... für Leser und Schreiber.  

Die Droge der Schriftsteller

167
168 Stimmen
   
© Mirja (Russell) Brandt   
   
Es ist das Gefühl, einfach ein Gefühl, das man nicht einordnen kann.
Es ist eine Art Kribbeln in den Fingerspitzen, eine innerliche Unruhe, Nervosität, man glaubt schreien zu müssen, läuft hektisch auf und ab.
Bilder schießen einem durch den Kopf , Bilder um Bilder, Gedanken um Gedanken. Man hört Stimmen, sie streiten, sie lachen, sie weinen und flüstern. Lauter und lauter werden sie, lauter und lauter werden die Herzschläge, schneller und schneller, das Atmen, das Gehen. Hände raufen die Haare, Tränen rollen über Wangen, dieser Druck, dieser schreckliche Druck, man droht zu zerspringen zu zerbrechen an Bildern, Stimmen, seinen eigenen Gedanken.

Und dann, plötzlich Stille. Man bleibt stehen. Schwäche durchzieht den Körper, man lässt sich fallen, auf einen Stuhl, auf ein Bett, auf eine Couch, auf den Boden, ganz gleich, was es ist. Man fühlt nichts, bloß Leere. Der Druck ist verschwunden, man kann sich nicht bewegen. Es ist wie ein Schock, eine Angst. Man kann nichts hören außer dem Pochen seines Herzens. Man kann nichts sehen außer der Bilder. Die Augen geschlossen liegt man da. Man weiß, man wird etwas tun, man muss etwas tun, etwas vollbringen, man muss schreiben. Man muss es, sonst kommt der Druck wieder, er wird stärker und stärker und man weiß, man wird ihm nicht standhalten können, man wird daran zu Grunde gehen, sterben vielleicht.
Man hat keine andere Wahl und so erhebt man sich langsam, ganz langsam, man öffnet die Augen, andere Augen als vorher und starrt, starrt in den Raum, in die Leere. Man nimmt nichts anderes wahr, außer der Feder, Papier, Tinte, Zigaretten vielleicht.
Alle Sinne sind konzentriert, geschärft. Jede Sekunde, jede Minute ist wichtig, sie vergehen langsam, so langsam, dauern Jahre.
Man lässt sich nieder, langsam, ganz langsam, an seinem Platz, an seinem gewohnten Platz, wo man schon viele Stunden verbracht, verzweifelt ist, Gutes vollbracht hat, Triumphe ausgeschrieen, geweint und geträumt, geschrieben hat.
Man atmet die wohlbekannte Luft, riecht den Duft der Zukunft, des Unerwartetem. Man hat kein Motiv, keine Idee, man hat nur ein Bild, ein Bild im Kopf.
Man schließt die Augen, man beginnt zu schreiben.
Gefühle durchbrechen die Mauern ihrer Gefangenschaft, zerschmettern die verriegelte Tür.
Die Hand wird zitterig, die Schrift immer unleserlicher, wie Hieroglyphen sieht sie aus, verschlüsselte Zeichen.
Der Geist läuft schneller, zügiger, lässt sich nicht aufhalten, der Körper ist zu schwach, langsamer, kommt nicht mehr mit.
„Lass Dir Zeit. Blieb ruhig.“ sagt man sich, aber man will nicht gehorchen, man kann nicht gehorchen, man ist Opfer, Opfer der Droge, Opfer des Schreibens.
Was bewirkt sie? Manchmal bewirkt sie Wunder, manchmal Schlechtes. Man kann es vorher nicht sagen, man weiß nicht was wird, solange die Droge beherrscht. Man kann sie nur walten lassen, willkürlich, man hat keine Chance, kann sich ihr nicht entziehen, sich nicht weigern.
Man schreibt und schreibt, lässt die Feder über das Papier streichen, schneller, immer schneller zeichnet sie ihre Wörter.

Dann, nach kurzer Zeit, nach langer Zeit, man kann es nicht bestimmen, fallen Feder und Papier nieder. Die Droge lässt nach, die Wirkung verfliegt und man ist zufrieden.
Man fühlt wieder die Leere, schließt wieder die Augen, fällt wieder auf den Boden, auf das Bett oder die Couch.
Die Gedanken schweifen ab, man fühlt sich ausgelaugt, blutleer, will schlafen, ist müde. Man tut es meist, friedlich und ruhig, keine Bilder schwirren durch den Kopf, keinen Stimmer strapazieren das Gemüt.
Irgendwann, wenn sich Geist und Körper erholt, die Sinne normalisiert haben, erwacht man. Kein Druck, keine Droge. Man hat vergessen, verdrängt vielleicht. Man liegt da und erwacht langsam, ganz langsam, nimmt leise Geräusche wahr, denkt an nichts.
Dann öffnet man die Augen, blickt durch den Raum. Man sieht das Papier, die Feder, das Geschriebene und man lächelt zufrieden
Man berührt das Vollbrachte, das einem so unbekannt vorkommt. Man betrachtet es als etwas Unerreichbares, etwas Fremdes. Man liest, kleine Härchen stellen sich auf, ein Schauer läuft den Rücken hinab und man versteht nicht, man kann es nicht glauben, es ist die eigene Handschrift, es sind die eigenen Worte.
Man hat einen Schlüssel geformt, einen Schlüssel zu seiner eigenen Seele. Warum?
Es ist die Droge, die Droge des Schreibens, die Droge der Schriftsteller.
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 20:22:15