... für Leser und Schreiber.  

Bilder

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© Mirja (Russell) Brandt   
   
Es war keine schöne Zeit. Der Himmel war grau. Die Gesichter der Menschen betrübt und von Schmerz und Leid gezeichnet. Es war keine schöne Zeit.
Vor allen Dingen für sie war es eine schreckliche Zeit. Sie saß in ihrem kleinen Häuschen am Stadtrand. Ihr Gesicht war von Falten übersäht .Sie saß da und malte. Sie malte ihr Herz, den Schmerz und das, was sie liebte. Am Anfang der Woche malte sie ihr Haus, eine Kutsche und einen Mann in Uniform.
Das Bild war nicht von großer Kunst, doch sie konnte stundenlang da sitzen, es betrachten und starren. Sie tat den ganzen Tag nichts anderes. Sie aß nicht, sie ging nicht aus dem Haus, sie las nicht. Alle Dinge, die sie vorher tat, waren Vergangenheit. Sie hatte vorher nie gemalt, doch nun vermochte sie an nichts anderes zu denken..
Am nächsten Tag malte sie das zweite Bild. Sie malte eine Stadt, zertrümmerte Häuser, tote Menschen. In der Mitte des Bildes stand wieder der Mann in Uniform. Sein Gesichtsausdruck war kalt und leer. Sie weinte. Sie starrte und weinte.
Am dritten Tage malte sie wieder. Diesmal malte sie das ganze Blatt grün und sie stand auf und sah in die Ferne. Sie sprach zu Gott und bettelte um Gnade.
Am vierten Tag hielt die Postkutsche vor dem kleinen Häuschen. Der Bote warf einen schwarzen Brief ein. Als sie den Brief fand, fing sie an zu schreien und brach zusammen. Bis zum Abend lag sie regungslos auf dem hölzernen Fußboden ihres kleinen Häuschens. Sie traute sich nicht den Brief zu öffnen, sie brauchte es nicht, denn sie wusste, was er bedeuten sollte. Mitten in der Nacht erhob sie sich und malte ein neues Bild. Sie malte wieder die Stadt, wieder die toten Menschen, wieder die zertrümmerten Häuser. Aber es war kein Mann auf dem Bild zu finden. Nur die Umrisse eines Menschen konnte man erkennen, ein weißer, nicht bemalter Fleck mitten im Bild.
Sie malte noch ein Bild. Im Hintergrund sollte die Sonne hinter den hohen Bergen untergehen. Davor stand sie, blickend in die tiefe Schlucht. Ab diesem Tag sollten ihre Blätter weiß bleiben.
Am nächsten Morgen kam eine Droschke die Straße entlang. Ein Mann stieg aus und lief geradewegs zum Häuschen. Er wunderte sich, denn Tür war nicht verschlossen. „Mutter, Mutter, ich bin wieder zurück. Mutter, wo bist Du?“
Er durchsuchte das ganze Haus, doch seine Mutter fand er nicht. Das einzige, was ihm in die Hände fiel, waren der Brief und die Bilder. Er fragte sich. warum sie seinen Brief nicht geöffnet hat. Er betrachtete die Bilder. Und dann verstand er. „Aber ich lebe!“ Er warf sich zu Boden, schrie denn er wusste, was er getan hatte. Als er dann am Boden, zusammengekauert in einer Ecke lag, wie eine scheue Katze, bemerkte er ein zusammengeknülltes Stück Papier. Es war das letzte Bild.
Er lief hinaus, der Himmel war bewölkt, gleich würde es anfangen zu regnen. Er rannte so schnell er konnte. Er kannte den Ort, diesen Weg, seine Mutter und er gingen ihn immer als er noch ein Kind war. Er führte auf einen kleinen Berg, man hatte eine schöne Aussicht von dort. Nach einer halben Stunde war er am Ziel. Er sah seine Mutter, stehend am Abhang. Er wollte zu ihr laufen, doch seine Kräfte ließen langsam nach. Er rief sie: „Mutter, Mutter, nein!“
Mit einem Ruck drehte sie sich um und sah ihren so lang ersehnten Sohn. Ihr Schmerz war vergessen, sie konnte es nicht glauben! Er lebte! Doch ihre Liebe zu ihm sollte ihr Ende sein. Vor lauter Freude taumelte sie und stürzte den Abhang hinunter.


 

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