sie mitten ins Auge der Puppe. Und auch diesmal ließen seine Schreie sie unbeeindruckt.
"Ich habe lange nach einer Möglichkeit Rache zu nehmen gesucht und auch wenn die Chance, dir jemals wieder zu begegnen gering war, habe ich dennoch nicht aufgegeben. Irgendwie wußte ich, daß diese Geschichte noch nicht abgeschlossen war. Schließlich habe ich einen Weg gefunden, dir beizukommen."
Während sie dies sagte, legte sie die Puppe beiseite und zog ein blitzendes Messer aus der Tasche.
Sie krempelte seinen Ärmel hoch und fügte ihm einen langen, tiefen Schnitt entlang des Armes zu. Caleb sah, daß sie seine Pulsader nicht verletzt hatte. Offenbar wollte sie ihn langsam verbluten; ihn langsam sterben sehen.
"Ich habe lange gebraucht, um einen Weg zu finden, mich an dir zu rächen. Du schienst unangreifbar mit deinen Waffen, doch dann stieß ich auf den uralten Juju-Kult; auf längst vergessene Schriften mächtiger, destruktiver Magie.
Mach dir keine Sorgen um das Gift es wird dich nicht umbringen. Es hatte dich nur betäubt und seine Wirkung wird bald vergangen sein. Töten werde ich dich auf andere Weise. Ich werde dir deinen Willen nehmen und dann darfst du hiermit" sie zeigte ihm das Messer, an dem sein Blut klebte "Stücke aus dir schneiden."
Die Trommeln wurden intensiver und zogen ihn immer tiefer herab in ihren hypnotischen, betäubenden Rhythmus. Nichts mehr schien zu existieren, außer den monotonen Klängen. Ihm war, als befände er sich meilenweit unter der Erde.
Ein weiterer, stechender Schmerz peinigte ihn. Er drang tief in seinen Kopf.
Calebs Widerstand gegen das Gift erlosch mehr und mehr. Vielleicht machte sich bereits der Blutverlust bemerkbar. Ein gleichmäßiger Strom floß seinem Arm hinab und bildete eine Pfütze auf dem rissigen Holzboden. Er versuchte zu sprechen, doch die Worte kollabierten auf seiner Zunge, bevor sie seinen Mund verlassen konnten. Kataleptisch; unfähig zu bewegen driftete er ab in Gleichgültigkeit; in eine träge, friedliche Ruhe. Er war des Tötens und des Lebens müde; wollte für immer hier liegen bleiben und in Frieden sterben. Nichtexistenz; erlöst werden von den Schmerzen; erlöst werden von er Qual der Existenz. Er wollte nicht mehr suchen; er wollte einfach nur Frieden.
Immer schneller gingen die Trommeln und immer trüber wurde sein Willen. Sie begannen auf einen Höhepunkt zuzustreben; einen Höhepunkt, bei dessen Erreichen er wohl tot oder willenlos sein würde. Er wurde immer schwächer; immer mehr raubten die Trommeln seine Energie und schienen dabei selbst an Kraft zu gewinnen.
Die Trommeln steigerten sich zu einem wüsten Wirbel und nahmen nun alles ein; waren überall und schienen gleichzeitig aus dem nirgendwo zu kommen. Sie waren eindringlich und klangen gleichzeitig gedämpft, als ob sie von tief unter der Erde kämen. Er konnte die beschwörende Stimme der Frau hören, verstand aber kaum, was sie sagte. Ihre Stimme ging manchmal schnell, manchmal langsam. Einzig den wiederkehrenden Refrain verstand er, der Rest ging in den omnipräsenten, immer rasender werdenden Trommeln unter:
"Listen... listen... to your fear...listen? to your fear?"
Und er hörte in sich und spürte Furcht. Eine Furcht, die sein Selbst immer weiter zurückdrängte und die Trommeln immer mehr seines Selbst einnehmen ließ.
Die Priesterin sang sich in Trance. Bald würde es ein Ende haben. Sein Willen wurde durch Frieden ersetzt; weißem Rauschen, daß jeden Gedanken im Keim erstickte.
Im Halbtod dahindriftend, sah er wie die Priesterin sich wie ein Derwisch wirbelte, sie tanzte und spuckte tödliche Flüche gegen ihn. Seine Seele war am Nullpunkt angelangt. Er war über jedes Maß hinaus zerstört. Nichts hatte mehr Bedeutung. Einzig die Trommeln, jetzt in wilder Raserei, existierten noch.

Er konnte es sich nicht erklären, vielleicht gab es in dem Bann der Trommeln eine kleine Schwäche, eine kleine Unkonzentriertheit ihrerseits, oder es steckten Kräfte in ihm, die er selbst nicht kannte - jedenfalls wollte der letzte Funken seines Ichs nicht erlöschen. Eine letzte Faser in ihm leistete noch Wiederstand; wollte nicht sterben; konnte noch nicht sterben - nicht bevor er die Wahrheit über sich kannte. Es gelang ihm unter größter Anstrengung die Kontrolle über seine Hand zu erringen. Mit Aufbietung all seines Willens schaffte er es, sie schließlich zu bewegen. Sie Hand fühlte sich taub und steif an. Aber irgendwie gelang es ihm sie an seine Hüfte zu führen, wo er seine Revolver fand. Sie hatte sie ihm nicht abgenommen. Vermutlich in dem Glauben, daß er sowieso nicht mehr in der Lage sein würde, sie zu benutzen.
Zeitlupenhaft zog er den Revolver, fast wäre er ihm aus dem Halfter gerutscht und zu Boden gefallen, als seine Hand das ganze Gewicht der massiven Waffe halten mußte.
Mit Mühe gelang es ihm, die Waffe zu heben, aber es fiel ihm schwer sein Ziel anzuvisieren. Seine Augen wollten ihm nicht mehr gehorchen und fielen immer wieder zu. Sein Blick war verschwommen und Schwärze wieder brandete über sein Gesichtsfeld, doch es gelang ihm schließlich nahezu instinktiv sein Ziel zu finden. Ein mächtiger Schuß peitschte an seine Ohren und der Rückstoß der Waffe schleuderte seine kraftlose Hand zurück und entriß ihr den Revolver. Die Frau, die in ihrer Trance nicht einmal bemerkte, in welcher Gefahr sie schwebte, fand keine Zeit zu reagieren. Zeitgleich mit dem Knall des Schusses fiel sie rücklings gegen ein mit Gläsern und Tonkrügen vollgestelltes Regal. Sie versuchte sich noch festzuhalten, doch ihre Hände glitten ab und rissen stattdessen einige der Behälter und einen metallenen Kerzenständer mit sich zu Boden. Der Bann über Caleb und die wilde, unkontrollierte Raserei, in die die Beschwörerin sich gesteigert hatte, endete jäh. Die Trommeln waren verstummt und für einen Moment herrschte vollkommene, betäubte Stille. Einzig unterbrochen durch die rasch schwächer werdenden Atemstöße der Frau und dem rollen von Gläsern auf dem Fußboden.
Caleb wußte, daß ihm vielleicht nur noch wenig Zeit blieb. Die Kerzenflamme würde reichlich Nahrung auf den knochentrockenen Holzbrettern finden; und so kam es auch. Wenige Augenblicke waren erst vergangen, als schon der Wiederschein eines bedrohlichen Flackerns auf den Wänden tanzte. Die Flammen fanden auf dem, mit seltsamen Chemikalien und Mixturen aus den zerbrochenen Gefäßen getränkten Fußboden rasch Nahrung und breiteten sich, an einigen Stellen seltsam grün und blau brennend, bedrohlich schnell aus.
Sie tanzten wild vor seinen Augen; faszinierend betrachtete er, wie sich ihr geheimnisvolles Farbenspiel ausbreitete: Über den Fußboden, über das Regal und schließlich über den Körper der Toten.

Caleb riß sich von dem Anblick los und mühte sich, die Taubheit aus seinem Körper zu vertreiben, denn das Feuer loderte immer höher und zauberte immer mehr zugleich wunderbare und schrecklich anmutende Farbmuster auf die Wände. Er wollte nicht, nachdem er mit so viel Glück entkommen ist, im Feuer umkommen und so gelang es ihm, sich von dem Lager, das beinahe sein Totenbett geworden wäre, zu erheben. Er fühlte sich furchtbar schwach. Sein ganzer Körper zitterte und schmerzte; seine Muskeln waren von Krämpfen geschüttelt.
Bevor er sich zur Tür kämpfte, warf er noch einen kurzen Blick auf die Frau. Er mußte sich beeilen, denn Rauch begann sich auszubreiten und fing an, in seinen Lungen zu brennen.
Ihre Kleidung hatte bereits Feuer gefangen und die Flammen zerstörten rasch ihre Schönheit. Caleb konnte noch erkennen, daß Schuß sie ins Herz getroffen hatte. Die großkalibrige Kugel riß an dieser Stelle eine schreckliche Wunde. Nach einer kurzen Weile mußte Caleb seinen Blick lösen: Seine Augen brannten vor Rauch und die Luft, die seine Lungen einsogen, schienen keinen Sauerstoff mehr zu enthalten. Würgend und Hustend suchte er einen Weg durch den immer dichter werdenden Qualm nach draußen.
Er stolperte gegen irgend etwas und wäre beinahe hingefallen. Panik begann in ihm aufzusteigen und krampfartige Hustenanfälle malträtierten seinen ohnehin schon gebeutelten Körper.
Schließlich fand er das Türschloß und er warf sich mit all seiner verbliebenen Kraft dagegen. Die Tür schwang auf und er fiel, gefolgt von einer dichten Rauchwolke in den Staub, wo er sich schwer hustend zusammenkrümmte.

Offenbar war er einige Sekunden lang bewußtlos gewesen, denn als er wieder aufsah, standen bereits einige der umliegenden Hütten in Flammen. Der Ostwind trieb brennende Holzstücke und Funken vor sich her, die in dem ausgetrocknetem Holz der ärmlichen Hütten sich rasch zu einem Flächenbrand entwickelten.
Caleb hörte die panikerfüllten Schreie der Brandopfer; immer mehr Leute rannten umher. Geisterhaft beleuchtet vom Schein der Flammen. Einige rannten in Panik davon, um gleich darauf wieder umzukehren, um ihre Kinder oder ihre Habe zu retten; andere kamen, um beim Löschen der Flammen zu helfen; während ein paar arme Seelen verbrannt vom Feuer oder vergiftet vom Rauch zusammenbrachen und sich nicht mehr rührten.
Er stemmte sich auf die Knie, holte tief Luft - der Wind wehte ihm sauerstoffreiche Luft entgegen - und richtete sich schließlich auf. Die Welt um ihn herum war ein stumpfes durcheinander aus Schreien, Brandgeruch und flackerndem, goldgelbem Licht; all seine Sinne waren wie unter einer Ascheschicht begraben.
Jemand lief auf ihn zu. Caleb verstand nicht, was er wollte. Er war verwirrt; und sah leer in das aufgeregte und besorgt dreinblickende Gesicht seines Gegenübers.
Schließlich erreichten ihn die Worte "Geht's ihnen gut?"
"Ja, ja," erwiderte er nur und wandte sich rasch wieder. Er wollte weg vom Schauplatz der Katastrophe.
Mit jedem Meter, den der Abstand zu den Hütten größer wurde, erholte er sich; kehrte das Leben in ihn zurück. Sein Schritt wurde sicherer und das Brennen verschwand allmählich aus seiner Lunge.
Er sich ein letztes Mal um und sah, daß das ganze Armenviertel in Flammen stand. Wiedereinmal hatte es die schwächsten der schwachen getroffen; Menschen, die nicht viel mehr besaßen, außer ihrem Leben und dem was sie auf der Haut trugen; die in ihrer Armut nicht hineinpaßten in die heile Welt der Sicherheit und des Wohlstands; die ins Elendsviertel abgeschoben wurden, damit sie das Stadtbild nicht verschandelten. Ihre dicht beieinander stehenden Holzhütten waren eine leichte Beute für die Flammen gewesen, während die massiven Steinhäuser der wohlhabenderen Bürger unweit des Armenviertels unversehrt blieben.
Diese Nacht brachte Schock und Entsetzen über die Menschen dieses Viertels, aber erst am Morgen würden sie die ganzen Ausmaße des Feuers überblicken können. Man würde ganze Familien finden, qualvoll im Feuer erstickt; Liebende würden ihre Partner vergebens suchen; Kinder würden um ihre Mütter und Mütter um ihre Kinder weinen.

Die ganze Szenerie kam Caleb furchtbar irreal vor. Es passierte alles so schnell, er fand kaum Zeit, zu reagieren, oder gar zu realisieren, was geschehen war.
Wie vielen, fragte er sich, erging es ebenso wie dieser Frau? Wie viele Leben hatte er, wie das ihre zerstört? Seine Handlungen hatten die Katastrophe mit ausgelöst. War er nicht der Urheber dieser Katastrophe? Hatte er nicht damals, als er ihren Ehemann umgebracht hatte, eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die nun, wie vorprogrammiert, in diesem Feuersturm endeten?
Gab es so etwas wie eine Vorbestimmung? War es seine Bestimmung, daß alles, was er tat, dazu verurteilt war, in Leid zu enden?
Er ließ die brennenden Ruinen hinter sich. Seine Gestalt warf einen langen Schatten und ein heißer Wind, der vom Feuer herrührte spielte mit seinem Mantel.
Caleb nahm was in dieser Nacht geschehen war, als Vorzeichen dafür, daß sein Weg; seine Suche noch lange nicht beendet war und daß ihm wohl noch einiges bevorstand.
Müde, mit schmerzenden Gliedern und Blutergüssen am immer noch pochendem Schädel machte er sich auf die Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Noch nie kam er sich so verwundbar vor.
Als er sich im Morgengrauen endlich in ein Bett fallen lassen konnte, schlief er nicht sofort ein. Er war todmüde, doch das, was er diese Nacht erlebt hatte, beschäftigte ihn noch eine Zeit, bis er endlich einschlief.

Er wachte erst gegen Mittag auf - mit schmerzenden Gliedern, aber bis auf den Schnitt an seinem Arm wohlauf. Die Nachwirkungen des Giftes waren noch zu spüren und in seinen Augen brannte ein stechender Schmerz, wenn er den Kopf drehte, oder versuchte, etwas mit den Augen zu fixieren. Es kam ihm vor, als wären Jahre vergangen seit er in dem Gasthaus gesessen hatte.
Die folgenden Tage verbrachte Caleb damit, sich zu regenerieren. Er klapperte noch mal die Händler der Stadt ab; suchte nach irgend etwas brauchbarem. Das Trauma, das das Feuer verursacht hatte, schien die Stadt gelähmt zu haben. Eine schwarze Rußwolke hing über dem vernichteten Stadtviertel, wie ein böses Omen für all die, die vom Feuer verschont geblieben waren. Überall - auf den Straßen, auf dem Marktplatz, in den Bars - redeten die Leute über diese schreckliche Nacht. Die Bewohner von Solitude waren Geschockt; weniger deshalb weil vielleicht Hunderte Menschen gestorben waren; nein - vielmehr, weil es in ihrer Stadt passiert ist. In dem friedlichen und sicheren Solitude. Manche gingen sogar so weit zu sagen, daß der Verfall nun wohl auch Solitude erreicht hatte und der Untergang der Stadt nahe war. Und auch die optimistischsten unter ihnen waren der Meinung, daß Solitude nie wieder so sein würde, wie es mal war.

Seine Gesundheit war nach etwa einer Woche wieder hergestellt, was auf der nun folgenden Wegstrecke wohl der wichtigste Aspekt war. Jedes noch so kleine Problem, mit dem er in den endlosen, unbekannten Weiten, die vor ihm lagen, zu kämpfen haben würde, würden seine Überlebenschancen in der Wüste drastisch verringern. Er bepackte sich mit soviel Wasser und Proviant, wie er sich zumuten konnte. Da ihm niemand sagen konnte, wie groß die Wüste wirklich war, geschweige denn, was dahinter lag, mußte er vom Schlimmsten ausgehen. Und was ist, fragte er sich, wenn meine Vorräte trotzdem nicht reichen und ich verdurste irgendwo in der Wüste, nur ein paar Meilen von einer Wasserstelle entfernt? Schnell verdrängte er diesen Gedanken. Ihm brannten genug offene Fragen auf der Seele, die diese Gefahr rechtfertigten. Unwissend sterben kannst du so oder so. Warum dann nicht einfach das unmögliche versuchen?
So oder so, er mußte Solitude den Rücken kehren. Er konnte die Erinnerung an das furchtbare Feuer nicht länger ertragen. Es wurde Zeit, fand er daß er sich wieder auf seine Aufgabe besann.
Caleb verließ die Stadt in der Ungewißheit, ob er die Selbe wiedersehen würde, wenn er zurückkommen sollte. Vorausgesetzt, daß er jemals zurückkommen sollte.

