... für Leser und Schreiber.  

Es führt kein Weg zurück

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© Marco Frohberger   
   
Es führt kein Weg zurück, alles hat hier begonnen, alles fand jetzt seinen Anfang. Es ist das Ende, das unser Ziel sein wird, das Ende eines Anfangs, welches unser Schicksal beschreibt. Es ist die Realität, die zum Traum wird und der Albtraum, der zur Realität wird. Und es ist die Angst, die uns begleitet, die wir spüren, die uns nicht mehr loslässt. Es ist wie ein Schatten, der ein Teil meines Lebens geworden ist.
Heute lebe ich, doch gestern starb ich, aber ich atme. Ich atme die Luft, die mich erreicht, ich fühle den Schmerz, der mich heimsucht. Ich fühle es so sehr, dass meine Haut kribbelt, überall und ich das Gefühl habe, das die Vergangenheit mich einholt wie einen unglaublichen Zauber. Ich sitze hier bloß und versuche, zu leben, zu atmen, zu empfinden. Ich denke darüber nach, was mit mir geschieht und ich strenge mich an, so nicht zu sein. Ich strenge mich wirklich an, doch ich scheine zu versagen, so sehr ich es auch versuche, es soll nicht sein.
Die Taubheit in meinen Beinen lässt mich lähmen, sodass ich nicht die Wahl habe, etwas an der Situation zu ändern. Ich kann niemanden aufhalten, ich kann nicht dagegen ankämpfen, ich kann nicht schreien, weil meine Stimme schon dann versagt, wenn ich meinen Mund öffne. Aber ich kann sehen, doch das Bild, das sich vor mir auftut, bringt noch mehr Schmerzen, als ich es mir erhofft hatte. Und so wende ich meinen Blick ab, in der Hoffnung, dass dieser Albtraum endlich verschwindet.
Ich sitze hier, auf einer Parkbank. Es ist kalt und um mich herum weht der Wind das bunte Laub durch die Luft. Ich kann sehen, wie der Wind damit spielt und es von einem Fleck zum andern trägt. Ich spüre den Wind auf meiner Haut, ich spüre die Sonnenstrahlen, wie sie versuchen, meinen Körper zu wärmen, doch sie prallen ab, einfach so und ich weiß nicht, wieso.

