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Onkel Konrads Kamera (maes Version)

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©  Maegumi   
   
Ein schrilles Pfeifen durchbrach die Stille. Der Zug näherte sich durch den dichten Nebel mit rasender Geschwindigkeit. Die Erde schien unter dem rhythmischen Donnern zu beben.
Ein kleiner Mann mit schütterem blonden Haar und einem Gesicht, das eine erschreckend familiäre Ähnlichkeit mit einer Ratte aufwies, kauerte unglücklich auf dem harten Felsenboden und seufzte ergeben. ?Schon wieder.....?
Schon konnte man den großen Frontscheinwerfer der Lock sehen, das wie ein böses gelbes Auge durch die Nebelvorhänge unheilvolles Licht warf. Der Mann hielt sich verzweifelt die Ohren zu, rührte sich aber nicht von der Stelle. Keine Sekunde später donnerte die Lokomotive auf ihn zu. Der Mann schrie. Sein Körper wurde erfasst und meterweit nach vorne geschleudert. Blut spritzte auf die umliegenden Felsen. Die Lokomotive pfiff, unheimlich, bedrohlich. Das Rattengesicht blickte verzweifelt auf, hielt seinen rechten Arm, der unnatürlich verkrümmt herabhing. Er schrie. Und doch half nichts: sein Körper wurde unter den Rädern des tonnenschweren Gefährts zermalmt. Knochen knackten und splitterten. Dann verschwand die Lokomotive pfeifend im dichten Nebel und hinterließ einen über mehrere Quadratmeter verteilten Körper, der kaum mehr als solcher zu erkennen war.

?Wenn er sich nur endlich das Schreien abgewöhnen könnte!? dachte Gortak und macht sich seufzend daran, die Überreste des Mannes zusammenzukehren. Er hatte Kopfschmerzen, was weder seine Laune verbesserte noch in irgendeinem positiven Zusammenhang mit Geschrei zu bringen war.
Als er jeden noch so kleinen Rest des menschlichen Körpers auf einen Haufen geschichtet hatte, machte er sich daran, ihn wieder zusammenzusetzen.
Es war an sich kein schlechter Job, sagte er sich immer wieder. Er war eben nur ein Teufel dritter Klasse. Und es konnte ein Sprungbrett sein. Immerhin machte er seine Arbeit ordentlich. Niemand hätte erkennen können, wie oft er den Mann bereits zusammengesetzt hatte. Aber meistens empfand er die Arbeit als eine Strafe. Er kam sich vor wie Syssiphos. Er sah kurz zu dem Berg des Elends hinüber, wo ein abgemagerter alter Mann verzweifelt einen Felsen den steilen Hang hinauf schob.
Ihm ging es auch nicht besser: kaum hatte er sein Werk vollendet, wurde es wieder zerstört. Nein, das war einfach nicht richtig: Er sollte sadistisch sein, nicht sich selbst bemitleiden. Nicht deprimiert, sondern gemein.
Er fand den Schädel und beschloss, ihn als erstes fertig zu stellen. Dann konnte er sich wenigstens unterhalten.

Kaum hatte er ihn fertig und auf einen kleinen Felsen neben sich gestellt, bereute er es wieder.
?Wie lange dauert das denn noch?? quengelte der Kopf und schielte zu dem Rest seines Körpers.
?So lange wie immer!? fauchte Gortak.
?Nein, das meine ich nicht. Ich will wissen, wie oft mich dieser dämliche Zug noch überfahren wird.?
Gortak zuckte mit den Schultern und überlegte kurz. ?Etwa dreihundert Jahre noch.?
Beide seufzten sie und sahen an die purpurne Decke.

?Das ist lang....? sagte der Schädel schließlich.
Gortak nickte. ?Du musst echt was wahnsinnig Fieses angestellt haben, bei der Strafe...?
Das Rattengesicht überlegte kurz. ?Na ja, ich war nicht immer ganz astrein, aber das hier habe ich nun wirklich nicht verdient.?
Der kleine Teufel musste unwillkürlich schmunzeln. ?Ja, dass sagen sie alle. Nein, ich habe nichts getan. Nein, das muss ein Irrtum sein, Nein, ich war immer frei von jeder Sünde....?
?Na schön.? Brummte sein Gegenüber. ?Ich war vielleicht ein bisschen habgierig. Und vielleicht auch ein bisschen unfair, aber so schlimm...? Er ließ den Satz unvollendet, als er das spöttische Grinsen von Gortak sah.
?Okay, okay... was soll?s, es ändert sowieso nichts an meiner Situation. Soll ich dir erzählen, warum ich hier bin??