Es war, als würde er den letzten Außenposten der Menschheit hinter sich lassen, als hätte er eine Demarkationslinie zu einem feindlichen Gebiet überschritten, indem er sich der Wüste näherte. Aber das Gefühl der Sicherheit, das er in Solitude empfunden hatte, war trügerisch. Er konnte sich nirgends sicher fühlen. Es war eine gefährliche Zeit und jeder mußte in dieser feindlichen Welt ums Überleben kämpfen. Obwohl einem fast keine Überlebenschance blieb.
Er hatte sich verändert. Ihm war nie zuvor aufgefallen, wie paranoid er doch war. Abschätzend; ständig Gefahr witternd. Sicher, eine gesunde Paranoia konnte einem das Leben verlängern - aber was für ein Leben war das dann noch? Er bemerkte aber auch, daß er seinen Zynismus langsam abstreifte; ihn verlor, wie einen Panzer, der einem zu eng wurde. Er war nun auf der einen Seite freier, aber andererseits auch verwundbarer.

Vor ihm lag eine neue Welt. Hier endeten endgültig die kläglichen Überreste der Zivilisation und ein fremder, bedrohlicher Kontinent begann. Wie weit er sich erstreckte, oder wo genau dieses Ziel lag nach dem er suchte, wußte er nicht. Er tappte im Dunkeln. Inmitten der endlosen Wüste kam er sich nackt und verwundbar vor; als würde er vor einem höheren Wesen treten, daß ihn mit all seinen Verbrechen - mit all seinen Morden - konfrontierte und schließlich Gericht über ihn hielt.

Die Wüste war kahl und tot. Leben gab es hier draußen keines. Etliche Tage und Wochen vergingen in einer endlosen Monotonie. Niemanden traf er hier draußen keine Spur von anderen Reisenden, aber er hatte es nicht anders erwartet. Die Wüste war gefürchtet. Ein lebensfeindliches Gebiet, von dem sich normalerweise jeder mit Verstand fern hielt; ein endloser, staubtrockener Kessel. Steril und leblos wie ein fremder Planet. Ein häßliches, entseeltes Land. Bargen ansonsten selbst die lebensfeindlichsten Orte eine gewisse archaische Schönheit, die erst noch entdeckt werden wollte, gab es hier nichts dergleichen. Die Weite wirkte erdrückend, als würde sie einen mit ihrer schieren Größe vernichten wollen und die ewig gleiche Landschaft ließ den Eindruck entstehen, auf der Stelle zu treten und niemals, nicht in tausend Jahren diesen Kessel, der jeder Beschreibung spottet, durchqueren zu können. Die Wüste raubte jede Hoffnung. Einzig jene quälende Sehnsucht nach Antworten; nach Frieden mit sich selbst ließ Caleb noch weitermachen. Stur mechanisch vorwärts; nicht nach dem Warum fragend; überhaupt nichts fragend. Nicht einmal denkend.
Wie viele Tage oder Wochen, die ihm wie Monate oder Jahre vorgekommen waren, war er schon unterwegs?
Er konnte es nur anhand der Vorräte, die er verbraucht hatte, konnte er noch bestimmen. Sie waren schon zur Hälfte aufgebraucht; vor allem das Wasser machte ihm Sorgen, doch der Todeskessel von Wüste nahm einfach kein Ende.
Die Tage wollten nicht vergehen. Jeder war eine Qual für Körper und Seele. Einerseits angetrieben zu werden von einer unbändigen Kraft, die ihn immer wieder vorwärtstrieb; andererseits von der endlosen Trübsinnigkeit dieses eintönigsten aller denkbaren Landstriche gelähmt zu werden, machte ihn krank. Er hoffte nur, daß er nicht den Verstand verlor.
Immer weiter ging es und mit jedem Tag schwand sein Wasservorrat. Eine Rückkehr ausgeschlossen. Er würde verdurstet sein, bis er wieder in Solitude angekommen wäre. Überdies wußte er nicht einmal mehr, wo er war. Er hatte zwar eine grobe Vorstellung wie lange er unterwegs war, aber in dieser Ödnis, die jede Landmarke entbehrte die falsche Richtung einzuschlagen, oder im Kreis zu laufen, konnte nur allzuleicht geschehen.

Der Herbst kündigte sich langsam an und die ohnehin trüben Tage wurden immer kürzer. Bald würde zu jeder Tageszeit düsteres Zwielicht herrschen, nur unterbrochen von kalten, finsteren Nächten, die nicht enden wollten.
In der Ferne konnte er nun undeutlich und geisterhaft die Umrisse eines fremden Gebirges ausmachen, doch Caleb machte sich keine Hoffnungen. Es war vielleicht eine Luftspiegelung und dann wären zwischen ihm und dem tatsächlichem Gebirge etliche hundert Meilen toter Wüste. Er kürzte seine arg knappen Wasserrationen aufs allernötigste, doch die trockene Luft und der feine Staub, der mit dem Wind über die vertrocknete Erdkruste raste, forderten ihren Tribut; trockneten ihn aus; ließen seinen Mund rauh und spröde werden und seine Zunge anschwellen, brannten ihm in den Augen und ließ seine vertrockneten Lippen aufplatzen.
Er fühlte sich Elend, doch er mußte mit seinen Vorräten haushalten, wollte er eine Überlebenschance haben.
Der Kopf schmerzte ihm und Flecken begannen, vor seinen Augen zu tanzen. Ein, zweimal drohte er das Gleichgewicht zu verlieren und auf die hartgebackene Erde zu fallen. Am liebsten, dachte er sich, würde er sich jetzt hinlegen, die Augen schließen und schlafen. Nur noch Schlafen. Aber Caleb wußte nur zu gut, daß dies den Tod bedeuten würde und so schrak er immer wieder auf, wenn er drohte in die Bewußtlosigkeit abzudriften.
Nicht ein einziges mal, so schwer es ihm auch fallen mochte, durfte er dieser Sehnsucht nachgeben.
Immer mehr kam es ihm in den Sinn einfach aufzugeben. Doch es brannte noch eine Flamme in ihm; dort in der Totenstadt wurden ihm Dinge offenbart, wurden Fragen aufgeworfen die Antworten bedurften, sonst würde der brennende Schmerz, der ihn antrieb bis ans Ende aller Zeiten peitschen. Brennende, schmerzhafte Fragen waren es, vor deren Beantwortung sich vielleicht auch ein Teil in ihm sträubte, die aber eine Wunde in seine Seele gerissen hatten, die nach Heilung schrie. Seit jener Zeit in der Totenstadt spürt er sie. Eine klaffende Wunde, die immer dann schmerzhaft aufbricht, wenn er glaubt, sein Ziel aus den Augen verloren zu haben, und ihn daran erinnert, was seine Mission ist. Etwas, das ihn immer wieder auf die Beine holt und zum weitermachen zwingt.

Ob die Berge nun näherkamen oder nicht, vermochte er nicht mehr zu beurteilen. Genau so wenig wie er beurteilen konnte, wie lange er sie nun vor Augen hatte. Oder waren sie nur eine Illusion? Ihm war, als würde er schon ein ganzes Menschenleben hinter diesen Bergen herrennen, und daß sie immer einen Schritt voraus blieben, egal, wie er sich bemühte.
Aber dennoch konnte er einfach nicht aufgeben. Die Wunde ließ es nicht zu. Erst recht nicht in so einer Extremsituation. Solange, wie noch ein Funken Leben in ihm steckte, würde sie ihn antreiben; Ihn solange vorwärtspeitschen, bis sein Körper versagte und er tot zusammenbrach.

Caleb war längst an einem Punkt angelangt, an dem jeder normale Mensch schon tot und vertrocknet im Staub liegen würde, doch er schleppte seinen Körper immer weiter. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Meile für Meile. Alptraumbilder zogen vor seinen Augen vorbei. Leuchtend in den Farben frischen Blutes. Irgendwann kam er zur Überzeugung, gestorben zu sein. Daß er es sich nur einbildete, immer weiter zu gehen; daß er in Wahrheit längst im Wüstenstaub lag und seine Seele für alle Zeiten in der Wüste herumirren würde, ohne jemals erlöst zu werden.
Und er sah sich daliegen; Mit leeren Augenhöhlen, und vertrockneten Händen, die zu knochigen Krallen verkrümmt waren. So würden er daliegen, bis ans Ende aller Zeiten.
Vielleicht waren seine Erlebnisse in der Totenstadt auch nur eine Illusion. Vielleicht hat es den alten Mann nie gegeben. Vielleicht war er einfach nur irre und hatte sich das alles nur eingebildet. Vielleicht werden sie ihn in tausend oder einer Millionen Jahren finden. Noch im Todeskampf mit Hunger und Erschöpfung ringend. Zu Stein geworden; für die Ewigkeit konserviert. Sie würden ihn vielleicht ausstellen wie eine Kuriosität. Entwürdigt und zahllosen, gaffenden Augen preisgegeben. Sie würden staunen, sie würden ihre Witze machen, sie würden ihn zum Gegenstand degradieren und schließlich wieder vergessen.
Er blickte in ihre Augen, doch in keinem sah er sich. Er war nicht wie sie. Er gehörte nicht zu ihnen. Caleb war nur ein Name. Ein Name, den Menschen ihm gaben. Er war alles, nur kein Mensch. Er war jedes Tier. Er war die Kraft des Pumas, der sich zum Sprung anspannte, er war der Falke, der sein Opfer jagte, während die Erde unter ihm hinwegraste, seine Augen waren tiefe, klare Seen und sie blickten überall hin und sie sahen alles. Er war der Fels, der ruhig und erhaben seit Ewigkeiten der Witterung trotzte. Er war das Wasser, das immer wieder erneuert wurde, immer wieder zu einem anderen Lebewesen gehörte, immer wieder neu geboren wurde. Er war die Energie und Hitze des Feuers, die Gewalt des Wirbelsturms, der Balsam eines warmen Regens; Er war die Wüste und die Fruchtbarkeit des Waldes in einem. Er war der Fisch, der durch endlose Tiefen preschte, Er war die Schlange, die sich um einen hohen Ast wand, er war das Leben. Fernab von allem Menschsein hatte er erkannt, daß er ein Teil des ganzen war. Er war die Natur und die Natur war in ihm.
Er empfand Frieden, den Frieden alles und nichts zu sein. Er sah sich schlafend in einem frischen sauberen Bett liegen, in einem hellen Raum. Das offene Fenster ließ warmes Licht und Meeresrauschen herein. Wie friedlich sah er aus - so entspannt und gelöst. Keine Sorgen trübten sein Antlitz.

Wie schön und beruhigend diese Vorstellung auch war, irgendwo in seinem Geiste hatte er aber die schreckliche Gewißheit, daß er, so lange er lebte wohl nie seinen Frieden finden würde. Daß er immer ein Getriebener sein würde und nur im Tode seine Ruhe finden würde. Aber das erlaubte ihm seine Wunde nicht. Er wußte, sie ließ ihn nicht sterben, bevor er nicht das erfüllt hätte, wozu sie ihn antrieb.
Er merkte nicht, wie er stolperte. Sein Gesicht schlug hart auf dem Boden auf. Steine schürften seine Haut auf und verletzten sein geschundenes Fleisch. Schmerzen spürte er keine. Stille umgab ihn. Stille war in ihm.
Bis sich ein leises Plätschern von Wasser in sein, sich verabschiedendes Bewußtsein schlich.

Nach endlosen Momenten öffnete er die Augen. Sie schmerzten, denn seine Lider waren trocken und vom Staub verklebt. Undeutlich, so gut sein Augenlicht es ihm noch zu zeigen vermochte, konnte er die Reflektionen fließenden Wassers vor sich ausmachen.
Und tatsächlich: Er lag ausgestreckt, nur etwa einen Meter von einem Bächlein entfernt, das sich klar aus dem Fels sprudelnd, über die staubtrockenen Felschen schlängelte.
Mit einem letzten Akt puren Willens; Mit der letzten Anstrengung, zu der er noch fähig war, krallte er sich mit steifen Fingern im Felsen fest und zog sich Zentimeter für Zentimeter zu dem rettenden Wasser.
Er trank zuerst nur zögerlich, um sicherzugehen, daß er es auch behalten würde, doch spürte er schon, wie sein Körper auf die Rettung reagierte; wie das Leben in ihm zurückkehrte. Nachdem er einige Zeit immer wieder etwas Wasser seine vertrocknete Kehle hinab fließen ließ, merkte er, wie ihm eine wohltuende Erschöpfung überkam und er sank in einem tiefen, traumlosen Schlaf.

Er erwachte hungrig und durstig, aber wenigstens war er am Leben. Ein bißchen Nahrung zu sich nehmend - zu viel würde in seinem Zustand nur schaden - und einige Schlucke trinkend, sah er sich um. Offenbar befand er sich auf einer Hochebene; in der Richtung, aus der er kam, erstreckte sich tief unter ihm die große Wüste und in der anderen Richtung breitete sich eine tausendfach gefaltete Gebirgslandschaft steil bis zum Horizont aufsteigend aus. Es war ein Anblick, wie eines fremden Planeten. Nirgendwo entdeckte Caleb auch nur eine Spur von Leben. Keine Bewegung konnte er ausmachen, außer dem Bröckeln von Sand und kleinen Steinen, die die Hänge hinunterrieselten und daran erinnerten, daß nicht einmal die Berge ewig existierten. In dieser sterilen Einöde wirkte selbst das bescheidene Rinnsal, der Calebs Leben rettete, wie ein dekadent überschäumender Lebensquell.
Caleb füllte seine Wasserschläuche auf und machte sich dann daran, sich einen Weg durch die Felsen zu bahnen. Er konnte es nicht fassen, daß er diesen Ort lebend erreicht hat. Nicht nur, daß er die Ebene durchquert hatte, nein, er schaffte anscheinend auch noch den steilen Aufstieg auf diese abweisende Hochebene, um dann letztendlich diese kleine, unscheinbare Quelle zu finden, die keine halbe Meile weiter bereits wieder ausgetrocknet sein mochte. Ihm fehlte völlig die Erinnerung an diese schier übermenschliche Tat. Das letzte, an das er sich erinnern konnte, war die endlose Weite der Wüste; danach kamen nur noch Fieberträume.
Verwirrt und beunruhigt von den bedeutungsschwangeren Träumen setzte er seinen Weg nach Westen fort. Es war nun merklich kälter; ein eisiger Wind wehte nachts von den Bergen her und jeder Tag war ein bißchen dämmriger als der vorige.
Die Landschaft hüllte sich mehr und mehr in Zwielicht und Caleb hoffte, das Gebirge rechtzeitig hinter sich lassen zu können, bevor der Winter hereinbrach und dieser Landstrich in vollends in Erstarrung und Lebensfeindlichkeit fiel.
Tag für Tag überwand er einen schroffen Felsrücken nach dem anderen und hinter jedem Aufstieg folgte eine ebenso steile Talsohle, was das gefaltete Gebirge wie eine riesige, erstarrte Dünenlandschaft anmuten ließ. Manchmal, wenn die Erschöpfung zu groß zu werden schien, fragte er sich, ob dieses Gebirge überhaupt jemals enden würde. Fast kam es ihn wie ein göttlicher Scherz vor, der den Reisenden mit immer neuen, endlosen Hindernissen in die Verzweiflung treiben wollte.
Schließlich jedoch überraschte ihn der Anblick einer Stadt, die friedlich ans Tal geschmiegt im Dämmerlicht lag. Trotz des wenigen Lichtes, das zu dieser Jahreszeit herrschte, brannten in der Stadt keine Lichter. Nur das geisterhafte Wiederscheinen der gekalkten Häuser wies überhaupt auf die Stadt hin. Caleb sah zu, daß er das Gebirge hinter sich ließ und stieß einige hundert Meter vor der Stadt auf eine gepflasterte Straße.
Er war überrascht ob des guten Zustands der Straße, selbst die Straßen die zu Solitude führten, waren nicht so gut erhalten, doch als er die Stadt erreichte, fand er den ersten Eindruck, den er von der Stadt hatte, bestätigt: Sie war verlassen.
Die Bauwerke der Stadt waren in einem guten Zustand; er konnte kaum Zerstörungen erkennen, nur die gewöhnlichen Spuren des Flugsandes, der an den Gebäuden schabte. Er schloß eine Katastrophe oder einen Krieg als Ursache für ihren Untergang der Stadt aus. Wahrscheinlicher eine Dürreperiode oder eine Seuche, denn als er die Häuser untersuchte fand er nichts, was auf eine Plünderung hindeutete. Viele Einrichtungsgegenstände waren noch unversehrt, besonders größere, wie Schränke und Betten, aber die ehemaligen Bewohner hatten offenbar alles, was sie auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat tragen konnten, mitgenommen.
Im Nordwesten der Stadt; nahe den Bergen, fand Caleb zahlreiche Zisternen, die einst das Überleben der Bevölkerung sicherten und nun dem Verfall ausgesetzt waren.
Alle waren ausgetrocknet, aber das mochte noch nichts bedeuten. In so einer Gegen mußten die Wasserleitungen, die von den Bergen herführten regelmäßig gereinigt werden, um nicht zu versanden. Schließlich fand er eine, die noch mit etwas Wasser angefüllt war.
Im fahlen Licht war sie nur als großes, schwarzes Loch im Boden - etwa fünf Meter im Durchmesser - zu erkennen. Das Holzdach, das sie früher einmal bedeckte, war mit Sicherheit schon vor einiger Zeit zusammengestürzt, oder von Sandstürmen weggetragen worden.
In einem naheliegenden Haus fand Caleb einen Eimer und ein brauchbares Seil, was er beides dazu benutzen wollte, seine Wasservorräte wieder aufzufüllen.
Als er am Rand der Grube stand, bemerkte er, wie lose das Mauerwerk dort war. Er hörte in der Dunkelheit Steine herausbrechen und weiter unten ins Wasser platschen. Derart vorgewarnt nahm er sich vor, etwas Abstand zur Kante zu wahren. Caleb ließ den Eimer hinab und bemerkte, daß das Seil sich in einem schlechten Zustand befand. Es fühlte sich brüchig an und zerfaserte an einigen Stellen. Er hoffte, daß die Feuchtigkeit und das zusätzliche Gewicht des Wassers würde tragen können. Der Eimer hatte sich, unten angekommen, mit Wasser gefüllt, aber als Caleb ihn wieder hochziehen wollte, spürte er einen Widerstand. Er wollte die Chance, an das Wasser zu kommen, nicht aufgeben, und kroch an den Rand, in der Hoffnung, in der Dunkelheit vielleicht etwas erkennen zu können.
Er erkannte nichts, aber das brüchige Mauerwerk gab immer mehr unter ihm nach. Große Mauerbrocken stürzten hinab und der nachrieselnde Sand verhinderten, daß Caleb Halt fand. Panikartig versuchte er noch, zurückzuschnellen, doch es war zu spät er stürzte den Schacht hinab und schlug hart aufs Wasser auf.

