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MHH Hannover

308
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©  Kyra   
   
Medizinische Hochschule Hannover


Seine linke Hand lag locker auf dem weißen Laken. Im rechten Unterarm war der Zugang für die Infusion. Er hatte hohes Fieber, die spröden Lippen öffneten und schlossen sich lautlos. Ein verendender Fisch.
Dies war meine zweite Sitzwache bei ihm. Er hatte sich verändert, seit heute Morgen um sechs meine letzte Wache zu Ende gegangen war. Um seine Augen hatten sich bräunliche Ringe gebildet.
Jetzt war es bald Mitternacht, die stillen Stunden auf der Station begannen. Alle die es wollten, hatten ihr Schlafmittel bekommen, die anderen horchten schweigend in die Nacht.
Es war Sommer. Ein sehr heißer Sommer. Gegen vier würde die Sonne aufgehen.
Die wenigen Stunden der Dunkelheit waren in diesen Monaten der grellen Hitze ein sanfter Genuss.
Als ungelernte Hilfsschwester bekam ich oft diese einsamen Dienste, alleine in einem Zimmer mit einem Schwerkranken. Da gab es nichts zu tun, nur beobachten, warten, die Schwester rufen, wenn der Inhalt der Infusionsflasche zu Neige ging. Hier konnte ich weder etwas richtig machen noch einen Fehler begehen. Ich mochte den Job.
Dieser Junge war höchstens vierzehn, vier Jahre jünger als ich.
Der weiße Verband um seinen Kopf ließ ihn wie ein Kind aussehen. Ein Kind, dem jemand die Haare gewaschen hatte. Da er völlig ruhig lag, das Betttuch locker um den schmalen Körper gelegt, sah er makellos aus, durch seine Blässe fast überirdisch.
Die Stationsschwester meinte, dies sei wohl die letzte Nacht. Die Eltern bestanden zwar dass, jemand die Nacht neben seinem Bett verbringe, waren aber selber schon seit Tagen nicht mehr gekommen. Ein Tumor, unheilbar – das Kind würde sowieso nicht mehr aufwachen.
Ich setzte mich auf den Stuhl am Fußende seines Bettes, das EKG und die Infusion im Blick. Ich hatte diese langen Nächte gerne. Das Absinken in den Tod. Sie nahmen mir die Angst.
Es waren nie dramatische Fälle. Nur ein passives Begleiten der letzten Stunden eines Menschen.
Der Rhythmus der Verrichtungen gab Halt. Jede Stunde den Puls fühlen, die Temperatur messen, einige Kontrollen, alles in einem Block vermerken. Dann wieder warten. Es gab nichts mehr zu kämpfen, zu retten.
Zwei Kreaturen. Worte waren nicht mehr nötig, kein Beschwichtigen. Manchmal ertappte ich mich dabei, den Takt meiner Atemzüge anzupassen - wie man versucht, neben einem anderen Menschen die Schritte anzugleichen.
Ich mochte den vertrauten Geruch des Krankenhauses, Desinfektionsmittel, Urin – ganz leicht -, Jod, manchmal Schweiß und Erbrochenes.
Hier war alles Körperliche gut aufgehoben. Das Zimmer war geräumig, mit angrenzendem Bad, nur ein kleines Nachtlicht brannte, dessen Schein uns vereinte. Gegen die Finsternis.
Der Kunststoffboden schimmerte dunkelgrün, die Wände gelblich, abwaschbar.
In diesem Hospital gab es Heimchen.
Im Schweigen der Nacht, hörte ich ihr beruhigendes Zirpen.
Gegen vier Uhr, in der ersten Dämmerung, stieg das Fieber. Ich rückte meinen Stuhl neben das Bett, berührte den dünnen Arm des Jungen. Trocken und heiß, über zweiundvierzig Grad. Plötzlich öffnete er die Augen. Seine Hände begannen unruhig über das Bett zu tasten, als suche er nach etwas.
Leicht befühlten seine Finger meinen Unterarm. Er zwinkerte nicht, ließ die Augen weit geöffnet. Bald würden sie austrocknen. Vertrocknete Augäpfel. Sie würden milchig werden, während er noch atmete. Beunruhigt rief ich die Schwester. Sie drückte gelassen seine Augenlider zu. Falls er sie wieder öffnen sollte – sie gab mir ein Fläschchen mit Kochsalzlösung – einen Tropfen davon. Bevor sie uns wieder verließ, beobachtete sie ihn einen Augenblick, es sei sowieso bald vorbei. Ich solle erst die Zeit notieren, dann dürfe ich sie rufen. Aber nicht vorher, sie brauche noch ein wenig Ruhe.
Wir blieben alleine zurück, der sterbende Junge und ich.
Nie habe ich seine Stimme gehört. Vielleicht hätte ich ihn widerlich gefunden, eine Nervensäge, ein Angeber…..
Wenn ich ihn ansah, glich er einer langsam atmenden Puppe.
Er roch so wie ich, wie das Zimmer, wie die Welt in diesem Augenblick.
Sein Nachttisch war, bis auf einen ein kleinen Affen, leer. Er saß gebeugt unter der Lampe. Ich nahm das verschlissene Stofftier in die Hände, Sagrotangeruch stieg mir in die Nase. Es gehörte wohl zum Inventar der Klinik.
Ohne es zu bemerken, hatte ich begonnen den Jungen zu streicheln. Mechanisch, eher so, wie man über einen glatt polierten Stein streicht. Seine junge Haut, nicht sinnlich, gefühllos. Ich zwickte ihn leicht. Keine Reaktion. Sofort schämte ich mich.
Der Junge begann schneller zu atmen, schnappte nach Luft, Häppchenweise, schien sie zu schlucken, statt den Atem in die Lunge zu saugen.
Seine Hände wurden immer unruhiger, ich versuchte ihm das Plüschtier zu geben. Aber er stieß es weg, suchte, suchte, suchte……
Jetzt würde es nicht mehr lange dauern.

Später, nachdem wir ihm die Hände gefaltet und das Kinn hochgebunden hatten, schoben wir das Bett in den Keller zu den anderen Betten in diesen kühlen, letzten Raum. Hier unten war niemand mehr, der noch atmete.
Die Eltern wurden durch einen verschlafenen Stationsarzt benachrichtigt. Ich hörte das laute Weinen am anderen Ende der Leitung.
Aber ich war bei ihm geblieben.
Er hat auch sicher nichts mehr gemerkt. Sicher!
Bald käme die Morgenschicht, uns abzulösen. Ich setzte mich in das leere Zimmer und hörte noch ein wenig den Grillen zu.
 

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