... für Leser und Schreiber.  

Abendgrauen

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© Nora Buchberger   
   
Die tiefwinterliche Kälte schnitt selbst durch seine dicken Handschuhe, so daß er die Fäuste schaudernd auch noch in die Taschen des Mantels vergrub. Im fahlen Mondlicht sah er seinen eigenen Atem vor sich schweben, und die dunklen Tannen verschwammen in regelmäßigen Abständen vor seinen Augen. Er war nervös; das war er immer, wenn er im Dunkeln durch den Wald gehen mußte. Er hatte auch kaum einen Blick für die Schönheit des Himmels über ihm, der in dieser frostigen, gläsernen Nacht alle Sterne enthüllte.
Immer wieder hatte er das vage Gefühl, verfolgt zu werden. "Reiß dich zusammen, aus diesem Alter solltest du längst heraus sein!" Die Selbstzurechtweisung bewirkte das Gegenteil von dem, was er erhofft hatte: der zu laute Klang seiner Stimmer erschreckte ihn. Unvermittelt sah er wieder den Zeitungsartikel vor sich. Sein Herz polterte einen unruhigen Rhythmus, als er sich die Geschichte ins Gedächtnis zurückrief. Von vier unaufgeklärten Morden war die Rede, vier hoffnungsvolle junge Menschen, brutal aus dem Leben gerissen. Die Polizei mit nur einem Anhaltspunkt: Mordhelfer war scheinbar jedesmal des Menschen bester Freund, ein Hund. Boxer wahrscheinlich, oder Bulldogge; die Gerichtsmediziner waren sich noch nicht sicher. Er schluckte. Wenn er an seine Frau und die zwei Kinder zuhause dachte, saß ihm ein Kloß im Hals. Eigentlich unverantwortlich, sie alleine zurückzulassen. Wieviele Verrückte mochten in dieser Gegend noch beheimatet sein? Er hatte seine Arbeit diesmal zwar so schnell wie möglich erledigt, trotzdem verspürte er den Drang zu laufen, um früher zu Hause zu sein. Angeblich verfolgte die Polizei auch schon einige Verdächtige, aber bestimmt war das nur so daher gesagt, um die Bevölkerung zu beruhigen. Er schluckte wieder krampfhaft.
Erneut das paranoide Gefühl, nicht alleine zu sein. Er beschleunigte seine Schritte. Die Morde passierten immer am selben Wochentag; zwischen den selben Tagen, um genau zu sein. Sonntag - Montag, Sonntag - Montag... Morgen war wiederum Wochenbeginn.
Er sah seine Frau vor sich, das dunkle, von Wald umgebene Haus, vermeinte Schatten im Rücken zu spüren... Wenn er nur schon da wäre! Er rannte jetzt fast. Die letzte Biegung, vor ihm das Haus. Ein kurzer Schreckenslaut entkam seinen Lippen, und von einem Augenblick zum nächsten drohte sein Herzschlag zu stocken, bevor er mit zehnfachem Tempo wieder einsetzte.
Was er befürchtet hatte, war scheinbar eingetreten. Die Vorderfront des Hauses war in kaltes, kreisendes, blaues Licht getaucht. Das Schnarren der Funkgeräte drang bis hierher, Lichtkegel irrten durch den Garten. Es kam ihm vor, als hätte er eine Ewigkeit auf dieses Szenario gestarrt, unfähig sich zu bewegen. Kraftlos murmelte er den Namen seiner Kinder, seiner Frau; er ahnte daß er sie wahrscheinlich nie mehr sehen würde können. Doch er wußte was zu tun war. "Nein, das lasse ich nicht zu, uns können sie nichts anhaben, niemals!" Seine Stimme schnappte hysterisch über, statt beruhigend zu wirken.
Sein Begleiter aber verstand ihn. Die treuen braunen Augen blickten ihn an, als er den schweren Kopf zu ihm drehte, und ein schwaches Grollen löste sich wie zur Bestätigung aus seiner bluttriefenden Schnauze. Das Gesicht zu einer grinsenden Maske erstarrt und mit dem glitzernden Blick eines Verrückten, verschwand er wieder im Schatten der Bäume und ließ seine Familie mit den Fragen der Fahnder alleine. Der Hund folgte ihm lautlos, noch bevor der Scheinwerfer der Polizei die beiden entdecken konnte.
 

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