Prustend und spuckend, versuchte er sich aus dem Wasser zu ziehen, doch die Mauern rings um boten keinen Halt. Schließlich konnte er sich auf einige, aufeinandergetürmte Steine retten. Als er nach oben blickte, konnte er schwarzroten Himmel als eine fahle Scheibe in absoluter Finsternis ausmachen. Es drang von oben nur wenig Licht, bis auf den Grund der Zisterne, aber als seine Augen sich nach ein paar Minuten an die völlige Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er, daß die sie nicht so absolut war, wie es zunächst den Anschein hatte. Das Wasser spiegelte ölig die schwachen Reflektionen eines Lichtscheines wider. Als er die Wände der Zisterne absuchte, fand er schließlich heraus, daß die Steine, auf denen er saß, herausgebrochen worden waren, als man einen Schacht zu dieser Zisterne legte und das aus diesem Schacht, der hinter seinem Rücken lag, das Licht drang. Er hatte den Schacht nicht bemerkt, als er sich aus dem Wasser zog, doch nun, als seine Augen sich an die Dunkelheit angepaßt hatten, ärgerte ihn, daß er diese Entdeckung nicht schon früher gemacht hatte.
Das Licht schien keine bestimmte Quelle zu haben; vielmehr hatte es den Anschein, als würde das Gestein, das teilweise glasartig anmutete, selbst die Ursache dafür sein. Ein milchiges Schimmern erfüllte den Schacht, war aber dennoch zu schwach, um in der Ferne mehr zu erzeugen, als wage Schemen.
Der Schacht führte ihn durch zahlreiche Windungen, durch steil abfallende oder aufsteigende Passagen und durch Felsspalten, durch die er sich nur mit Mühe und Not hindurchzwingen konnte.
Nach einer dieser Spalten erstreckte sich ein gewaltiges Gewölbe vor ihm. Wände und Decke lagen in Finsternis, so daß er keine genauen Anhaltspunkte hatte, wie groß das Gewölbe war; eines stand aber fest: es war riesig.
Den Boden bedecken Haufen von etwas, was er zuerst für Geröll gehalten hatte, doch als er genauer hinsah, erkannte er mit Schrecken, daß es sich dabei um Berge von Knochen handelte.
Die Knochen waren teilweise meterhoch aufgetürmt und befanden sich in unterschiedlichsten Stadien der Verwesung. An manchen hingen noch die ausgetrockneten Fetzen des Fleisches, das sie einst umhüllte, andere waren gebleicht durch die ungezählten Jahre und zerfielen unter seinen Fingern, als wären sie aus Asche. Es schien außerdem so, daß unter all den Tausenden von Gebeinen nicht ein einziges darunter war, daß nicht mißgebildet war. Er fand Schädel, die auf dem ersten Blick nichts menschliches an sich hatten; deren Augenhöhlen dermaßen erweitert waren, so daß sie den Platz der Wangenknochen einnahmen. Andere besaßen überhaupt keine Augen, oder Nase und Mund waren so grotesk verschoben, daß sie ihre natürliche Funktion nicht hätten ausführen können. Er sah zu Klauen mutierte Finger an der einen Hand, während die andere an einem winzig verkümmerten Arm hing. Überzählige Körperteile, monströse Wülste und Wucherungen, Schädel, deren Hälften niemals zusammengewachsen waren, grotesk ineinanderverwachsene Rippenbögen - all dies; in tausendfacher Ausführung lag hier unten und legte stumm Zeugnis ab, von der Katastrophe, die diese Stadt anscheinend heimgesucht hatte.
Ihre Bewohner hatten anscheinend ihre mißgebildeten Nachkommen in die Zisterne geworfen - die Praxis war durchaus üblich; Vielleicht ging das Jahrhunderte lang, was gut möglich war, wenn man die Menge an Skeletten bedachte. Caleb schauderte, als er daran dachte, in dem Wasser geschwommen zu sein, in dem auch diese Mißbildungen schwammen. Blutige, grausam entstellte Säuglinge, die Nabelschnur noch an ihnen hängend, ertranken hier und sanken schließlich faulend auf den Grund. Vielleicht hatten ein paar von ihnen überlebt; hatten sich vom Fleisch derer ernährt, die nicht so zäh waren, wie sie selbst; waren gewachsen. Bis schließlich einer einen Weg aus der Grube heraus fand; die Mauersteine lockerte, bis sie schließlich herausbrachen und sich dann hierher schleppte, nur, um ein elendes Leben führen zu können, ohne jemals wieder den Himmel zu sehen.
Vielleicht hatte sich im Laufe der Jahre sogar eine art Kult entwickelt; vielleicht hatten die Bewohner der Stadt ihren ungewollten Söhnen und Töchtern Opfer in Form von Lebensmitteln dargebracht - vielleicht wurden auch Verbrecher in diese Grube geworfen.
Wie aber die Stadt schließlich verlassen wurde, konnte Caleb nicht sagen. Hatten die Mißbildungen immer mehr zugenommen; so daß die Stadt langsam ausstarb? Das mochte erklären, warum die Stadt langsam ausstarb; die Leute verließen die Stadt nur nach und nach. Bis die letzten Bewohner schließlich die Stadt aufgaben und ihr verdrängtes Erbe unter der Erde verhungern ließ.

Mißmutig kletterte er auf den Gebeinenhügeln herum. Vielleicht würde es ihm genauso ergehen wie den Toten; schließlich waren die Chancen denkbar schlecht, daß er hier noch einen Ausweg finden würde. Wie viele vor ihm waren schon, ohne jede Hoffnung, in diesem Gewölbe umhergestreift; hatten nach irgendeinem Anzeichen eines Augsangs gesucht - alles Vergebens. Sie waren die Kinder des Grabes. Nur geboren, um schließlich hier in der Finsternis zu sterben; ein kurzes, elendes Leben führend; sich von faulendem Leichenfleisch ernährend.
Lange irrte er durch diese Leichenschwärze, bis sich ihm ein groteskes Bild bot, daß ihn, trotz all dem Schrecken, den er erlebt hatte, der Atem stockte.
Vor ihm, dicht zusammengedrängt vor einer schmalen, Rettung versprechenden Felsspalte, lagen, verzweifelt zusammengekauert die Überreste derer die als letztes dieses bizarre Drama noch erlebten. Mit allem, was sie fanden, mit Oberschenkelknochen, mit massigen Schädeln, die sie gegen die Felsen schlugen, bis sie zerbrachen, hatten sie versucht, die Spalte zu erweitern. Vergebens. Dabei war das Gestein, wie Caleb feststellte, gar nicht so massiv. Keine zehn Zentimeter betrug seine Dicke an dieser Stelle. Um so trauriger fand er die vergeblichen Bemühungen, derer, die bis zum letzten Atemzug versucht hatten, sich hier herauszugraben.
Das sie keine Chance hatten, war klar, wenn man ihr Werkzeug betrachtete. Sie hatten nur Knochen, um sich durch das Gestein zu arbeiten. Ein Material, das viel zu weich war, um das Vorhaben realistisch erscheinen zu lassen. Einige hatten es mit bloßen Händen versucht. Ihre Fingerknochen waren stumme Zeugen dieser Verzweiflung; sie waren abgeschabt bis zum Gelenk. Sie mußten es bis zuletzt versucht haben; wahnsinnig vor Hunger hatten sie immer und immer wieder gegen den Felsen geschlagen, bis sie tot vor Erschöpfung und Hunger zusammenbrachen.
Geeignetes Werkzeug hatte Caleb zwar auch keines. Aber dafür eine nicht zu unterschätzende Menge an großkalibriger Munition.
Sorgfältig trocknete er die Patronen, um das Pulver nicht unbrauchbar zu machen, öffnete sorgfältig einige davon und füllte das Pulver in eine Hirnschale, die er in der Nähe fand. Als ihm die Pulvermenge ausreichend erschien, suchte er nach einer geeigneten Stelle im Felsen. Und auch da hatte er Glück: etwas von der schmalen Spalte entfernt hatte sich ein Riß gebildet.
Der Riß war vielleicht zusammen mit der Spalte während eines leichten Erdbebens, oder eines nachrutschen des Gesteins entstanden, was auch die Tatsache erklären würde, daß nicht schon vorher jemand es versucht hatte, sondern erst die letzten, die hier hinunter kamen. Es muß eine perverse Folter gewesen sein, voller Hoffnung zu sehen, wie sich dieser Spalt bildet, um dann elendig davor zu verhungern.
Caleb stopfte das Pulver sorgsam in den Spalt, ging einige Meter zurück, um nicht von herumfliegenden Splittern verletzt zu werden, legte an und feuerte. Bereits der erste Schuß war ein Treffer und brachte das Pulver zur Explosion. Der Knall, kanalisiert vom massiven Fels, schmerzte in seinen Ohren und hallte lange im ganzen Gewölbe nach. Steine und kleinere Felsbrocken rieselten in der Nähe von der Decke, doch das interessierte Caleb nicht. Ihn interessierte viel mehr, die Öffnung, die er geschaffen hatte, und die groß genug war, um hindurchzugelangen.

Er kam gut voran. Jenseits der Felsspalte verlief ein Gang, der sowohl ausreichende Breite hatte, um bequem durchquert zu werden, als auch ohne größere Höhenunterschiede auskam. Wie zuvor bestanden die Höhlenwände aus dem milchigen, glasartigen Gestein, das im Dunkeln zu fluoreszieren schien. Ihm schien nach einer Weile, als gäbe es einen leichten Luftzug, was auf einen nahen Ausgang hindeuten könnte. Er sammelte etwas von dem feinen Staub auf, mit dem der Boden teilweise bedeckt war und ließ ihn zwischen den Fingern zerrieseln. Und tatsächlich; ein schwacher Wind bewegte den Staub und bestätigte seine Vermutung.
Die Höhle wies keine Spur auf, daß vor ihm schon jemand da war, was Caleb ganz beruhigend fand. Er hatte fürs erste genug erlebt. Er wollte nur noch den Himmel sehen, auch wenn dieser ewig düster und wolkenverhangen war.
Nach ein weiteren Stunden Wanderung durch die Höhle erreichte er schließlich müde die Oberfläche. Er hatte nur wenig Sinn für die Landschaft, die nun vor ihm lag, er hatte genug; brauchte Schlaf. Der Ausgang der Höhle lag ein ganzes Stück über einem Wald, dessen Bäume in ihrem Aussehen und ihrer grauen Farbe ihn stark an Gebeine erinnerten. Er verdrängte den Gedanken und machte sich an den Abstieg.
Unten angekommen, bemerkte er erst, wie groß die Bäume waren. Sie wirkten in Bodennähe wie titanische Säulen und der Blick zu ihren Kronen weckte Gedanken an eine riesige Kathedrale, deren imposante Kuppel auf monolithischen Säulen zu ruhen schien.
Die Stämme der Bäume waren sehr glatt, fühlten sich fast wie Gestein an; Caleb bezweifelte, daß diese Bäume noch am Leben waren. Wahrscheinlich waren sie schon vor langer Zeit versteinert; und standen dabei immer noch so, wie zu ihren Lebzeiten.
Ihm gefiel es hier nicht. Die Gegend war unübersichtlich und bot sich regelrecht für einen Hinterhalt an. So versuchte er, so schnell, wie es auf diesem, von Wurzeln durchzogenen, steinharten Boden ging, aus diesem Wald herauszukommen. Das war nicht einfach. Die Wurzeln schlängelten sich wie erstarrte Lava auf dem buckeligen Waldboden und bildeten oftmals Stolperfallen, die man erst entdeckte, wenn es schon fast zu spät war.
Caleb mühte sich ab, so gut es ging, als er das untrügliche Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Alle Müdigkeit fiel von ihm ab; er hatte sich immer auf seinen Instinkt verlassen können und war dementsprechend alarmiert. Er verlangsamte sein Tempo, schlich fast durch das steinerne Wurzelgeflecht, und lauschte.
Tatsächlich konnte etwas hören. Ein schweres Geräusch, ab und zu untermalt vom trockenen Geräusch brechendem Gesteines.
Irgend etwas Großes bewegte sich durch den Wald. Caleb blickte in die Richtung des Geräusches, die mächtigen Baumstämme machten es jedoch schwer, weit zu sehen, so daß er nicht genau sagen konnte, wo und wie weit von ihm entfernt es war.
Caleb hatte zwei Hoffnungen. Erstens, daß es ihn nicht bemerken und weiterziehen würde und zweitens, das, wenn es zu einer Konfrontation kam, seine Revolver die Sache für ihn entscheiden würden.
Nun hörte er es auch nicht mehr. Vielleicht lauschte es jetzt auch? Nein, denn er hörte jetzt ein schnupperndes Geräusch und dann sah er es mit schweren Schritten zwischen den Bäumen herumstreichen.
Es war eindeutig ein Raubtier. Und ein ziemlich großes. Er konnte auf diese Entfernung nur schätzen, doch seine Schulterhöhe betrug mindestens anderthalb Meter. Es ging auf zwei Beinen; den Schwanz geradeaus gestreckt, um ein Gegengewicht zum massigen Rumpf zu bilden. Die Bestie war offenbar mit einem schweren, panzerartigem Außenskelett bedeckt, denn er konnte schwache Lichtreflexe auf Rumpf und Gliedern ausmachen. Es hatte sichelförmige Klauen, die an langen Armen herabhingen, aber sie waren wohl nur seine sekundäre Waffe, denn sein massiger Schädel, der sich nicht horizontal, sondern vertikal öffnete, war gespickt mit langen Zähnen, die kantig und unregelmäßig waren, wie Glasscherben. Caleb war fasziniert von diesem schaurigem Anblick; von diesen monströsen Kiefern die dazu geschaffen waren, ihre Beute unerbittlich festzuhalten oder sie wenigstens so schwer zu verletzen, daß sie nicht mehr fliehen konnte.
Er wähnte sich schon fast in Sicherheit, als es plötzlich den Kopf herumriß, seine kleinen, roten Augen auf ihn richtete und direkt auf ihn zuhielt.