Jeden Morgen beschleicht mich das Gefühl, nie richtig eingeschlafen zu sein, so sehr zeichnete mich mein Schlaf. Mein Gesicht sieht verknittert aus, schwer ringe ich nach Luft und versuche das Bild im Spiegel zu meiden. Ich greife zur Seife und wasche mich um frisch für den langen Tag zu sein. Dann ziehe ich mir meine Kleider über, frühstücke aber nichts, sondern trink nur einen Tee von gestern. Wenig später mache ich mich auf den Weg in die Arbeit, womit ein Großteil meines Tages vergeht. Gedankenverloren gehe ich meiner Tätigkeit nach und erinnere mich an den vorherigen Tag, an dem ich einiges hätte anders machen können.
Während ich mit Freude dem Ende meiner Arbeit entgegen fiebere, freue ich mich bereits auf ein Ereignis, dass ich mir seither nicht mehr nehmen lasse. Jemanden zu besuchen, der mir am Herzen liegt.
Es dauert nicht lange, bis ich fertig bin und mich auf den Weg nach draußen mache. Wie jeden Nachmittag mache ich mich auf den Weg, weit weg von hier. Mit dem Auto ist es ungefähr eine Stunde, bis ich endlich dort angekommen bin, wo ich wirklich sein wollte. Nichts anderes konnte mich mehr gewinnen, als die Tatsache, meiner Sehnsucht Einhalt zu gebieten.
Es ist ein Ritual, welches ich verfolge, auch wenn mich mein Gewissen plagt, etwas zu ändern und meine Einstellung zu überdenken. Einen Fehler mache ich nicht, einen Schritt vorwärts auch nicht. Es ist Respekt und ein Gefühl, dass mit einem Mal zerstört sein könnte.
Es ist nicht mehr besonders warm, dennoch saßen einige Besucher auf der Terrasse und genossen ihren Kaffee. Ich dagegen setzte mich abseits der Menge auf meinen Stuhl neben einen weißen Tisch. Mein Herz schlug und es wollte nicht aufhören, noch schneller zu schlagen. Ich versuchte mich zu beherrschen, doch ich hatte es nicht unter Kontrolle, wie immer. Ich fürchtete mich davor, etwas falsch zu machen. Zurückgelehnt nahm ich mir vor, mich zu beruhigen und einen Blick über das Wasser zu genießen, dessen stille Oberfläche wie ein Spiegel der Natur war. Auf dem schmalen Holzsteg saßen ein Junge und ein Mädchen, Händchenhaltend. Ich hatte das Gefühl, die Liebe zwischen den beiden zu spüren.
Erschrocken stellte ich dann fest, dass sie auf mich zukam. Sie lächelte und in ihren warmherzigen grünen Augen erkannte ich ihre Freude, mich wieder zu sehen. Sie war wie jeden Nachmittag wunderschön und ihr meerblaues Halstuch, das sie jeden Tag trug, machte sie noch anschaulicher. In mir ging ein gutes Gefühl auf, als würde meine Sehnsucht beantwortet werden.
?Hallo Michael, schön das du da bist?, begrüßte sie mich mit ihrer weichen Stimme. Sie traf immer den richtigen Ton und wusste mich zu beeindrucken, ohne, das sie was davon wusste.
Ich rang in diesem Moment nach Luft, denn ich verlor mich gerade in ihren grünen Augen. Ich versuchte, mich zu entschuldigen und ein Wort herauszubringen, doch in diesem Augenblick versagte mir alles. Das war mir bisher noch nicht passiert.
?Das gleiche wie gestern??, fragte sie lächelnd, während ihr Blick auf mir ruhte. Mein Herz pochte und die Scham über mein peinliches Verhalten resultierte durch meine rot gewordenen Wangen. Ich nickte zustimmend auf ihre Frage und wendete mich sogleich wieder ab. Ich hoffte, dass sie nichts gemerkt hatte. Dann drehte sie sich wieder um und kehrte zurück in das kleine Cafe, in dem sie nach der Schule aushalf.
Während ich allein an meinem Tisch saß, beobachtete ich sie unauffällig. Sie trug heute eine dunkelbraune modische Jeanshose die über ihre weißen Turnschuhe fiel, während ihre dunkelblaue Weste gerade einmal den Bund ihrer Jeans streifte. Sie trug ihr Haar offen und steckte sich die Strähnen, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen, in einem unbedachten Moment hinters Ohr.
Wenig später brachte sie mir meinen Kaffee. Ich wunderte mich, dass es heute so schnell ging und freute mich auf den Moment, wenn sie hier her kam. Sie lächelte wieder über ihre wundervoll geschwungenen Lippen und in mir eröffnete sich ein Gefühl wie eine warme Umarmung, die mich nicht mehr loslässt. Es war schwierig für mich, sie nicht anzusehen und gleichermaßen kompliziert, dadurch nicht aufzufallen. Doch jedes Mal, wenn ich sie ansah, trafen sich unsere Blicke sofort und verschmolzen in einen Moment der Zeitlosigkeit, als würden wir uns nichts anderes wünschen, als diesen Augenblick.
?Hier dein Kaffee?, sagte sie mit leiser Stimme. Sie sah mich an, während sie den Kaffee vor mir absetzte. ?Ich hoffe, er schmeckt dir?, fügte sie noch hinzu, während sie die rote Serviette daneben platzierte.
Ich sah sich an, bis ich bemerkte, dass ich meinen Blick gar nicht mehr von ihr wandte. Sie machte einen geschmeichelten Eindruck und wartete noch kurz. ?Danke, sehr nett?, brachte ich nur zögerlich über meine Lippen und versank in einem Traum, den ich mir nichts sehnlicher wünschte, als das er sich erfüllte.
?Ist alles Ok mit dir??, fragte sie nachdenklich, als ihr Blick kurz über die Schulter fiel. Sie wollte sich nur vergewissern, dass auch jeder bedient war. Es war aber nicht viel los.
?Es ist sehr schön hier?, sagte ich, während ich versuchte, ihre Frage in den Hintergrund zu stellen. Stirnrunzelnd wagte sie einen Blick über den weiten See und dann wieder zu mir zurück.
?Ja, es ist sehr ruhig heute, schön zum entspannen. Ich sehe dich jeden Tag hier. Gefällt es dir hier so??
Sie legte ihre Hand auf die Lehne eines Stuhles, an dessen Tisch ich saß. Sie erschien mir so zart, so einfühlsam wie bei niemand anderen, den ich bisher gesehen habe.
?Ja, es ist so wunderschön hier, dass man sich verlieren könnte?, meinte ich träumerisch. Es war ein außerordentlich schönes Gefühl, sich mit ihr zu unterhalten. Mein Herz schlug immer schneller. Ich versuchte, es nicht zu zeigen, wie nervös ich doch war.
?Freut mich, dass es dir gefällt, Michael.?
Sie war schon drauf und dran, wieder an die Arbeit zu gehen, da fiel mir ein, was ich sie noch fragen wollte. Es war eigentlich nur ein Grund, sie weiterhin aufzuhalten, damit sie wenigsten nur heute in meiner Nähe sein konnte.
?Entschuldige bitte, aber eines wollte ich dich noch Fragen. Ich hoffe, ich halte dich nicht von deiner wichtigen Arbeit ab.?
Es war mir gerade in diesem Moment peinlich, sie davon abzuhalten, zurück zu ihrer Arbeit zu gehen, da sie doch voller Erwartung vor mir stand und darauf wartete, was ich sie fragen wollte. Stotternd versuchte ich meinen vorherigen Rhythmus zu finden und die Frage, die ich ihr stellen wollte. Das war alles gar nicht so einfach.
?Was möchtest du mich fragen??, wartete sie gespannt. Sie sah mich wieder so bezaubernd an. Es waren ihre Augen, die mich festhielten, es war ihr Lächeln, dass mich verstummen ließ und es war ihre Wärme, ihre Ausstrahlung, die mich lähmte.
?Ich wollte dich fragen, ob du, ich, ehm?, ob du vielleicht dann, später, einen Moment Zeit finden könntest, für mich??
Es war schwierig, diese Frage zu stellen und noch viel schwieriger, der Moment, der zwischen Ende der Frage und Beginn der Antwort lag. Es war eine unglaubliche Stille, als hätte jemand die Zeit angehalten. Mir wurde unglaublich warm und ich begann zu zittern, ich bekam riesige Angst. Doch Vanessa lächelte nur und sah mir tief in die Augen, wie es bisher niemand anderes getan hatte.
?Es wäre schön, ja?, antwortet sie und ging dann wieder an ihre Arbeit. Ich war erleichtert und mein Herz ebenso. Es klopfte und klopfte und ich fühlte mich frei, als hätte ich eine Prüfung bestanden, die genau für mich bestimmt war. Ich weiß nicht, was es war, aber es war das schönste Gefühl, dass ich je in meinem Leben erleben durfte. Ich trank meinen Kaffee und wartete.

