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Spaziergang am Heiligabend

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© Heike Sanda   
   
Verdammt, ist das duster hier draußen. Gerade mal halb fünf, und es ist bereits tiefe Nacht. Alles still, fast schon gespenstisch. Nur meine Schritte hallen auf dem Pflaster, verursachen ein Echo.

Daheim wartet mein Mann darauf, dass ich meinen Spaziergang beende. Um sechs will ich zurück sein, dann hat er heißen Vanilletee und selbstgebackene Zimtsterne bereit. Anschließend halten wir unsere kleine „Bescherung“, und anschließend fahren wir zum großen Familienessen.

Wie oft nehme ich diesen Weg in jedem Jahr auf mich? Keine Ahnung. Nie gezählt. Heute muss ich ihn allerdings zu Fuß bewältigen. Es ist Heiligabend, und es fährt schon längst keine Bahn mehr.

Markt und Straßen stehen verlassen, still erleuchtet jedes Haus...

Klopf, poch... nichts zu hören außer meinen Schritten. Durch die Fenster der Parterrewohnungen kann ich sehen, dass die Bescherung bei vielen Familien bereits begonnen hat. Lachend und plaudernd stehen die Eltern Arm in Arm da und betrachten die Kinder, die unter lautstarkem Jubel Pakete aufreißen, sich schubsen, kreischen, des anderen Geschenke kommentieren.

Weihnachten ist ein Fest der Kinder.

Lasset die Kindlein zu mir kommen...

So ein Quatsch. Schwachsinn.

Wenn du Kinder willst, besorg dir doch selber welche... – Blödmann.

Upps. Spricht man so mit einem Geburtstagskind? Schnell an was anderes denken.

Ihr Kinderlein kommet...
Ob einer von den Drei Königen seine Pänz bei sich gehabt hat auf seinem belasteten Freudenmarsch. Hat der sein Kind auf den Arm genommen, zum Himmel gedeutet und gesagt: „Ihr Kinderlein, Komet?“

Jetzt werde ich aber wirklich albern.

Ich habe das Gefühl, dass mein linker Arm immer länger wird. Die kleine, mit goldenen Schleifchen und blauen Satinkugeln geschmückte Tanne ist nur sechzig Zentimeter hoch und wiegt vielleicht zwei Kilo, so mit Topf und allem. Aber wenn man sie so einen langen Weg schleppen muss, wird sie soch ziemlich schwer. Die Tanne wechselt raschelnd den Tragarm.

Freu dich lieber auf den Vanilletee, hmmm..... Ob Marlies diesmal die Backpflaumen- oder die Apfelfüllung für die Gans gewählt hat? Na, ich wird’s ja bald sehen.

Lasst mich ein ihr Kinder, s’ist so kalt der Winter...

Oh ja, kalt ist es. Bitterkalt sogar. Wenn bloß der verdammte Wind nicht wäre. Ob meine Ohren wohl abfallen, wenn ich dagegenschnippse? Und Durst habe ich auch, durch das angestrengte Atmen bei halboffenem Mund. Soll ich nicht lieber langsamer gehen? – Nee, je schneller ich gehe, deste schneller bin ich wieder daheim. Nicht mal die Lippen befeuchten kann ich mir. Sie würden aufplatzen bei dem Wind.

Nur knochentrocken ist es wieder mal. Wie lange habe ich eigentlich keine weiße Weihnacht mehr erlebt?

I’m dreaming of a white christmas... aber wen scheren meine Träume?

Endlich erreiche ich das schmiedeeiserne Tor. Es steht noch offen, aber nur ein kleines Bißchen, so ganz verschämt, als wolle es sagen: Wer heute nacht hier durchgeht, der hat wohl nichts Besseres zu tun. Ein Schild aus weißem Emaille mit schwarzer Schrift belehrt mich, dass um sechs geschlossen wird.

Um sechs werde ich bereits zimtsterneknabbernd über meinem Vanilletee sitzen, mich aufwärmen und darauf warten, dass mein Schatz seine Rasur beendet, damit wir abhauen können.

Ich gehe die breite Eichenallee entlang; außer mir ist hier kein Mensch.

Also nix is mit „leise rieselt der Schnee“, nehme ich meinen Gedankenfaden wieder auf. Wie wär’s mit „leise schnieselt das Reh“? – Aber wissen Rehe überhaupt, wie man schnieselt? Außerdem gibt’s keine Rehe in der Großstadt. Aber Eichhörnchen, wie ich gerade sehe. Was macht dieses putzige kleine Viecherl denn bei der Eiseskälte hier draußen? Müssten die jetzt nicht schon lange tief und fest schlafen? Keine Ahnung. Was weiß ich schon von Eichhörnchen? Hätte ich das gewusst, hätte ich mir ein paar Nüsse in die Manteltasche gesteckt. Zu spät.

So, jetzt nur noch links den Weg hoch.

Gott, kann sich ein Weg ziehen, wenn man nichts zum Gucken hat. Die Straßen sind zwar auch wie ausgestorben, aber da kann man sich wenigstens die Schaufenster und die Lichtornamente an den Wohnungsfenstern anschauen, man kann Opel Astra Modelle zählen oder durch die Scheiben in die unten liegenden Wohnungen linsen. Aber hier, in diesem verlassenen parkähnlichen Gelände mit seinen starren, blattlosen Zweigen gibt es wirklich gar nichts zu sehen. Da dehnt sich der Weg wie Kaugummi, den man zwischen die Zähne klemmt und mit den Fingern langzieht...

Nochmal links. Ich bin fast da. Ein kleines weißes Kreuz markiert die Stelle, die ich suche.

Bis jetzt habe ich über so ziemlich alles nachgedacht, nur nicht an das Ziel, auf das ich zusteure. Das wird jetzt anders.

Ich sammle meine schweifenden Gedanken ein, plaziere den kleinen Baum, ziehe eine rote Glaskerze und mein Feuerzeug aus meiner Manteltasche, zünde die Kerze an und stelle sie neben den Baum.

„Frohe Weihnachten, Mäuschen. Ein glückliches Fest auch dir, mein Kind.“
 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 21:20:21