Es bewegte sich schweren Schrittes. Mit kraftvollen, wippenden Bewegungen. Die dicken Platten seines Außenskeletts schimmerten je nach Lichteinfall; wirkten wie mit schmutzigem Öl poliert. Das Tier hätte wahrscheinlich schneller laufen können, doch der unebene Untergrund war tückisch und offenbar wollte es einen Sturz vermeiden. Caleb erkannte darin seine Chance. Vielleicht gelang es ihm, die Bestie abzuhängen; aber er mußte vorsichtig sein. Es spekulierte bestimmt drauf, daß seine Beute auf der Flucht vor ihm stürzte. Und diesen Fehler wollte er nicht begehen.
Caleb machte lange, behende Sätze über das Geflecht, sich immer wieder nach dem grotesken Biest umdrehend. Es hatte ebenfalls sein Tempo erhöht. Kleine Staubwölkchen stieben dort auf, wo das Gestein unter dem Gewicht seiner klauenbewehrten Hinterbeine zerbrach. Caleb versuchte, so viele Baumstämme wie möglich zwischen sich und dem Biest zu bringen, um so außer Sicht zu geraten, was auch ganz gut zu funktionieren schien, bis er vor sich eine weitere, massige, matt glänzende Gestalt ausmachen konnte.
Als er das zweite Exemplar vor sich sah, wäre er vor Schreck fast von dem betongrauen, glatten Wurzelbogen, auf dem er stand, gerutscht. Er ruderte mit den Armen, verlagerte sein Gewicht und konnte einen Sturz vermeiden gerade noch.
Er drehte sich um. Sein Verfolger kam näher. Der zahnbewehrte Kiefer, dessen Anblick Caleb an ein Tellereisen erinnerte, öffnete und schloß sich langsam. Dünne Speichelfäden zogen sich zwischen den Zähnen und erinnerten Caleb an etwas, was er vor einiger Zeit einmal gehört hatte; daß manche Raubtiere ihre Beute durch einen einzigen Biß, der giftigen Speichel in die Wunde brachte, tötete. Ein qualvoller Tod für das Opfer: Es kann zwar entkommen, stirbt aber, vom Fieber gequält, Tage später an der Vergiftung.
Er zog seinen Revolver. Schätzte seine Chancen ab und versuchte Abstand zwischen sich und den Bestien zu legen. Sie erkannten seine Absicht und beschleunigten ihrerseits ihre Schritte.
Caleb feuerte zwei Schüsse auf seinen nächsten Verfolger ab. Trümmer des Außenpanzers stieben auf, als das Monstrum von den großkalibrigen Kugeln am Schädel getroffen wurde. Es brüllte - ein schauriges, metallisches Heulen; vielleicht vor Schmerz, vielleicht aber auch vor Überraschung. Es verlangsamte seinen Schritt, schüttelte seinen mächtigen, kantigen Schädel; Blut - oder was die bläuliche, klare Flüssigkeit sonst war - floß aus einer Wunde am Kiefer.
Caleb wartete keine weitere Reaktion ab und floh weiter durch den Wald.
Das Brüllen hatte offenbar weitere Tiere seiner Spezies angezogen, denn nach einiger Zeit stimmten, von überall her tönend, andere Tiere mit ein. Das Brüllen klang beunruhigend nahe.
Er rannte immer schneller; sprang weite, gefährliche Sätze; sein ganzes Geschick aufwendend, um nicht auszurutschen und zu stürzen. Einige Meter vor ihm brach eine der Bestien aus dem versteinerten Unterholz; das Gestein zerstieb mit dem Klang zerbrechender Keramik, messerscharfe Kanten fuhren über das Außenskelett des Tieres, das sich jedoch, ohne davon auch nur Notiz zu nehmen, hindurchbewegte. Caleb feuerte einige wohlgezielte Schüsse auf den Kopf des Tieres ab. Eine bläulich-glänzende Fontäne sprühte auf, als ein Schuß direkt ins feuerrote Auge der Bestie drang. Mag das erste Brüllen, das er gehört hatte eher ein Warnruf gewesen sein, dieses war ein purer Schmerzensschrei. Das schrille Heulen des Tieres, das durch den Wald hallte, schien von den Bäumen reflektiert und verstärkt zurückgeworfen zu werden, während das Tier selbst in rasender Wut um sich schlug, den gepanzerten Schädel gegen die Baumstämme warf, daß Trümmer flogen und blind ins Leere schnappte.
Hatte er auch eines ausgeschaltet, machte es doch soviel Lärm, daß die anderen nun mit scheinbar doppeltem Eifer hinter ihm her waren. Etwa ein halbes Dutzend dieser Tiere bildeten nun sein Verfolgerfeld. Darunter erkannte er auch das Exemplar, das er am Kiefer verletzt hatte. Es bewegte sich geduckter als die anderen und schloß auch nicht so schnell auf Caleb auf, wie die anderen.
In einer Richtung glaubte Caleb zu erkennen, daß der Wald lichter wurde, auch wenn das Zwielicht trügerisch war. Mochte es auch ein Fehler sein, überlegte sich Caleb, so war ihm doch lieber, auf offenem Feld zu sterben, als irgendwo in diesem versteinerten Wald zu stürzen und sich die Knochen zu brechen.
Dem einen Tier war offensichtlich genau das passiert. Caleb war gerade dabei, sich umzudrehen, als er sah, daß es offensichtlich hingefallen sein mußte und sich dabei sein rechtes Bein zertrümmert hatte. Es hatte sich wieder hochgekämpft, doch es mußte sich mit den Vorderbeinen abstützen. Die langen, klauenbewehrten Arme waren offensichtlich nicht gut dazu geeignet, denn es kippte immer wieder auf sein zerschmettertes Bein, wobei es vor Schmerzen schrie.
Caleb konnte sich die Zeit nehmen, das Schauspiel, das sich nun bot, zu verfolgen. Die Artgenossen der waidwunden Bestie hatten ihr Tempo verlangsamt und betrachteten das Geschehen offenbar ebenso interessiert wie Caleb.
Einer der Verfolger riß aus der Gruppe aus und näherte sich dem taumelnden Monstrum. Der Verletzte nahm das andere Tier offenbar gar nicht wahr, sondern versuchte noch immer, verzweifelt auf die Beine zu gelangen. Sein Artgenosse beendete dessen vergebliche Bemühungen, indem er sich ihm schräg von hinten näherte und schließlich seine furchterregenden Hauer in den Nacken des anderen schlug. Der glänzende, mehrgliedrige Panzer brach mit dem lauten Krachen eines gefällten Baumes. Ein paar mal bewegte der Angreifer seinen Kopf ruckartig auf und ab; biß noch ein, zweimal nach und sein Opfer bewegte sich nicht mehr. Die anderen Tiere, die das Schauspiel mit angesehen hatten bewegten sich nun ebenfalls auf die zwei zu. Der Angreifer hatte noch nicht ganz den seitlichen Panzer aufgebissen, als man ihm bereits die Beute streitig machte.
Für Caleb gab es hier nicht mehr zu sehen. Er machte sich in die Richtung auf, in der er den Waldrand vermutete. Zügig, aber nicht zu schnell; und sich immer wieder umblickend.

Der eingeschlagene Weg führte ihn tatsächlich zum Waldrand. Eine weite, leicht geschwungene Ebene erstreckte sich unter dem trüben Herbsthimmel, besprenkelt mit vertrockneten Gräsern, ab und zu aufgelockert von den verdorrten, schief in den Himmel ragenden Überresten eines Baumes, der sich scharf von übrigen, düsteren Landschaft abzeichnete. In weiter Ferne rahmte ein Gebirge die Szenerie ein, doch Calebs Aufmerksamkeit war nicht auf die Ferne gerichtet, sondern auf ein, etwa eine halbe Meile entferntes Objekt.
Es sah in dem Zwielicht so aus, als wäre es von Menschenhand geschaffen worden. Ein fensterloser, niedriger Bau, dessen Dach in einer Richtung flach abfiel und im staubigen Boden endete. Das Gebäude wirkte wie ein Bunker und nach einigen Metern entdeckte er sogar eine massiv aussehende Metalltür, die seine Vermutung bestätigte.
Er hatte etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er unvermittelt schwere Schritte hinter sich wahrnahm. Caleb erkannte die Schritte, doch diesmal folgten rascher aufeinander, als zuvor. Als er zum Wald zurück blickte, wurde sein Verdacht bestätigt: Eines der Tiere hatte sich aus der Gruppe gelöst und zog es vor, seine Beute zu jagen. Es bewegte sich bedeutend schneller als zuvor im Wald und würde ihn schnell eingeholt haben. Caleb überlegte nicht lange und rannte los. Die Aussichten das Tier zu treffen, waren vielleicht gar nicht so schlecht, aber er hatte ja gesehen, wie viel die Biester aushalten können.
Caleb rannte, wie selten zuvor in seinem Leben. Aber nach all den Anstrengungen an diesem Tag machte sich aber seine Müdigkeit wieder bemerkbar. Nach einiger Zeit schien es ihm, als würden seine Arme und Beine immer schwerer werden, während gleichzeitig sein Willen immer schwächer wurde.
Wenn es wirklich ein Bunker war, dachte er sich, war er bestimmt verschlossen; würde seine Flucht sinnlos sein. Sie würde nur seinen Tod unnötig hinauszögern...
Er zwang sich, den Gedanken zu verdrängen. Statt dessen dachte er an die Glasscherbenartigen Hauer des Monstrums; an das Gift, das Fäden zwischen seinen Kiefern zog, und an das trockene Geräusch, als es den Nacken seines Artgenossen durchgebissen hatte.
Seine Beine brannten wie Feuer; ebenso seine Lungen. Er schien kaum genug Sauerstoff aufnehmen zu können. Er hörte sich keuchen; ein atemloses, trockenes Geräusch, das nach Überbelastung klang.
Aber er wußte, er würde es schaffen. Der Abstand zwischen ihm und dem Bunker schwand immer mehr. Die graue Stahltür wuchs und wuchs...
Er warf sich gegen die Tür, doch sie gab keinen Millimeter nach. Er schrie auf; in seinen Ohren klang es wie das Heuelen, das er zuvor im Wald gehört hatte; trommelte gegen die Metalltür; schlug schließlich mit den Fäusten darauf ein - vergebens.
Hinter sich hörte er das Biest näherkommen. Er preßte seinen Rücken gegen die Tür und, sich aufs Schlimmste vorbereitend, griff er nach seinen Revolvern. Das Tier war schon sehr nahe, nur noch Sekunden von ihm entfernt, rannte es in vollem Lauf auf ihn zu.
Er hörte ein seltsames Piepen hinter sich, gerade als er seine Revolver gezogen hatte und abdrücken wollte. Das Tier war schon so nahe, daß es die Kiefer wie zwei gefaltete Hände aufriß und er in ein, von weißen Klippen umrandetes schwarzes Loch blickte.
Die Stahltür öffnete sich keinen Moment zu früh. Ihre massiven Hälften glitten mit einem kraftvollem Zischen an einer fast nicht wahrnehmbaren Fuge auseinander. Den fehlenden Widerstand in seinem Rücken spürend, ließ er sich rückwärts in die offene Tür fallen, während nur wenige Zentimeter von ihm entfernt die gräßlichen Kiefer zusammenklappten. Caleb kroch rückwärts von dem Tier weg, hoffend; betend, daß die Tür sich rechtzeitig schloß - doch das tat sie nicht. Das Tier streckte seinen Schädel zur Tür hinein, ging einen - der ungewohnten Umgebung angemessenen - zaghaften Schritt nach vorne. Die Tür schloß sich hinter dem Schädel mit einer Gnadenlosigkeit, wie sie nur Maschinen besitzen. Das Brechen des Nackenskeletts wurde diesmal von dem wuchtigen Knall zweier aufeinanderprallender Stahlplatten übertönt. Der Schädel, im Moment zuvor noch drohend über den auf dem Rücken liegenden Caleb schwebend, knallte schwer vor seine Füße.
Als er Atem geschöpft hatte, nutzte er die Gelegenheit, den Schädel näher zu untersuchen. Er war völlig gepanzert; die Kiefer so groß daß ein Menschenkopf hineinpaßte. Das schwarze, matt glänzende Außenskelett erinnerte ihn an ein Insekt, auch wenn dieses Monstrum eine völlig andere Dimension dessen darstelle. Ebenso die Form; eine Mischung aus Kanten und fließenden Linien, wie sie nur die Natur zustandebrachte. Er vermied, das tote Biest zu berühren, sondern stieß nur leicht mit der Spitze seines Stiefels dagegen.
Er versuchte sich an der Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Egal, was für eine Mechanik die Tür bewegte, nun ist sie ausgeschaltet. Erst jetzt, nachdem er wieder etwas zur Ruhe gekommen war, begann er, sich im Raum umzusehen. Der Raum war hell gestrichen. Für die Beleuchtung sorgten in die Decke eingelassene Leuchtstäbe. Ein besseres Wort hatte Caleb dafür nicht. Er hatte so etwas noch nie gesehen und war fasziniert davon, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wie die Stäbe funktionierten. Eine blaue Linie, auf der in einer fremden Sprache etwas geschrieben stand, führte etwa in Brusthöhe zum anderen Ende des Raumes, wo eine Treppe nach unten in Dunkelheit führte. Als er sich Schritt für Schritt die Stufen hinabtastete, erleuchtete sich der Raum vor ihm wie von selbst, während in dem hinter ihm die Leuchtstäbe erloschen. Die Umrisse eines Korridors schälten sich flackernd vor ihm aus der Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis alle der Leuchtstäbe brannten, manche flackerten eine ganze Weile, bevor auch sie angingen; wohl ein Tribut an ihr hohes Alter.
Er folgte der blauen Linie bis zum Ende des Korridors und entdeckte etwas, das Caleb entfernt bekannt vorkam, aber dessen Zustand war wohl schuld daran, daß er es nicht sofort erkannte. Es war ein Schienenfahrzeug. Er hatte dergleichen schon mehrmals gesehen - als verrostete, halb verfallene Gerippe - aber dieses hier sah aus wie am ersten Tag: Makellos sauber, ohne Kratzer, ohne Rost sah es aus, als könnte es jeden Moment zu seinem geheimnisvollen Ziel aufbrechen.
Das Ganze mutete ihm an wie eine gestellte Falle. Caleb zögerte, aber er wußte gleichzeitig, daß ihm eigentlich keine Wahl blieb. Sein Leben war zwar vorerst außer Gefahr, aber sein Instinkt warnte ihn; die Falle war zu offensichtlich.
Caleb dachte über seine Optionen nach - er hatte keine. Er konnte hier bleiben und abwarten, bis sein Proviant aufgebraucht war und dann elend verhungern, oder dieses Fahrzeug betreten, was schlimmstenfalls ebenfalls seinen Tod bedeuten würde.
Er entschied sich, das Unvermeidliche wenigstens schnell hinter sich zu bringen und stieg ein.