Es ist nur noch die Parkbank, die mich in den Arm nimmt und versucht, festzuhalten. Es ist das Laub, das meiner Aufmerksamkeit gilt und es sind die dunklen Wolken, die am Himmel aufziehen und die Kälte prophezeien, die in meinem Herzen bereits wohnt. Ich sitze auf dieser Parkbank und beobachte das Laub, wie der Wind es von einem Ort zum andern trägt. Die Kälte auf meiner Haut spüre ich schon lange nicht mehr. Das einzige, das mich befällt, ist jene Einsamkeit, die ich seither an mir habe. Seitdem ich das letzte Mal in diesem Cafe saß und wartete, auf einen Moment, der niemals hätte Wirklichkeit werden sollen. Ich habe über fünfzig Jahre gewartet, auf gerade diesen Moment. Es waren ihre letzten Worte, die mir in Erinnerung blieben und ihr unbeschreibliches Lächeln, das mein Herz erwärmte. Sie war die Liebe meines Lebens, doch hatte ich es ihr nie gesagt. An ihr hatte ich mein Herz verloren, sie war in meinem ganzen einsamen Leben der einzige Mensch, der mir etwas bedeutet hat. Sie war meine Familie, sie war mein Glück, sie war mein Leben, sie war es, die mein Leben erst lebenswert gemacht hatte. Ich hatte ihr niemals davon erzählt, ich hatte es ihr niemals gezeigt, weil es mein Geheimnis war.
Und seither besuchte ich sie jeden Tag. Das Cafe gibt es nicht mehr, anstelle steht hier diese Parkbank, auf der ich sitze und die spiegelnde Oberfläche des Sees beobachte. Ich sah sie nach unserem letzten Augenblick nie wieder. Es brach mir das Herz. Und ich warte noch heute, in der Hoffnung, dass sie zu mir zurückkehren wird.

Neben Michael saß Vanessa auf der gleichen Parkbank. Das Bild zeigte ein altes Paar, Vanessa und Michael dicht beieinander, als wären sie in ihrem Leben niemals voneinander getrennt gewesen. Sie trug einen dicken Schal und einen weiten Mantel, ihre grünen Augen wirkten blass und kalt, ihr Blick stumm und einsam. Eine Träne floss ihr über die eiskalte Wange. ?Es tut mir so Leid, dass ich nicht mehr die Gelegenheit hatte, dich zu sehen?, sprach Vanessa mit zitternder leiser Stimme vor sich hin.
?Mir tut es Leid, dass ich gegangen bin, ohne dir jemals ein Wort gesagt zu haben, was ich für dich empfand?, sprach Michael mit leiser Stimme.
Vanessas Blick fiel nach unten auf die Parkbank. Dort entdeckte sie eine merkwürdige Gravur. Ein kleines Herz in dem ihr Name über dem von Michael geritzt war.

Michael war nach ihrem letzten Gespräch seinem langjährigen Krebsleiden erlegen. Vanessa verzieh sich bis heute nicht, dass sie ihm ihre Liebe nicht gestanden hatte.
Michael kehrt jeden Nachmittag zu diesem Ort zurück in der Hoffnung, dass Vanessa irgendwann auf ihn warten wird.
 

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