... für Leser und Schreiber.  

Laub an ihrem Körper

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© Mirja (Russell) Brandt   
   
„Dort sind sie. Ich kann sie sehen. Da, wie sie den Weg entlang gehen. Eingehakt, den lieblichen Ausdruck in ihren Gesichtern. Die verfärbten Blätter umher wirbelnd. Das gegenseitige Verlangen lässt sich nicht leugnen. Die Weise, auf die sie ihre Schritte setzen, träumend in den Himmel der Leidenschaft. Gleich werden sie stehen bleiben, die Landschaft betrachten und sich gegenseitige Liebe schwören. Im Schatten der Bäume, umgeben von Stille, klingt ja auch alles so romantisch!
Doch einst ging jemand anderes an seiner Seite, und einst stand jemand anderes hinter diesem Baum. Nichtsahnend folgen sie dem Weg, doch bald wird auch sie das Schicksal erhaschen, das Schicksal, das auch mich einst traf. Er wird sie verführen, ,ja, doch nicht lange wird dieser Moment des Glücks andauern. Er lockte sie alle hierher, und alle habe ich gesehen, wie auch ich einst gesehen wurde. Doch jetzt wird enden, was vor langer Zeit begann, und keine Spur wird man verwischen müssen.
Ich fühle die Klinge in meiner Hand, die vor lauter Aufregung meine Finger zerschneidet. Noch fünf Minuten und sie erreichen die Stelle, die Stelle, an der auch ich einst stand. Ja, gleich werden sie sich dort niederlassen, auf der Decke, auf der auch ich einst lag. Doch alles hat ein Ende.“

Die alte Frau sprang hinter einem Baum hervor und stürzte sich auf eine alte, zerfressene, vermoderte Decke, die sie mit hemmungsloser Gewalt in Stücke riß. Mit ihren blutigen Händen verschmierte sie ihr Gesicht.
Sie hob die Klinge empor und starb mit einem Schrei.
Als die Anstaltsärzte den toten Körper bargen, sagte man, sie habe immer von Laub an ihrem Körper gesprochen.





 

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