Das Innere des Fahrzeugs hielt, was der erste Eindruck versprach. Auch die Tür, die vor ihm aufglitt, um ihn hineinzulassen und sich hinter ihm sofort wieder schloß um sich nicht mehr öffnen zu lassen, überraschte ihn nicht. Er setzte sich auf einem der weichen Ledersitze und machte es sich bequem. Warum auch nicht? dachte er sich, es gibt absolut nichts, was du tun könntest, also entspanne dich und warte ab, was passiert. Das Fahrzeug setzte sich nach einigen Momenten in Bewegung. Ein tiefes Summen, das rasch höher wurde, erklang, als es seine Geschwindigkeit erhöhte. Anders als bei Pferdefuhrwerken, wo deren die Passagiere immer heftig durchgeschüttelt wurden, spürte Caleb nicht die geringste Erschütterung. Nach einer Weile kam es ihm fast vor, als würde die Kabine stehen, wenn nicht das Summen und leichtes Vibrieren an den Wänden das Gegenteil bezeugten. Ihm fiel eine seltsame Tafel auf, die am vorderen Ende der Kabine aufleuchtete. Zuerst zeigte sie ein dichtes, Spinnennetzartiges Wirrwarr aus Linien. Am Ende einer dieser Linien war ein blinkender Punkt zu erkennen. Der blinkende Punkt vergrößerte sich zusammen mit der Linie, nach wenigen Sekunden und nahm schließlich die Tafel komplett ein. Mehrere Reihen von Symbolen am unteren Rand der Tafel wechselten rasch. Vermutlich erhielten sie, genauso wie der blinkende Punkt, Informationen über das Fahrziel. Nach einer Weile schwand seine Aufmerksamkeit für die Darstellungen und er inspizierte die Kabine, in der er sich befand, etwas genauer. Das Innere ähnelte einer Röhre; die Wände - nahezu steril weiß gestrichen - waren fensterlos und einige Linien und unverständliche Schriftzüge, die an ihnen angebracht waren lockerten den aggressiv weißen Anstrich etwas auf. Die Sitze waren dazu passend mit luxuriösem, weißen Leder überzogen. Das innere wirkte auf Caleb sehr zwiespältig: strenge, zweckmäßige Formen auf der einen und Bequemlichkeit auf der anderen Seite. Die Fahrgäste sollten sich offensichtlich wohl fühlen, inmitten ihrer Technik. Es mutete an wie ein Relikt aus einer anderen, besseren Welt. In dieser Welt gab es keinen Platz für freundliche, luxuriöse Räume. Die Not hatte den Menschen Sparsamkeit gelehrt. Schönheit war nur zweitrangig. Keinen Platz für Spielereien. Das ganze Fahrzeug wirkte irreal, wie die naive Vision der, für immer verlorenen besseren Welt, der sie immer noch nachtrauerten.
Angenehme Müdigkeit umfing Caleb, der seine Beine ausstreckte, seinen Hut - er war ein wenig überrascht, daß er ihn nach all den Strapazen noch besaß - tief ins Gesicht zog und sich völlig der Ruhe hingab, bis er eingeschlafen war.

Eiseskälte weckte ihn. Das Fahrzeug war zum stehen gekommen, während er schlief und danach hatte sich offenbar automatisch die Kabinentür geöffnet. Er konnte einen gläsernen Tunnel erkennen, der vom Fahrzeug weg durch eine schneesturmgepeitschte Landschaft führte. Die großen, gebogenen Glasflächen der Röhre waren gesprungen und eisiger Wind toste durch die großen, scharf gezackten Löcher.
Er verließ die Kabine und betrachtete das Panorama, daß sich ihm bot. Eine trostlose, tote Landschaft; bis zum Horizont nur aus Schnee und Eis zu bestehen scheinend. Heftige Sturmböen peitschten über das gepeinigte Land und trugen Wolken aus Eiskristallen mit sich, die spröde über das Glas der Röhre kratzten und beißende Kälte mit sich brachten.
Wie weit mochte er gereist sein, als er schlief? Die Landschaft mutete wie die eines fremden Planeten an; wie ein formloses, weißes Nichts. Ohne irgendwelche Spuren von Leben. Und auch der Himmel war anders: stahlgrau erstreckte er sich; kaum aufgelockert durch ein paar wenige hellere Flecken, von Horizont zu Horizont.
Caleb beeilte sich, das Ende der Röhre zu erreichten, denn die Kälte brannte auf seiner Haut und ließ ihn bis auf die Knochen erschaudern. Der Wind schnitt in seine Augen, bis sie tränten und er sie mit der Hand abschirmen mußte. Die Kälte raubte ihm die Energie; ließ seine Gelenke bei jeder Bewegung schmerzen. Nach endlosen Minuten; durchgefroren und am ganzen Körper zitternd, erreichte er schließlich eine Tür, die das Ende der Röhre darstellte.

Wie auch zuvor öffnete sich diese Tür selbstständig - und wie zuvor hatte er drinnen keine Möglichkeit mehr, sie zu öffnen. Es erwartete ihn Dunkelheit hinter der Tür. Zwar war es drinnen nicht so kalt, wie draußen in der zugigen Röhre, aber dennoch wirkte der Ort feindlich und abweisend auf Caleb. Ein finsterer Korridor zog sich, in der Finsternis verschwindend durch die Eingeweide einer riesigen Maschine. Ein seltsames, kaltes Licht drang schwach von tief unter ihm kommend durch das Bodengitter und tauchte alles in verfremdende, unwirkliche Farben. Dem Drang weiterzugehen nicht wiederstehen könnend und obwohl ihn die Szenerie mit namenloser Furcht erfüllte, wagte sich Caleb Schritt für Schritt weiter in diesen Korridor vor. Überall um ihn herum verliefen Rohrleitungen und Kabel. Dicht nebeneinander gedrängt bildeten sie Wände und Decke des Korridors und schienen endlos durch die Finsternis vor ihm zu führen. Alles wirkte fremdartig und irreal und wäre das metallische Geräusch seiner Stiefel auf dem Gitterboden nicht gewesen, Caleb hätte nicht sagen können, ob er wach war, oder sich in einem bizarren Alptraum verlaufen hatte.
Schreie schlichen sich an sein Ohr. Erst leise; fast verstohlen, doch mit jedem Schritt an Intensität zunehmend. Dazu drängten sich Schatten von Bildern vor seine Augen; undeutlich und wage, aber ebenso schleichend manifestierend wie die Schreie. Die Bilder verwirrten Caleb; er konnte nicht sagen, was sie oder die Schreie zu bedeuten hatten, dafür waren sie zu flüchtig. Etwas düsteres schwang mit ihnen, als ob sich jenseits von ihnen Abgründe verbargen, für die allein Bilder und der Geräusche nicht ausreichten. Je weiter er in die labyrinthartige Struktur vordrang, um so lauter und eindringlicher wurden die Schreie, die durch den Korridor hallten, und ein Schauer jagte ihn den Rücken hinab. Es waren grauenerregende, schrille Schreie des Schmerzes und der Verzweiflung; Schreie der Hoffnungslosigkeit; heißere, sich überschlagende Schreie, einer gequälten Kreatur. Schreie, wie er sie noch nie ein menschliches Wesen vernommen hatte. Die Bilder drängten sich immer stärker vor sein geistiges Auge und schienen sich immer mehr in ungeahnte Bilder des Schreckens zu verwandeln. Es schien, als würden die Bilder, gedankenähnliche, groteske Metaphern, die Realität verdrängen wollen: Kaltes Metall, daß sich in junges, unschuldiges Fleisch bohrte; es verstümmelt und beherrscht; das Gefühl furchtbarer, nicht endender Qualen in den kalten Eingeweiden jener riesigen Maschine. Der Schmerz und der Wahnsinn ewiger Gefangenschaft; ohne Hoffnung auf Erlösung.
Weder durch Freiheit, noch durch einen gnädigen Tod.
Caleb würgte und krümmte sich vor Entsetzen, als er diese brutalen, irrsinnigen Bilder (oder waren es Gedanken?) des Grauens empfing. Fassungslos und geschockt wollte er und diesem Ort des Horrors den Rücken kehren, doch er konnte es nicht. Er mußte immer weiter. Etwas schien ihn zu rufen; ja ihn sogar regelrecht anzuziehen, wie eine starke Strömung. Etwas, das Erlösung wollte. Etwas, das unermeßliche Qualen durchzustehen hatte. Etwas, daß vor Schmerz und Panik längst die Erinnerung an seine Vergangenheit vergessen hatte. Eine gemarterte, verstümmelte Kreatur, die irgendwo in dieser irrsinnigen Maschine, wahnsinnig vor Angst und Pein, Höllenqualen erleiden mußte wie sie sich kein menschliches Wesen vorzustellen vermochte.
Die Schreie, welche immer deutlicher einen scheppernden, metallischen Klang gewannen, als würden sie von der Maschine selbst, stammen, wurden immer lauter und - wie es Caleb schien - immer verzweifelter. Dies waren keine gewöhnlichen Schreie, ob lebendig oder nicht; ihm war, als würden sie sein Nervensystem angreifen; als würde jede Faser seines Körpers in selbstzerstörerischer Resonanz schwingen. Die Flut an Bildern und Gedanken wuchs immer mehr an; wurde immer wilder und ungezügelter, bis sie sich zu ein wirbelndes Kaleidoskop der Gewalt und des Friedens, der Angst und der Geborgenheit, des Schmerzes und der Wonne verwandelte. Längst vergessen schienende Erinnerungen der gepeinigten Seele mischten sich mit Bildern namenlosen Horrors, drangen in seinen Geist ein und überfluteten ihn in ihrer Raserei: Emotionen und Gedanken eines längst vergessenen, friedvollen Lebens voller Hoffnung, verschüttet unter all der Qual und dem Schmerz; nur bruchstückhaft und verzerrt an die Oberfläche dringend - Eine gräßliche Kakophonie aus unvorstellbarem Schrecken und unschuldiger Heiterkeit zugleich, welche Caleb an den Rande des Wahnsinns trieb. Als er weiterzugehen versuchte, schien sich alles zu drehen und zu verschwimmen. Er taumelte; stürzte. Furchtbare Schmerzen malträtierten seinen Kopf und es schien ihm, als würde sein Körper der unaufhaltsamen Sturmflut aus Emotionen und Schreckensbildern dieser gefolterten Seele nicht länger gewachsen sein; daß sein Schädel sich unter dem Druck spalten würde.
Der gräßliche Strom ebbte abrupt ab, bevor Caleb sein Bewußtsein verlieren konnte. Als hätte jene Intelligenz, die sie ausgesandt hatte, erkannt, daß sie ihm Schmerzen bereiten, ja verletzen, konnte. Er fand auf die Beine und hielt sich seinen immer noch schmerzenden Kopf. Ein dünnes Rinnsal Blut tropfte aus seinen Ohr und floß seine Finger, die erfolglos versucht hatten, die Schreie von seinen Ohren abzuhalten, hinab. Die Bilder kamen nun gedämpft und unterschwellig; zwar noch immer schmerzhaft und verstörend, aber immerhin erträglich. Überlagert von dem Drang, zu ihrem Ursprung zu gelangen, folgte er den Gängen immer tiefer ins Herz der riesigen Maschine. Auch wenn er sich dabei so vorkam, als würde er von Sirenengesang hineingelockt werden ins Zentrum eines gewaltigen Spinnennetzes. Und immer wieder diese Schreie; diese metallisch nachhallenden, unmenschlichen, ja unnatürlichen Schreie. Er glaubte einige Zeit, daß sein verstörtes, geschocktes Gehirn beeinflußt durch die Bilder, die er empfing, sich die Schreie nur einbildete, aber dazu wirkten sie zu real; zu schmerzhaft, um nur Einbildung zu sein.
Worte formten sich in seinem Gehirn. Ohne Stimme; ohne Laut. Worte, die direkt in seinem Geist erschienen und ihn schaudern ließen. Worte, die um Hilfe flehten. Er wußte nicht, wie er antworten konnte, doch die schluchzende Stimme zeriß verzweifelt die Stille; drängte auf seine Gedanken ein und ließen ihn an den endlosen Schmerzen teilhaben.
Es ist dunkel hier... Kalt und dunkel... Hilf mir!
"Wo bist du?" Caleb sprach die Worte laut aus. Er wußte nicht, ob sie ihn hören konnte, wenn er die Worte nur dachte.
Ich habe Schmerzen! ... Es ist so kalt hier.... Ich habe Angst...
"Wer bist du? Was ist mir dir?"
Alles dunkel... Die Kälte tut weh... Ich weiß nicht wer ich bin... Oh - diese Schmerzen!
Etwas hatte sich verändert, die Worte drangen nur mit größter Mühe zu ihm; als ob derjenige, der sie aussandte, verzweifelt versuchte, sie an dem wachsamen Auge eines übermächtigen Gegners vorbeizuschmuggeln.
Die Spannung verdichtete sich nun mit jedem Meter und Caleb spürte, daß er sich dem Zentrum nähern mußte. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, seit er wie betäubt von den Gedanken, die auf ihn einprasselten, durch die titanische Maschine taumelte.
Die Worte klangen immer verzweifelter, je näher er kam und die Bilderflut floß wieder unkontrollierter und zusammenhangsloser, während mit der gleichen Wehemenz irgend etwas anderes versuchte, sie von ihm abzuschirmen.
Wer bin ich?!... Ich kann mich an nichts erinnern... so hilf mir doch... Hilf mir...
Die Bilder der Vergangenheit mischten sich immer mehr mit den Bildern der Gegenwart. Die gepeinigte Seele, die sie sendete, hatte längst das Wissen um ihre Bedeutung verloren - hatte sie aus dem Zusammenhang gerissen; nicht einmal mehr ahnend, wer oder was sie war.
Trotz aller Zusammenhangslosigkeit dessen war er sah und hörte, erschien es ihm irgendwie vertraut. Sie beide waren zwei Seelen, die in ihrer eigenen, privaten Hölle gefangen waren; ohne Erinnerung an ihr früheres Leben.
Caleb ging noch einige Meter, bis er zögernd stehen blieb. Die andere Präsenz war jetzt ganz nah. Er wagte es kaum, weiterzugehen; tastete sich an den Leitungen voran um die letzten paar Ecken, bis er eine junge, hübsche Frau sah. Fast hätte Caleb meinen können, sie schlief, wenn ihr nackter zerbrechlicher Körper nicht, von Kabeln und Schläuchen durchzogen in einem massivem Eisblock gefangen war.
Er war fassungslos - konnte; ja wollte nicht begreifen, was er da sah. Kein Leben steckte mehr in ihrem Körper. Einzig die Maschine sorgte dafür, daß noch Blut, oder was auch immer in ihren Adern zirkulierte. Ein unschuldiger Körper; geschändet von dieser Maschine und das letzte bißchen Leben, das noch in ihr steckte, mit Gewalt an ihren toten Körper gefesselt.
Caleb trat vor und berührte das Eis. Es schien wie ein Trugbild, doch es war Realität: ihr Körper im Eis konserviert und von grausamer Technik am Leben erhalten. Als er die dicken Kabelstränge sah, die von ihrer Wirbelsäule und ihrem Hinterkopf ausgingen, dämmerte ihn, daß dies keine besonders grausame Art der Folter war; sondern daß vielmehr ihr Gehirn als Steuerzentrum für die Maschine mißbraucht worden war.
Und langsam begannen sich, die Bilder zu ordnen. Jene, erst so willkürlich erscheinende, Kaskade aus Bildern, Gedanken, Schmerzen und Emotionen strukturierte sich. Wahrscheinlich waren sie jetzt lange genug verbunden, daß sein Gehirn allmählich ein Muster in dem Strom fand; einen Schlüssel, wie er mit damit umzugehen hatte. Ein Schlüssel, der ihr vor langem verlorengegangen war. Sie hatte sich in ihrem eigenen Verstand, der sich in eine Alptraumwelt der Qual verwandelt hatte, verirrt und nie wieder herausgefunden.
Und er verstand alles. Alles, was ihn zuerst so verwirrt hatte; ihm Schmerzen bereitete, ergab nun einen Sinn.

Er sah ihre Kindheit. Eine glückliche Kindheit. Sie verstand damals noch nicht, doch der Untergang nicht nur ihrer heilen Welt, zeichnete sich bereits ab. Als die Tage ihrer Jugend endeten, endeten auch die guten Zeiten und Sorgen zeichneten sich auf den Gesichtern der Menschen ab. Sie fand ihre große Liebe und eine neue Zeit der Hoffnung brach für sie beide an, denn mit ihm an ihrer Seite, schien alles möglich zu sein. Sie schienen die Welt verändern zu können.
Aber ein Unglück geschah; und alle Hoffnung, die sie gehegt hatten, wurde zerstört.
Danach erkannte sie ihre große Liebe nicht wieder. Das Unglück hatte ihn so tief erschüttert, daß er sich selbst fremd geworden zu sein schien. Noch am selben Abend verließ er sie. Nicht in Streit trennten sie sich; ihre Liebe zueinander war immer noch stark, aber der Schmerz und die Angst vor dem Wahnsinn trieb ihn in die Einsamkeit.
Verzweifelt versuchte sie ihn nachzukommen; ihm zu helfen, auch wenn sie wußte, daß sie diese Wunde nicht würde heilen können, doch sie verirrte sich in der endlosen Wüste.
Schließlich, auf der Suche nach einem Unterschlupf, fand sie, wie Jahre später Caleb ein verlassenes Gebäude, daß die Maschine, wie einen ausgeworfenen Köder, errichtet hatte. Und schließlich gelangte sie hierher; ins Herz jenes Systems, wo sich das Gehirn der Maschine, geschützt durch Hunderte Meter Felsgestein, zwar in Sicherheit, aber nicht überlebensfähig, befand.
Der Verstand der Maschine war, wenn auch hochentwickelt, überfordert, sich selbst am funktionieren zu halten. Es brauchte ein viel komplexeres, effizienteres System, daß seine Abläufe kontrollierte: Einen menschlichen Verstand. Und die Maschine entwickelte, aus der Not zu überleben, Kreativität und es gelang der Maschine vor ihr (Janet war ihr Name), andere in diese grauenvolle Falle zu locken, doch sie alle waren gestorben und es war dem Verfall preisgegeben. Doch kurz vor seinem Ende verirrte sich doch wieder ein Opfer in seine Fänge und sein Ende war ein weiteres Mal gestundet worden.

