... für Leser und Schreiber.  

Oleg

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© Robert Zobel   
   
2002 im Monat April. Ostern war vorbei und Oleg war nach Schwerin gekommen.
Nervenklinik, Jugendneuropsychiatrie, Station 23, 2-Bettzimmer.
Oleg war 12 Jahre alt und hatte eine Chromosomabnomalie, also das Downsyndrom. Er war in seinem Dorf: "Bobitz" nicht gut aufgehoben, was die medizinische Hilfe anbelangte und so befanden seine Eltern, dass es das beste sei, ihn nach Schwerin zu schicken. Oleg war nicht "krank" aber dies konnten die Eltern nicht verstehen aber dies ist eine andere Geschichte.
Er hatte einen kurzen, runden Kopf, einen stets offenen Mund aus der die geschwollene Zunge blitzte und das herzhafteste Lachen, dass man sich vorstellen kann. Für ihn gab es immer einen Grund sich zu freuen und zu lachen. Dann leuchteten seine Kinderaugen schöner als Diamanten und strahlten einem bis ins Herz. Vor allem war es wahre Freude die man erkannte, wenn man ihn ansah und augenblicklich fing man an, mit ihm zu lachen.
Vielleicht sollte auch ich mich vorstellen! Ich heiße Thomas und arbeite als Krankenpfleger just auf genau der Station, auf der auch Oleg lag. 4 Monate hab ich mich um Oleg gerne gekümmert, viel mit ihm gelacht, bis, ja bis......

Der letzte Ausflug führte Oleg und mich nach Kiel in den botanischen Garten. "Ein Aut, zwei Aut, drei Aut". Er zählte fortwährend die Autos, die an unserem vorbeifuhren und als wir nach zwei Stunden in Kiel angekommen waren, verkündete er stolz: "Du Tommi 722 Aut" und er lachte bis über beide Ohren und nahm meine Hand. Natürlich waren es niemals so wenig Autos gewesen aber dies war im Grunde auch egal und ich lobte ihn und streichelte sein wirres Haar.
Der Garten war gut besucht. Ein wenig zu gut, wie ich fand. Nicht das mir Oleg peinlich war aber ich vermied des Kindes wegen eben immer größere Zusammenkünfte, weil sich immer ein paar Idioten darunter befanden. Besonders unter Schulklassen und davon waren an diesem Sonntag genug hier. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal vorher anzurufen und zu fragen wie viel Andrang sei.
Die ersten Blumen und Bäume ließen Olegs Augen leuchten und man sah, dass es ihm sehr gefiel. Aufgeregt lief er von Blüte zu Blüte. So bemerkte er auch die Blicke nicht, die auf ihn zielten oder das Getuschel und Lachen der Klassen.
Oleg war ganz auf die bunten Farben fixiert und staunte. Er nahm vielleicht mehr als wir wahr. Vielleicht sah er di Farben anders oder sie erzählten ihm Geschichten. Von manchen Blumen und Kakteen musste ich ihn regelrecht wegschleifen aber dann gab es auch Pflanzen um die er einen großen Bogen machte und ein wenig zitterte. So gut es ging, erklärte ich ihm die einzelnen Blumen und warnte ihn vor den spitzen Dornen der Kakteen, denen er sich schon zu oft gefährlich genähert hatte.
Der botanische Garten war zum Teil überdacht und in diesen überdachten Räumen hatte man ein paar Erdregionen nachgebildet. Genauer gesagt die Klimazonen. Da gab es die Steppe, die Wüste und zu guter Letzt den Tropenwald auf den ich mich besonders freute.
Als wir im Tropenwald angelangt waren überschlugen sich meine und wohl auch Olegs Sinne. Überall Grün, leuchtende Blüten und dann diese warme, nasse und schwüle Luft die man schon fast trinken konnte. Nur ein schmaler Weg führte durch das grüne Dickicht und endete dann in der Mitte an einem künstlichen Teich auf dem riesige Blätter lagen. Sie sahen aus wie Teichrosenblätter nur viel größer.
Neben dem Teich stand ein Schild mit einem Foto und weil wir bisher uns jedes Schild angeschaut hatten und ich halt alles erklärte, was darauf zu sehen war gingen wir dort hin. Es dauerte sicher eine halbe Stunde, denn überall blieben wir stehen und schauten uns satt.
Dann waren wir angekommen und sahen auf diesem Foto, ein Kind auf eines der Blätter sitzen und darunter stand dann irgendwas mit der Tragkraft des Blattes. Ich erklärte Oleg das Bild und scherzte, dass sogar ein Elefant, Olegs Lieblingstier, auf so einem Blatt Platz hätte und dabei natürlich nicht untergehen würde. Da wurden seine Augen wieder zu kleinen Kristallen und liebkosten auf eine unbekannte Art mein Herz.
Wie er bei uns auf der Station in den Spielen gelernt hatte, machte er nun einen Elefanten nach und posaunte sehr laut. Natürlich hafteten wieder alle Blicke auf ihm und man lachte ihn schlichtweg aus. Auslachen kannte Oleg aber nicht und deutete dies so als freudiges mit ihm lachen und das spornte seine Elefantenaktivität noch mehr an.
Als dann irgendwann die Puste aus dem kleinen Elefanten raus war und dafür meine Blase voll, setzte ich Oleg auf eine Bank an den Teich und sagte ihm, er solle die Blätter auf dem Wasser zählen und sich nicht von der Bank bewegen. Er nickte, lächelte und ich ging in Richtung Toiletten. Natürlich ließ ich Oleg nicht gerne allein aber ich wusste das er sehr traurig gewesen wäre, wenn ich ihn aus dem Tropenparadies in ein schlichtes Klo geführt hätte. Ich beeilte mich aber ich weiß jetzt das es nicht reichte....