Während Caleb diese Gedanken formte; sie in einen logischen Zusammenhang artikulierte, fühlte er, wie sie (wie konnte er sie Janet nennen, wenn die echte Janet schon lange tot; und was übrig blieb doch nur noch ein zerstörter Schatten ihrer selbst war?) seine Gedanken teilte und endlich die Wahrheit über sich erfuhr. Und er merkte, wie sie, angesichts dessen, innerlich zusammenfiel, wie all der Horror so vieler Jahre wieder zurückkehrte und sich schließlich in einem einzigen, letzten Schrei der Befreiung artikulierte.
Und für einen Moment war es, als wären sie beide eine einzige, gequälte Seele, die da vor Angst und Schmerz schrie.
Es waren keine Worte mehr nötig; auch keine Bilder. Ihre Gedanken waren ein Gedanke, ihr Leid war auch sein Leid. Beide hatten nun Einblick in das Leben des anderen. Zwei Seelenpartner - verbunden durch ihren Schmerz und ihre verlorene Vergangenheit. Miteinander so vertraut, als wären sie schon immer eins.
Er fühlte Absicht der Maschine. Die kalte, unberechenbare Logik, deren oberstes Ziel Selbsterhaltung war. Die Maschine wußte, daß sie am Ende war. Die endlosen Qualen hatten sie zerstört. Die Maschine begann, die Kontrolle über sie Stück für Stück an den Wahnsinn zu verlieren. Doch der Apparat brauchte sie; brauchte ihren Verstand. Sie war der Geist der Maschine. Ein lebender Teil; ein Organ - mit Nährstoffen und Neurotransmittern ernährt - ohne das die Maschine, stetig wachsend, sich stetig erweiternd, an sich selbst zusammenbrechen würde. Ihr Geist, der alles - jede Funktion - überwacht, und dabei selber nur ein Sklave ist; selber überwacht wird.
Caleb sah nun auch, daß es die Absicht der Maschine war, ihn hierher zu locken, damit ihren Platz einnähme. Aber sie hatte von Anfang an dagegen angekämpft; sich das letzte bißchen Kontrolle bewahrt, die sie noch hatte, damit die Reihe der Opfer hier ein Ende hatte.
Er merkte, wie sie gegen die Maschine ankämpfte. Wie sie beide; untrennbar durch Gewalt miteinander verbunden, um die Kontrolle kämpften. Er spürte die erbarmungslose Kälte der Maschine in seinem Kopf.
Ihr Hass verlieh der Person, die einst Janet hieß, ungeahnte Kräfte. Jahrelang aufgestaut entlud er sich nun in einer blindwütigen Orgie der Verwüstung. Der Boden unter Caleb begann zu erzittern; Leitungen platzen und der dicke Eispanzer, der sie voneinander und Janet von ihrer Erlösung trennte, bekam einen Riß.
"LAUF!" schrieen ihre Gedanken. "Ich bin so dir unendlich dankbar, aber es bleibt keine Zeit. Rette dich an die Oberfläche, bevor es zu spät ist. Für deine Rückkehr habe ich gesorgt; Aber beeil dich jetzt."
Nur mit Mühe konnte er sich losreißen. Es gab noch so viel zu sagen; soviel gemeinsam zu erfahren. Er hatte den Damm eingerissen, der ihre Vergangenheit zurückhielt, doch es war nur ein flüchtiger Blick, der ihnen gewährt wurde. Sie kamen sich beide so vertraut vor, aber hatten keine Zeit es zu ergründen. Seine Vergangenheit blieb im Dunkel und nun verlor er die einzige Person, mit der ihm etwas verband.
Ein mächtiges Rohr barst und ein Hagel aus Metallsplitter regnete herab. Schwere Trümmer fielen zu Boden und beschädigten weitere Rohre. Zeit zu verschwinden. Aber irgendwie konnte er nicht.
Das Ende der Maschine war gekommen. In der Ferne hörte er das Donnern von schweren Explosionen und das Krachen von tonnenschweren Trümmern, die im Fallen tiefe Wunden ins Flechtwerk aus Leitungen, Kabeln Rohre schlugen.
"Geh!" flehte sie ihn an. "bitte geh, stirb du nicht auch."
Er spürte, wie die Verbindung zwischen ihnen schwächer wurde. Ihr Leben näherte sich dem Ende. Einmal noch näherte er sich ihr; legte seine Hand auf den Eisblock; war ihr noch ein letztes mal nahe.
Schweren Schrittes entfernte er sich schließlich. Es war zu gefährlich hier geworden. Er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen, bis ihre Verbindung (sie war kaum noch da. Ihre Stimme schien von weit her zu kommen) noch einen letzen Gedanken schickte: eine Warnung.
Er wußte sofort, was er zu tun hatte. Es war ein einziger Gedanke, doch er war deutlich genug. Er drehte sich um und ließ sich blitzartig auf den Boden fallen. Kurz darauf hörte er ein bersten und winzige, ungezählte Eissplitter stieben in alle Richtungen davon.
Es war vorbei die Maschine war enthauptet;
Und Sie hatte endlich ihren Frieden gefunden.

Auf seinen Weg zur Peripherie bebte der Boden, von Explosionen erschüttert, immer wieder so sehr, daß er von den Füßen gerissen wurde. Als er durch die offen stehende Eingangtür rannte, spürte er einen Schwall heißer Luft in seinem Rücken. Keine Sekunde zu früh.
Der Wagen stand noch genauso da, wie er ihn verlassen hatte. Ohne Probleme ging die Tür auf, worauf sich das Gefährt sofort ruckartig in Bewegung setzte. Diesmal war das Surren weitaus schriller und die ganze Kabine vibrierte vor Belastung. Plötzlich erschütterte der Knall einer gewaltigen Explosion den Wagen.
Die Explosion mußte der Erschütterung nach so stark gewesen sein, daß die schützende Felsschicht aufgesprengt wurde, da die Kabine aber keine Fenster besaß, erübrigte es sich nachzusehen, ob dem wirklich so war.
Aber das interessierte Caleb auch nicht. Seine Gedanken waren bei Janet. Wie kann die Welt nur so grausam sein, ihr so etwas anzutun? Er erinnerte sich an die Zeit, als sie beide verbunden gewesen; als ihre Gedanken eins waren. Caleb hatte einen Blick in ihre Erinnerungen werfen dürfen, aber sie waren so wage, so lückenhaft - wieso? Lag es an der wenigen Zeit, die sie noch hatten? An ihren schwindenden Kräften? An dem Konflikt mit der Maschine? Oder wollte sie ihm etwa die ganze Wahrheit ersparen - und wenn ja, warum?
Seine Gedankengänge führten zu nichts; sie drehten sich im Kreis. Wehmütig sah er sich in der Kabine um. Ein letzter Dienst, dem sie ihn erwiesen hat. Ein Blick auf die Tafel zeigte ihm, daß der Punkt nun einen anderen Weg beschrieb, als während der Fahrt zuvor. Warum? Hatte sie ebenso Einsicht in seine Gedanken gehabt? Wohl möglich. Wahrscheinlich wollte sie ihm ein Stück des Wegs ersparen.
Die Erfahrung hatte ihm gelehrt, zu schlafen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt; denn er konnte nie wissen, wenn er wieder mal dazu kam, aber diesmal gelang es ihm nicht. Es ging zu tief. Es hatte ihn tief in seinem Innersten berührt und Abgründe in ihm aufgetan, die er nicht auszuloten vermochte.
Die nächsten Stunden (oder waren es gar Tage?) verliefen für Caleb wie jenseits von Raum und Zeit. Er hatte sein Zeitgefühl, auf das er sich normalerweise immer verlassen konnte, in dieser fensterlosen Kabine völlig verloren. So ruhig und entspannt wie seine Hinreise war, so aufreibend erschien ihm nun diese Fahrt. Er fand einfach keine Ruhe. Seine Gedanken wälzten sich herum, nahmen mal diese, mal jene Wendung, kamen aber nie zu einem Ergebnis. Die Minuten schienen sich zu Stunden, und die Stunden zu Tagen zu dehnen. Und während der Zug seinem unbekannten Ziel entgegenraste, durchlebte er seine eigene Tour-de-Force der Gedanken. Seine einzigen Begleiter dabei war der steril-luxuriöse Zug, das durchdringende Surren und seine, ihm immer mehr quälenden Gedanken. Er durcheilte die Stationen seines Lebens; sah Elend und Verderben - und immer wieder den Tod. Den Tod, den er selbst gebracht hatte.
Die plötzliche Veränderung in der Geräuschkulisse bemerkte er zuerst nicht. Erst als die Vibrationen, die ihn seit seiner Abfahrt begleiteten nachließen, bemerkte er, daß etwas geschah. Er war dankbar, daß er aus seinen Gedankengängen gerissen worden war. Vielleicht bekam er ja bald Antwort auf all die Fragen, die ihn immer und immer weiter trieben. Wie sehr er sich doch wünschte, von ihnen erlöst zu werden.
Es dauerte noch eine ganze Weile, aber irgendwann waren das Surren und die Vibrationen ganz verstummt und Stille breitete sich aus. Die Stille selbst wirkte beinahe noch laut, so sehr lag ihm das hohe Surren noch in den Ohren. Als schließlich die automatische Tür aufglitt, war er froh, daß ihre Geräusche die gespenstische Stille durchbrachen.

Er fand sich selbst in einer Art Station wieder. Verstaubte Trümmer lagen überall und viele Mauern waren eingestürzt, aber Caleb hatte dennoch einen guten Eindruck von der Größe und Geschäftigkeit, die einst hier geherrscht haben mußten. Offensichtlich war dieses Gebäude erbaut worden, bevor die Maschine ihr 'Eigenleben' entwickelt hatte. Nichts deutete auf die kalte Stahlarchitektur hin, wie er sie im Zentrum des Apparates vorfand. Es war eher eine konsequente Weiterführung des Stiles, den er bereits in der Kabine kennengelernt hatte. Der Bau wirkte trotz seiner klaren und funktionellen Linienführung und des trüben Dämmerlichts, das von draußen eindrang, sehr weitläufig und offen; wie dafür gemacht, von Menschen besucht zu werden. Große Glasflächen, die durch ihr Alter zwar zersprungen und abgestumpft waren, erlaubten einen guten Blick nach draußen, wo sich im Westen rostrot eine abweisende Gebirgslandschaft auftürmte.
Nachdem er sich einige Zeit umgesehen hatte, und weder bedrohliches, noch etwas aufspüren konnte, das ihm sagte, wo er sich befand, entdeckte er plötzlich, halb im Schutt verborgen und unter eine dicken Staubschicht eine metallene Tafel.
Es war eine Art Wegweiser. Eine netzförmige Anordnung von Linien unterschiedlicher Farben war darauf angebracht; ein Bild, daß er schon mal im Zug gesehen hatte, auch wenn dieses weitaus älter schien: Das Netz war noch nicht so dicht, wie das in der Kabine, ebenso war seine Ausdehnung noch nicht so groß. Die Maschine mußte sich selbst also noch beträchtlich erweitert haben, nachdem ihre Erbauer schon längst tot waren.
Eine leuchtend rote Markierung am linken Ende der Tafel erregte auf einmal seine Aufmerksamkeit.
Wenn dies meine jetzige Position ist, überlegte sich Caleb, und darauf wette ich, dann befinde ich mich am westlichsten Punkt des gesamten Netzes - genau die Richtung, die ich brauche! Sie hat wirklich an alles gedacht.
Erleichtert nun, sich auf dem richtigen Weg zu befinden, und die Aussicht, daß seine Odyssee bald ein Ende haben würde, machte er sich auf die Suche nach einem Ausgang.
Er folgte ein paar Gängen, die ihn an weiteren Haltestellen - gleich der, die er benutzt hatte - vorbeiführten, bis er schließlich in eine große Halle kam; wahrscheinlich der Haupthalle des Komplexes. Ihr Dach war halb eingestürzt und offenbarte einen düsteren, stürmischen Himmel; ein Vorbote auf den kommenden Winter. Blitze zuckten hoch in der Atmosphäre und erleuchteten die rasch vorbeiziehenden Wolken. Es würde nicht mehr lange dauern; wenige Wochen vielleicht, dann waren diese Blitze für Monate die einzigen Lichtspender in einer stockfinsteren, kalten Welt.
Er überstieg die gebogenen Trümmer des Daches, die wie ein geschwungenes Gebirge anmuteten (wie prächtig muß es einst ausgesehen haben, fragte er sich. Stahl und Glas, die diese Halle überspannen, als wären sie so leicht wie Papier) und entdeckte dahinter das Hauptportal. Hier wurde ihm noch einmal die Größe des Baus bewußt. War es heute nur noch ein klaffendes Loch, in das noch vereinzelte Stahlstreben ragten, konnte er doch die Eleganz dieses Baus erahnen, als damals noch eine über zehn Meter hohe Glasfront die Halle abschloß und strahlender Sonnenschein (den dieses Bauwerk seit Generationen nicht mehr sehen durfte) sie in warmes Licht tauchte.
Caleb war davon mehr beeindruckt als von den gigantischen Türmen der Totenstadt, denn diese kühn geschwungenen Linien, die schon fast lebendig wirkten besaßen eine Schönheit, die die monolithischen Bauwerke, mit ihrer schieren Größe, nie würden erreichen können.
Erleichtert darüber, sich etwas abgelenkt zu haben, machte er sich auf die Suche nach einer günstigen Passage, mit der er seinen Aufstieg auf das vor ihm liegende Gebirge beginnen konnte.

Er kam in den folgenden Tagen ganz passabel voran. Das Gelände bot kaum Tücken und nur selten mußte er ein Stück klettern. Nur die zunehmende Dunkelheit machte ihm zu schaffen und zwang ihn dazu, langsamer zu machen. Er hatte bereits eine beträchtliche Höhe erreicht und jedesmal, wenn er auf einem Hügelkamm stand, bot sich ihm ein prächtigeres, sich immer weiter erstreckendes Panorama. Es machte ihm auch Spaß, nur den, von Blitzen durchwirkten Himmel über sich, die Felsen zu besteigen und sich dabei der Illusion hinzugeben, sein eigenes Schicksal in der Hand zu haben: Immer höher; immer weiter.

Nach einigen weiteren Tagen war er bereits auf der Höhe der höchsten Gipfel und hatte offenbar eine Art Wettergrenze erreicht. Er konnte die ganze Gewalt fühlen, die sich über ihm entlud: Der Wind, der die Wolken in langgezogene Fetzen zerriß, zerrte und tobte nun an ihm und die Blitze schienen den Himmel dicht über seinem Kopf regelrecht zu spalten. Seine Sinne waren regelrecht betäubt und er war geblendet von der Wucht dieses seit unbekannten Zeiten tobenden Unwetters. Die Landschaft; dieses atemberaubende Panorama aus schroffen Felskanten und hoch aufragenden Gipfeln schien ihm, im ständig wechselnden Spiel zwischen Licht und Schatten, Streiche spielen zu wollen, glaube er doch zu sehen, was er für völlig unmöglich hielt.
In weiter Ferne, von grellen Blitzen erleuchtet und in den Konturen verzerrt, schien sich ein gigantisches Wesen über die majestätischen Gipfel zu bewegen, als wären sie die Relikte einer Spielzeugwelt. Er glaubte zuerst, die von den Blitzen erzeugten, sich ständig wandelnden Schatten würden seinen Augen einen Streich spielen, doch ein besonders großer Einschlag, offenbarte Caleb, in aller Deutlichkeit, daß dies kein Illusion war.
Er sah, wie ein gewaltiger Körper, einer riesigen Spinne gleich, wie ein pechschwarzer Schatten über die Berge kroch. Es bewegte sich ungeheuer flink und Caleb konnte in der kurzen Zeit, in der er es deutlich sah, weder einen Kopf, noch irgendwelche Details ausmachen; nur den völlig gleichmäßigen, schwarzen Körper und seine dicken Spinnenbeine, als wäre dieses Tier nichts weiter als die manifestierte Finsternis an sich.
Ungläubig starrte er dem Tier nach und noch lange nachdem es in der Ferne verschwunden war, wagte Caleb nicht, sich zu bewegen. Blankes Entsetzen erfüllte ihn, angesichts jenes Wesens, das so gewaltig war, daß selbst die Berge dagegen klein aussahen.

Der Abstieg ging rasch vonstatten und führte, ihn auf schmalen Pässen entlang, an tiefen Schluchten vorbei, wo jeder Fehltritt in einem, einige hundert Meter tiefen, Sturz geendet hätte. Etwas vergleichbares, wie das Wesen, daß er an jenem stürmischen Tag zu Gesicht bekam, sah er nicht wieder. Nach einer Weile zweifelte er sogar daran, es tatsächlich gesehen zu haben. Zu irreal, zu unglaublich war dieser Anblick gewesen, als daß er tatsächlich akzeptieren konnte, was er da sah.
Er bekam auch wenig Gelegenheit dazu, sich darüber Gedanken zu machen, da der stellenweise heikle Abstieg ihn völlig in Anspruch nahm, so daß er dieses Erlebnis geistig beiseite schieben konnte.
Die Landschaft änderte sich von gebirgig zu mehr und mehr von sanft geschwungenen Hügeln dominiert. Der Himmel war nun weniger von Stürmen aufgewühlt, als in den Bergen und obwohl schwach, schien nun angenehmeres, rötliches Licht; vielleicht war hier die Wolkendecke dünner, überlegte er sich. Er glaubte sogar, die Sonne, als einen hellen Fleck hinter den Wolken verborgen, zu erkennen, was er als gutes Omen deutete. Schließlich sah er nun mehr von diesem legendenumwobenen Himmelskörper, als den allermeisten in ihrem Leben vergönnt war.
Eine Brise, aus Westen kommend, wehte einen seltsamen Geruch zu ihm her. Er konnte ihn zuerst nicht identifizieren, doch er meinte nach einer Weile zu glauben daß es Ähnlichkeit mit dem Geruch des Meeres hatte, der ins Land hereinweht, auch wenn dieser seltsam stechend war.
Einige Zeit später, fand er seine Vermutung bestätigt. Er hatte gerade eine Hügelkuppe überwunden, als er plötzlich, nur noch eine halbe Meile von sich entfernt, die Küste vor sich liegen sah. Ein glitzernder, bernsteinfarbener Ozean brandete sanft gegen einen breiten, dunklen Kiesstrand und bildete, beinahe idyllisch anzusehen, einen Kontrast zur Leblosigkeit des ufernahen Landes.
Das einzige, das diese friedfertige Szenerie störte, war der Anblick des Kadavers einen ihm unbekannten Tieres. Es lag, halb verwest, in der Brandung. Der untere, vom Meer umspülte Teil des Kadavers waren nur noch, völlig von Muskeln und Sehnen befreite, bleiche Knochen, während der obere Teil noch von schwarzem faulendem Fleisch bedeckt war. Hier fand er also die Erklärung, warum der Wind einen so seltsamen Geruch von der See herwehrte: Es war kein gewöhnliches Meerwasser, das hier ans Ufer brandete, sondern eine penetrant riechende, ätzende Flüssigkeit.

Er ließ den Kadaver hinter sich, denn im Norden, halb im Nebel verborgen konnte er etwas ausmachen, was er für zwei nebeneinanderstehende Türme hielt. Als er jedoch näherkam und sich die Konstruktion immer mehr aus dem Nebel schälte, erkannte er, daß es sich in Wahrheit um zwei kolossale Pfeiler einer Brücke handelte.
Unruhe packte ihn und sein Herz schlug schneller. Sollte dies das Ende seine Reise sein? Um so mehr der Abstand schmolz, um so mehr Einzelheiten konnte er erkennen und um so sicherer wurde er sich: Dies war die riesige, stählerne Brücke, von der der alte Mann sprach.
Und riesig war sie wahrhaftig. Er schätzte die Höhe ihrer beiden Pfeiler auf über zweihundert Meter. Mächtige, x-förmige Streben verbanden beide Pfeiler, während zahllose armdicke Stahlseile die Brücke, deren anderes Ende sich in weiter ferne zu verlieren schien, vor dem einstürzen bewahrten.
Die Brücke mußte uralt sein, denn die Zeit hatte ihre Spuren in dem massiven Konstrukt hinterlassen. Der Stahl war rostig; an vielen Stellen korrodiert, zahlreiche der Halteseile waren durchgerissen und einige der tonnenschweren Streben hatten sich aus ihren Verankerungen gelöst, waren heruntergekracht und hatten große Löcher in die Brücke geschlagen, bevor sie ins Wasser fielen.
Ein felsiger, weit über zehn Meter hoch aufsteigender Hang führte zum Kopf der Brücke und hatte es jemals eine Straße hier herauf gegeben, mußte sie schon seit Jahrhunderten und verfallen sein, denn Caleb konnte keine Spur von ihr entdecken, als er nach einem leichten Aufstieg suchte. Der Zustand der Brücke war schlecht; so schlecht, daß Caleb sich wunderte, daß die Brücke überhaupt noch stand. Von der ehemaligen Beplankung der Brücke war ebenso wie von der Straße keine Spur mehr vorhanden. Nur noch ein löchriges Geflecht aus stählernen Streben war übrig geblieben. Zwischen den Streben, fünfzig, sechzig Meter - oder mehr - unter ihm konnte er das rauschende Meer ausmachen. Ein Sturz hätte wohl tödlich geendet, doch die Streben waren breit genug, um ihn Sicher herüber gelangen zu lassen.
Caleb wußte, es würde bald zum Entscheidungskampf kommen, aber seine Unruhe war verflogen. Er kannte keine Furcht. Auch versuchte er gar nicht, unbemerkt über die Brücke zu gelangen. Sollten sie ihn nur kommen sehen. Es war, wie schon ungezählte Male zuvor, als es immer hieß: Er gegen alle.

In aller Seelenruhe säuberte er noch mal seine Revolver, ölte bei Bedarf die Mechanik und lud sie anschließend mit seinen 'ganz speziellen' Geschossen, die zwar unpräziser waren, aber sympathisch viel Schaden anrichteten. Ganz wie in den alten Zeiten. Er spürte, wie der alte Caleb, zumindest stückweise, wieder zurückkam. Nur noch dieses eine Mal, dachte er mit ein bißchen Wehmut im Herzen.

Die Insel war nicht groß und bald hatte er den Unterschlupf der Feinde, am Gipfel eines, ziemlich in der Mitte der Insel liegenden Hügels, ausfindig gemacht Es war ein niedriger Bau; einige Gebäude, nicht groß; umgeben von einer Mauer: Ein Anblick wie man ihn zu Tausenden auf dem Land abseits der großen Städte findet. Eigentlich ein gutes Versteck. Niemand könnte die wahre Natur der Gemeinschaft, die hinter dieser Mauer lebt, auch nur erahnen.
Er gab den beiden Posten, die vor dem Bau Wache standen, Gelegenheit, Alarm zu schlagen und die ganze Truppe in helle Aufregung zu versetzen, bevor er die Seiten seines Mantels nach hinten strich, seine Revolver offenbarte und das Spiel beginnen ließ.
Als die Wachen dies sahen, wollten sie ihre Waffen ziehen, doch sie kamen nicht mehr dazu. Der eine bekam einen Schuß in die Kehle, wobei er, noch bevor er am Boden lag, einen gewaltigen Blutfleck an der Mauer hinterließ, der andere bekam einen Kopfschuß, so daß sein halber Hinterkopf explodierte und gelbliches Gewebe hoch aufsprühte.
Die Eingangstür war inzwischen verriegelt worden, doch er schoß das Schloß auf. Ein Schrei auf der anderen Seite, sagte ihm, daß er mehr als nur das Schloß getroffen haben mußte.
Er trat die Tür auf, streckte ein paar nieder, die über den Mittelhof auf ihn zugerannt kamen und auf ihn anlegen wollten und machte sich, nachdem sich kein weiterer Widerstand mehr regte, ein bißchen auf die Suche...
Gerade als er das Hauptgebäude betreten wollte, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich einer davon machen wollte. Er schoß ihm ins Knie, worauf der Fuß im rennen noch weggerissen wurde und der Flüchtende schreiend zu Boden fiel. Sauber anlegend schoß er ihm auch den zweiten Fuß ab.
Während sein Opfer noch sich in seiner immer größer werdenden Blutlache wand, nutzte Caleb diese kurze Unterbrechung gleich um nachzuladen, bevor er sich erneut dem Hauptbau zuwandte.
Dann spielte er sein altes Spielchen: Erst mal ein bißchen durch die Tür feuern, sie dann auftreten und nachsehen, was sich noch so alles rührt, um demjenigen dann nach Bedarf noch den Rest zu geben, oder zusehen, wie der Klient an seiner Wunde verblutet.
Als er dann alle Räume durch, und hämisch lachend großzügig Kopfschüsse, Magenschüsse, Herzschüsse, Halsschüsse, Schüsse in die Genitalien, abgeschossene Arme und Beine, usw. verteilt hatte, dabei noch abgetrennte Köpfe durch die Gegend kickte und mit einem abgeschossenen Finger und etwas Blut aus einer Pfütze 'Caleb was here' groß an die Außenmauer schrieb, kam freudige Erleichterung über ihn. Er hatte seinen Auftrag erfüllt.
Keiner war mehr am Leben; sein Weg ging nun dem Ende entgegen. Es war nun endlich vorbei.

Die Schüsse klangen ihm noch in den Ohren und als er auf einem Felsen, einige Meter von dem Schauplatz seines 'Werkes' Platz nahm, schien er allmählich wieder zu sich zu kommen; der Schleier lichtete sich
Endlich hatte er es geschafft. Er war wie in einem Rausch gewesen; hätte sich selbst fast nicht wieder erkannt, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß er seine Aufgabe erfüllt hatte.
Er war erstaunt über sich. Das eben, das war nicht er selbst. Was er da erlebt hatte, war ein Teil von ihm, den er glaubte überwunden zu haben. Doch offenbar war dem nicht so. Für einen Moment schien alles wieder wie früher gewesen zu sein; als hätte es diesen Wendepunkt in seinem Leben nie gegeben.
Doch dieser Teil von ihm schien jetzt ein für alle mal abgeschlossen zu sein. Es war ihm noch einmal nützlich gewesen, hatte ihm ein letztes mal das alte Gefühl wiedergegeben - doch jetzt war es glücklicherweise vorbei und es würde nie wieder kommen. Vielleicht war es auch richtig, daß er sich noch einmal seiner Vergangenheit stellen mußte. Es schien manchmal so fern; die Gewalt, die Toten; doch es war ein Teil von ihm; unauslöschlich in der Vergangenheit eingebrannt.
Was sollte er nun tun? Es wäre wohl das Beste, wenn er zum Festland zurückkehrte. Sein Teil der Arbeit war getan. Das zarte Pflänzchen der Hoffnung, daß ihn und seine Verbündeten, die er, von dem alten Mann abgesehen, nie zu Gesicht bekommen hatte, am Leben hielten; das nicht nur Caleb dazu trieb, immer weiter zu machen und niemals aufzugeben, war nun in Sicherheit. Es konnte jetzt aufgehen und ihre Früchte würden Glück und Frieden sein.
Das war, was Caleb sich so sehr wünschte; Er war müde; wollte endlich befreit werden von seinen Erinnerungen; von dieser unseligen Existenz - er wollte endlich Frieden finden.
Der Gedanke, daß es sein Verdienst war, wenn es mit dieser Welt endlich wieder aufwärts ging, schien ihn zu beflügeln und alles negative vergessen zu lassen. Er hatte den Grundstein gelegt; bald würde der ewige Hunger der Menschen ein Ende haben, ebenso die Mißbildungen, die Gewalt; die ewigen Kriege. Wohlstand würde sich ausbreiten und vielleicht würden die Menschen sich auf ihr glorreiches Erbe zurück besinnen und versuchen, diese große Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.
Vielleicht würde ein zweites, goldenes Zeitalter beginnen.

Er kehrte der Insel den Rücken und hatte bald die stählerne Brücke überquert. Der Abend dämmerte inzwischen herein und es schien, als würde die Sonne, die - heute kaum hinter Wolken verborgen - tief über dem Ozean stand, ihm zum Gruße ihre wärmenden Strahlen entgegen schicken.
Es war ein schöner Sonnenuntergang und weit er blicken konnte, war die Landschaft in ein warmes, bernsteinfarbenes Licht getaucht, als würde die Dämmerung der hoffnungsvolle Bote für einen langersehnten, freudigen Tag sein. Unterhalb des Hangs, am Fuße der Brücke angekommen, wollte er noch zum Abschied einen letzten Blick auf dieses imposante Bauwerk werfen, das im Abendrot nun leuchtete wie Bronze, aber eine kleine unscheinbare Hütte lenkte bald seine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte diese Hütte schon einmal gesehen - vor einem halben Leben - wie es schien, doch Caleb erkannte sie sofort wieder.
Die Mühe, sich zu fragen, wie sie hierher kam, machte er sich nicht. Der Alte Mann hatte ihn schon mit ganz anderem erstaunt.
Und so endet es, wie es begann, ging ihn durch den Kopf. Er freute sich, den alten Mann wieder zu sehen und mit ihm ihren Triumph zu feiern.