Schon als ich die Toilettentür wieder aufstieß, hörte ich das Lachen von vielen Menschen, schmunzelte ein wenig und stellte mir vor, dass Oleg der kleine Elefant wieder erwacht sei und nun durch die Menge posaunte. Doch als ich in das Tropenareal eintrat verlor ich dieses Schmunzeln vielleicht für immer.
Ich stand 3 Sekunden wie gelähmt da und heute kommen mir diese 3 Sekunden wie 3 Minuten vor. Eine Menschenmenge stand um dem Teich herum und lachte und inmitten der Rosenblätter sah ich Oleg strampeln und um Hilfe brummeln, was natürlich niemand außer ich verstand. Aus der Erstarrung gelöst, schubste ich im Lauf ein paar Schüler zur Seite, sprang in den Teich und genau in dem Moment, in dem Oleg aufhörte sich zu bewegen, hatte ich ihn gepackt und in meine Arme gelegt.
Nun wurde die Masse stumm und eine Lehrerin bewegte die Klasse zum weitergehen. Keine Ahnung, wo sie vorher war.
Behutsam legte ich Oleg zwischen ein paar Farne, wischte das nasse Grün aus seinem Gesicht und in diesem Moment kamen mir die Tränen. Mir war, ich weiß nicht warum, in diesem Moment klar, dass Oleg sterben würde und das sein Ende belacht wurde. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Seine Augen waren trübe und von dem einstigen Strahlen zeugte nichts mehr. Auch sein Lachen war verschwunden. Doch er atmete, öffnete die Augen und sah sich meine Tränen an. So, als hätte er nie welche gesehen und als hätte es mit zum Ausflug gehört. Leise zählte er "Eine Tran, zwei Tran".
Ich schaute ihn an und sah nun etwas sehr weises in ihm. Er strahlte Stärke aus und zeigte keinerlei Angst vor dem was kommen würde und mir war klar, dass er sich darüber bewusst war.
Auf einmal, schaute er hinter mich, deutete auf irgendwas, lächelte und sprach dann mit allerletzter Kraft "Ein-Falt". Ich drehte mich um, erkannte den Spiegel, Oleg, Mich und über Oleg einen wunderschönen Schmetterling der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Noch einmal sprach Oleg, nun merklich leiser: "Ein Falt", ich weinte und erwiderte mit einem gestellten aber doch echtem Lächeln "Viel Falt Oleg, Vielfalt". Dann schloss Oleg seine Augen und ich spürte in meinen Armen, wie ganz langsam das Leben aus seinem Körper schwand.

Nie habe ich ein Kind wieder soviel Zuneigung entgegengebracht wie damals Oleg. Vielleicht, weil ich Angst habe noch so einen Schmerz zu erleben. Vielleicht aber auch, weil Oleg ein ganz besonderer, liebenswerter Mensch war, der vielleicht weiser war als die Menschen die es von sich behaupten. Nicht einfältig wie diese sondern vielfältig in seinem Tun und Denken.

Später stand in der Zeitung, man hatte wohl einen Augenzeugen befragt, Oleg sei wie verrückt auf die großen Blätter im Teich gesprungen und hätte immerzu " Ein Blatt, zwei Blatt, drei Blatt" geschrieen.
 

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