Im Inneren der Hütte sah es noch genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Das Feuer brannte immer noch ohne Rauch und der Alte Mann saß immer noch in seinem verschlissenen Schaukelstuhl, ganz als hätte Caleb ihn erst vor fünf Minuten verlassen.
Er grinste.
Caleb beschlich ein ungutes Gefühl. Er war der Wahrheit jetzt so nahe, wie noch nie zuvor. Sie wartete nur noch darauf, an die Oberfläche zu kommen, doch je näher er sich der Wahrheit fühlte, um so gewisser wurde seine Furcht, daß etwas furchtbar schiefgelaufen war.
"Setz dich," sagte der alte Mann. "Ich habe dir eine Geschichte zu erzählen.
Vor langer Zeit, ich kann dir nicht genau sagen, vor wie vielen Jahren genau; es mögen Hunderte, oder auch Tausende von Jahren sein, war das, was die Menschen heute das 'Große Zeitalter' nennen. Nunja, nicht alles zu dieser Zeit war so großartig, wie man es vielleicht meinen könnte, aber es war eine Zeit des Wohlstandes und Fortschritts. Das Wissen und die technischen Mittel stiegen mit jedem Jahr gewaltig an und was man heute vielleicht für Zauberei halten könnte, war damals ganz alltäglich. Einige Relikte aus dieser Zeit hast du ja selbst bestaunen dürfen.
Aber, wie ich schon sagte, die Welt war damals nicht perfekt. So weit die Menschen sich auch entwickelt hatten, blieben sie letztendlich doch die selben. Sie hatten nichts dazu gelernt. Auch sie waren grausam. Sie führten Kriege, lebten in Furcht und in Aberglauben und zerstörten damit immer wieder ihre eigenen großen Leistungen. Sie standen sich mit ihren Ängsten selbst im Wege.
Eines Tages jedoch stieß ein Weiser Mann auf der Suche nach Erkenntnis auf eine andere Welt.
Es war die Welt, von der die Menschen glaubten, daß sie nur in ihren Köpfen existierte, doch dabei hatten sie sich geirrt. Es war die Welt ihrer eigenen Träume.
Ich habe dir ja schon einmal gezeigt, daß der Geist die Materie formt - und umgekehrt ist es genau so. Es ist ein Wechselspiel, indem gutes und schlechtes sich schaffen und verstärken können. Dieser Weise Mann hatte erkannt, daß das durch ihre verdrängte Ängste das schlechte in den Gedanken der Menschen überwog und der Menschheit auf diese Weise nur noch mehr Leid bescherte. Sie zogen sich praktisch an sich selbst in den Abgrund. Aber was konnten sie schon dafür. Ihre Welt war im Umbruch und kaum jemand konnte behaupten mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Sie fühlten sich verloren und hilflos unbekannten Gefahren ausgesetzt. Und dies spiegelte sich in der Welt des Traumes wieder.
Es war eine finstere Welt; dominiert von Alpträumen; von Furcht und von Finsternis.
Der Weise Mann jedoch hatte einen kühnen Plan: Er wollte diese beiden Welten verschmelzen; auf das die Alpträume mit der Realität konfrontiert und dadurch bedeutungslos wurden.
Er forschte lange Jahre und als er alt wurde und die Zeit ihm davon zu laufen drohte, schloß er einen Pakt.
Einen Pakt mit den Wesenheiten, die die Welt der Träume in den Jahrtausenden, seitdem die Menschheit sie geschaffen und stetig vergrößert hatte, beherrschten. Woher diese Wesenheiten kamen, ist unbekannt. Möglicherweise zufällige, aus dem ewigen Chaos ausgespieene formlose Ideen, die einen Nährboden fanden in den Alpträumen der Menschen, oder uralte, von den Menschen durch ihren Aberglauben und Gottesfürchtigkeit selbst erfundene Götter, jedenfalls waren diese Wesenheiten inzwischen so mächtig geworden, daß sie in der Tat Göttern glichen.
Der Weise Mann trat vor ihnen, hilflos und klein wie ein verängstigtes Tier im Schatten von Riesen und sie hörten sein Anliegen, seine Lebenszeit zu verlängern, im Tausch gegen seine Seele. Er glaubte wirklich, daß er diese Wesen gegen für seine eigenen Zwecke ausnutzen konnte und daß, wenn er Erfolg hatte, und dessen war er sich sicher, diese Wesen wieder in die Gestaltlosigkeit zurückfallen würden und seine Seele gerettet wäre. Doch er hatte sich getäuscht: Sie wußten von Anfang an, was er vorhatte. Die größte dieser Wesenheiten trat als Sprecher aus dem Dunkel und willigte dem Pakt ein. Hätte der Weise Mann damals gewußt, daß er bei einem Pakt mit diesen Wesenheiten nur verlieren konnte, hätte er niemals eingewilligt, aber wie ich schon sagte, er dachte gar nicht an diese Möglichkeit. Er sah die Chance vor sich, mit Göttern zu messen. Sie zu übertrumpfen; sein eigenes Schicksal zu besiegen - er fühlte sich unbesiegbar.
Die nächsten fünfhundert Jahre verbrachte er damit, zu forschen. Er sammelte andere Weise Männer, Magier um sich, die ihm bei seinem Vorhaben helfen sollten und es sah auch bis wenige Tage vor Beginn der Vereinigung der beiden Welten so aus, als würde der Plan aufgehen. Aber dann forderten die Wesenheiten ihren Tribut. Sie säten Zwietracht unter ihnen; vergifteten ihre Gedanken und hetzten sie Leute gegen ihren Meister auf, ohne das dieser davon etwas mitbekam.
Schließlich - geblendet von sinnlosem Hass - töteten sie ihn und vergruben seinen Leichnam in einem verfluchten Grab, auf daß sie sein Zorn nicht übers Grab hinaus verfolgen konnte. Und nachdem er hundert Jahre in seinem Grab lag und seine Seele in den Händen dieser Wesenheiten war, und für er seine Pläne mit ewiger Folter bestraft wurde, gelang ihm schließlich die Flucht.
Seine Seele drang wieder zurück in seinen Körper und sofort versuchte er, sein Werk zu vollenden. Er fand sogar einen seiner damaligen Gefährten wieder, der nach dem Tode des weisen Mannes in Armut und Sühne gelebt hatte, während die anderen nach der Tat entweder Selbstmord begingen, oder dem Wahnsinn verfallen waren.
Gemeinsam überwanden die Widrigkeiten, die die Wesenheiten ihnen in den Weg stellten - und schließlich gelang ihnen die Vereinigung.
Aber es war von den Wesenheiten alles so geplant gewesen. Die Vereinigung verschmolz beide Welten völlig zu einer einzigen, doch es war nicht der Anbeginn einer Zeit des Glücks - nein. Der Horror der Traumwelt kam über die Erde und brachte Elend und Qual über Milliarden von Menschen.
Und der finstere Gott, der dies alles eingefädelt hatte ließ die Sonne erschlöschen und kam über die Menschheit - wie hieß er doch gleich?"
"The Creature." Antwortete Caleb. Woher wußte er diesen Namen? Welche Rolle spielte er in dieser Geschichte? Ihm wurde schwindlig. Er die Ahnung, daß er es wußte und daß ihm die Antwort gar nicht gefallen würde.

Es wurde finster im Raum. Der Schein des Feuers schien die Wände der Hütte nicht mehr erreichen zu können. Eine Gestalt trat aus dem Dunkel. Dünn, bleich und androgyn - the Creature.
"Und du," sagte sie zu dem alten Mann, während sie seinen Nacken mit ihren Nägeln streichelte "nanntest dich nur noch Maestro."

Caleb erinnerte sich jetzt an alles. Erinnerte sich noch einmal an die Katastrophe. Er durchlebe es noch einmal. Es war, als würde er bei lebendigem Leibe auseinandergerissen werden.
Er und seine Frau waren damals auf die Geschichte des Maestros gestoßen. Sie waren noch jung, glaubten noch, die Welt verändern zu können und waren fasziniert von der Geschichte gewesen. Es war eine geheime Legende unter den Leuten, die ihr Leben der Magie verschrieben hatten. Der Plan des Maestros und sein Jahrtausende langes immer noch andauerndes Martyrium, zu dem er für seine gute Absicht verdammt worden war, war ein Heldenepos und der Maestro selbst war ein schon gottgleicher Märtyrer. Dieses Epos fesselte sie beide so sehr, daß sie sich schworen, das wieder gut zu machen, was damals schief gelaufen war. Und Caleb traute sich diese Aufgabe zu. Er war der Beste. Man sagte über schon als er noch ein Kind war, daß so jemand wie er nur alle paar Hundert Jahre auf die Welt kam. Er fühlte, daß er würdig war, der erste Maestro, nach so langer Zeit zu werden.
Und wie sein Vorbild in vor Urzeiten, scharte auch er eine Gruppe von Getreuen um sich. Sie legten ihre Geburtsnamen ab und nahmen dafür die großer Magier vergangener Zeiten an.
Es war eine große Zeit. Calebs Künste wuchsen und wuchsen und bald fühlte er sich stark genug, die beiden Welten zu trennen. Aber nicht nur das wollte er, er wollte ebenso die Wesenheiten zurückdrängen und aus den Träumen vertreiben, so daß eine neue Generation ohne Angst heranwachsen konnte. Er wollte alles wieder zum guten kehren; er wollte blauen Himmel schaffen, wie in den alten Geschichten erzählt und überall Wachstum und Gedeihen.
Wie ein Titan, der sich anschickte, die Welt aus den Angeln zu heben und neu zu ordnen, vollführte er einen unvergleichlichen Kraftakt; umschloß mit seinem Geist die Welt, ordnete und teilte, formte und erschuf.
Doch es glitt ihm aus den Händen. Es wurde immer komplexer, alles zerfiel wieder und er mußte hilflos zusehen. Er versuchte alles. Sein Geist schien überall gleichzeitig zu ein. Versuchte verzweifelt, wieder herzustellen, was sich auflöste, doch er kam nicht nach.
Sein Gedankengebäude zerbrach, und damit auch er. Es stürzte alles auf ihn ein und sein Geist wurde von diesem unermeßlichen Gebilde regelrecht begraben.
Seine Anhänger die ihn in seiner Konzentration gestützt hatten, sahen entsetzt was geschah; versuchten noch zu helfen und den Einsturz aufzufangen, doch auch sie konnten nichts mehr retten. Sie verloren sich ebenfalls in dem Zusammenbruch; physisch unversehrt wurden manche von ihnen seelisch zerstört. Mit einem letzten Kraftakt noch seine Frau von der kommenden Flut abzukapseln, so daß sie wenigstens keinen Schaden davontrug.
Der Rest jedoch wurde verheert. Und er selber zerstört. Welcher Verstand kann schon die Sinneseindrücke einer ganzen Welt aufnehmen, ohne selbst kaputt zu gehen?
Danach war er nicht mehr der Selbe. Wie sein Vorgänger einst hatte er sich über die Götter erhoben - und war gestürzt. So tief, wie man nur fallen konnte. Er war vernichtet.
Ein unentwirrbares Chaos herrschte in seinem Kopf; zu keinem Gedanken mehr fähig; nur noch getrieben von unzähligen unendlich schnell dahinrasenden Ideen, Ängsten, Gefühlen und Eindrücken, denen er nicht folgen vermochte, die aber alles andere überlagerten.
Seine Frau bemühte sich zwar nach Kräften, ihm zu helfen, doch wie konnte sie? Niemand konnte ihm helfen.
Er machte sich eines Nachts auf. Ohne Gepäck; aber auch ohne Ziel. Nur noch vergessen - das war sein einziges Ziel. Er konnte dieses Gewirr nicht mehr aushalten. Es machte ihn wahnsinnig - er wollte nur noch vergessen.
Und er verstand nun endlich auch, warum seine Frau es ihm nicht gesagt hatte, als er ihr noch einmal, im Herzen der Maschine begegnete. Warum sie starb, ohne ihn in dieses schreckliche Geheimnis einzuweihen: Sie wollte ihm nicht mit seiner eigenen Vergangenheit verletzen.
Sie hatte ihn niemals aufgegeben. Damals, als er in die Wüste ging und sie ihm hinterhergeeilt ist, nur um dann in die Fänge der Maschine zu geraten, hatte sie ihn ebensowenig aufgegeben, wie später, als er als ein Fremder, der sie nicht mehr erkannte, zu ihr kam. Sie wollte ihn vor sich selbst schützen; vor dem Unglück, daß er damals verursacht hatte und hat daher geschwiegen. Wie sehr er sie noch immer liebte; und was sie alles wegen ihm durchmachen mußte, nur weil sie ihn nicht aufgab.
Und was tat er? Er hatte sich selbst; seine Persönlichkeit ausgelöscht, weil er mit seinem eigenen Versagen nicht leben konnte.

Er ging in die Wüste, um zu vergessen. Und bei Gott - das hatte er. Und was schließlich diese Wüste verließ, war die Antithese aller Hoffnung. Ein Vernichter; von allem Schmerz derart in den Wahnsinn getrieben worden, daß es ihm Freude bereitete, anderen Tod zu bringen.
Was war nur aus ihm geworden?

"Was ist nur aus mir geworden?"
"Oh, wart's ab," lächelte ihn der alte Maestro in seinem Schaukelstuhl an. "Das beste kommt noch. Ich glaube, du kannst es dir schon denken."
"Die Feinde..." fing Caleb an. Er wollte den Gedanken nicht zu Ende denken.
"Gab es nie. Hundert Punkte."
"Du hast deine eigenen Gefährten ermordet, Maestro." Lächelte ihn the Creature an.
"Sie wollten es noch einmal versuchen, weißt du; hatten aus deinen Fehlern von damals gelernt und geglaubt, nun könnten sie es wieder gerade biegen - aber" Sie machte eine bedauernde Geste "da haben sie sich wohl geirrt."
Und the Creature hatte recht. Caleb erinnerte sich. Auch er hatte die Anlage auf der Insel ausgewählt. Er wollte die Energien anzapfen, die dort schlummerten. Der Kreis schloß sich...
Das alles konnte nicht wahr sein - aber er wußte es besser.
Wie konnte er nur das Ausmaß dessen begreifen, was ihm gerade, in der kurzen Zeit klar geworden ist? All der Horror, der jetzt auf einstürzte. Er fühlte sich, als wäre er nur ein teilnahmsloser Zuschauer; als würde er noch gar nicht die Tragweite dessen begreifen, was geschehen ist.
"Und welche Rolle spielt er dabei?" mechanisch deutete er auf den alten Maestro.
"Ich war dein Köder. Weißt du - diese Qualen, dich ich, über Jahrtausende hinweg erleiden mußte, haben mich zerbrochen. Ich wollte nur noch, daß es ein Ende hat. Meine Belohnung für diesen kleinen Gefallen war ein langersehnter, friedlicher Tod."

Caleb spürte den Zusammenbruch. Totaler und verheerender als zuvor. Alles entglitt ihm. Jede Hoffnung war zerstört. Sie hat mit ihm nur gespielt. Ihn durch diese Welt gelenkt, wie eine dressierte Ratte; es war alles nur ein Schauspiel gewesen. Und er stand von Anfang an als der Verlierer fest. Er hatte jede Hoffnung für diese Welt zerstört, hatte seine geliebte Janet buchstäblich der Hölle preisgegeben und seine Freunde ermordet.
Er konnte sich nicht mehr halten; sank zu Boden.
Zerstört; am ganzen Körper zitternd nahm er noch wahr, wie die Augen des alten Maestros, vor Verzückung auf seine baldige Erlösung leuchteten; wie die Finger von the Creature zu seinem Herzen wanderten und sich leicht in die Haut bohrten.
"Es hat spaß gemacht, mit dir zu arbeiten" flüsterte sie ihm ins Ohr, bevor ihre Nägel langsam, fast genüßlich zustachen. Sie schob seine Rippen, die weich wie Wachs schienen, beiseite. Ihre Hand umschloß langsam sein Herz. The Creature blickte zynisch lächelnd auf Caleb und im selben Moment spürte er das hektisch schlagende Herz des alten Maestros zwischen den Fingern. Es zuckt schleimig in einem schnellen, aber gleichmäßigen Rhythmus und Caleb konnte das Blut in den Adern zirkulieren fühlen; fühlen, wie es strömte, pochte.
The Creature bohrte ihren Daumennagel in den Muskel des schlagenden Herzens. Es schlug noch einige Male in heftigen, krampfhaften Stößen, bis es schließlich verstummte, der Blutfluß versiegte und der alten Maestro nach Tausenden von Jahren endlich erlöst war.
"Und nun zu dir, my friend of misery." Sie ließ das erschlaffte Herz los, das schwammig gegen den Leichnam des alten Maestros platschte und ging gemessenen Schrittes auf Caleb zu.
Sie hatte ihn innerlich zerrissen; vollkommen zerstört. War er früher ein Schatten seiner selbst gewesen, waren da jetzt nur noch blutige Trümmer. Sie hatte ihm alles genommen, was er je in seinem Leben liebte; ihn zum Instrument; zum Spielzeug zu ihrem Vergnügen gemacht, aber diesen einen Sieg wollte er ihr nicht gönnen.

Noch einmal blitzte Entschlossenheit in seinen Augen auf. Er war völlig jenseits aller Kontrolle. Mit einer letzten Kraftanstrengung gelang es ihm, sich hochzustemmen. Taumelnd stürzte er zur Tür. Sie schwang unter seinem Gewicht auf und er stolperte ins Freie.
Der Kiesstrand, auf dem die Hütte stand, bot ihm kaum Halt und er fiel immer wieder hin, doch er raffte sich immer wieder auf, schleppte sich, körperlich und geistig zerstört; jedoch in einer, sich selbst verzehrenden Raserei, daß ihn nichts aufzuhalten schien. Selbst the Creature schien Abstand zu ihm zu nehmen. Er war völlig außer sich; hatte sämtliche Kontrolle über sich - seinen Körper und seinen Geist - verloren, war unberechenbar.

Die letzten Meter über den, in honigfarbenes Licht getauchten, spätabendlichen Strand kroch er auf allen vieren. Seine Hände wühlten sich, nach Halt suchend, durch den nassen Kies. Sobald seine Haut in Berührung mit dem ätzenden Wasser kam, begann sie, sich aufzulösen, schlug sie die ersten blutigen Blasen. Bald waren seine Hände und Knie blutverschmiert.
Ein paar Meter im Meer verließen ihn die Kräfte und er fiel der länge nach in die nun aufschäumende See. Widerstandslos; wie tot trieb er in den, ihn freudig umspülenden Wellen, als wäre er ihr neues Spielzeug.
Sie trieben seinen Körper immer weiter hinaus. Er fühlte sein ende kommen; spürte, wie sein Körper, unbehellig von Schmerzen, aufgab; wie das lang ersehnte Ende näherkam.
Sein Fleisch löste sich von seinem Körper; Augen, Nase und Mund begannen sich aufzulösen; blutiges Fleisch wurde freigelegt.
Er wurde von den Wellen hin und her geworfen. Fetzen von Fleisch fielen von ihm ab und begleiteten ihn, zerfallend, noch eine Weile im Spiel der Wellen. Bald waren Haut und Fleisch auf seinem Gesicht weggeätzt, und das Wasser drang in seinen Mund, in seine Speiseröhre und schließlich in seinem Magen.
Nun würde es nicht mehr lange dauern.
Immer schneller ging sein Zerfall vonstatten, und je mehr er sich auflöste, um so friedlicher fühlte er sich angesicht der Erlösung; angesichts ewiger Ruhe.

Sein Kadaver trieb schlaff, seine Knochen nur noch von zähen Sehnen zusammengehalten im Meer. Caleb war endlich erlöst. Er hatte endlich sein Frieden gefunden.


- Maestro Sartori; 13.01.2001 - 17.8.2002
 

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