Gortak zuckte abermals mit den Achseln. Zu oft schon hatte er die Geschichten der Sünder anhören müssen. Und immer lief es auf das eine hinaus: ?Eigentlich bin ich nur Opfer widriger Umstände!?
Doch das Rattengesicht schien das Achselzucken als Zustimmung zu werten und begann zu erzählen:

?Das Ganze begann mit Onkel Konrads Tod. Eigentlich ist alles seine Schuld. Ich mochte den alten Knauserich noch nie, aber außer mir und meiner kleinen Schwester hatte er keine Verwandten mehr. Deshalb habe ich ihn öfters mal besucht. Als er dann starb, vererbte er alles Melissa. Ich sollte keinen Pfennig abbekommen. Das hatte der Mistkerl sogar als Klausel im Testament eingebaut: wenn Melissa mir auch nur einen Pfennig schenken würde, würde sie gar nichts erben. Du kannst dir sicher vorstellen, wie sauer ich war, als ich das erfahren habe. Zumal er mir damit meinen Geldhahn abgedreht hatte: Wie sollte Melissa mir jemals wieder Geld leihen oder gar schenken können? Man musste ja davon ausgehen, dass es eventuell aus dem Erbe stammen würde. Dieses Testament war mein Ruin.
Und meine herzallerliebste Schwester lachte nur darüber. Ich wette, sie hatte Onkel Konrad irgendwann diesen Floh ins Ohr gesetzt. Eine bodenlose Gemeinheit war das!?

Verächtlich spuckte der Kopf aus. ?Hey, ?beschwerte sich Gortak. ?Ich arbeite hier. Behalte deine Körperflüssigkeiten bitte bei dir.?
Ohne darauf zu reagieren, erzählte er weiter:

? Genaugenommen hatte ich keine Wahl, wenn ich nicht von Sozialhilfe leben wollte. Also sorgte ich dafür, dass Melli einen kleinen Unfall hatte.? Er grinste breit und vielsagend. ?So ein Pech, wenn die Bremsen nicht funktionieren....? Er lachte hämisch. ?Keiner hat sich was dabei gedacht. Das Auto war immerhin schon alt und die letzte Inspektion schon Jahre her. Eigentlich war alles alt, was Onkel Konrad besessen hat. Du hättest mal das Loch sehen sollen, das er sein ?Stadtdomizil? genannt hat... einfach erbärmlich. Und das nur, weil er zu geizig für einen Architekten war. Mir war von Anfang an klar, dass ich dort nicht wohnen wollte. Es hätte sicher Jahre gedauert, diesen Mief von dem Alten dort raus zu bekommen. Und als ich dann hörte, dass unweit vor der Stadt ein alter Bahnhof zum Verkauf anstand, bin ich sofort hin.
Es war ein traumhaftes Gebäude: riesige Fenster, roter Backstein, riesengroß und mit dem Charme der dreißiger Jahre. Ich habe mir extra Onkel Konrads alte Kamera mitgenommen, mindestens genauso alt wie der Bahnhof. Ich fand das irgendwie passend.?
Hätte er Schultern gehabt, hätte er damit gezuckt. So verzog er nur das Gesicht.
? Es war sogar noch ein Film drin. Wie gesagt: der Alte war absolut geizig. Wahrscheinlich war der noch von anno 1950...? Er grinste breit. ?Aber ein eigenes Fotolabor, das hatte er haben müssen. Das hat ihn fast sympathisch gemacht. Ich stehe nämlich auf alte Kameras, weißt du? Und bei denen entwickelt man immer besser selbst.?

Der Kopf schien auf eine Antwort zu warten. Gortak verzog nur höflich kurz das Gesicht zu einem frostigen Lächeln.
?Nun, ich habe den ganzen Film verschossen. Das Gebäude war wirklich traumhaft. Ich überlegte schon, wie ich es mir ausbauen lassen wollte. In die Empfangshalle sollte eine Galerie eingezogen werden. Und aus dem Kartenverkaufshäuschen...? Er stutze kurz, und betrachtete dann den kleinen Teufel, der gerade verzweifelt versuchte, einen Arm an der Schulter zu befestigen.
?Der gehört da nicht hin!? fauchte er wütend. ?Das ist mein LINKER Arm, du Volldepp, und meine RECHTE Schulter. Was ist hier wohl falsch??
Gortak seufzte. Am liebsten hätte er den Kopf genommen und mit ihm Basketball gespielt. Aber das war ihm leider nicht erlaubt. Vorschriften. Leider. Seit die Verwaltung in der Hölle Einzug genommen hatte, war fast jeder eigenständiger Spaß verboten worden. Also verkniff er sich das Bedürfnis, einmal kräftig zuzutreten und sagte statt dessen nur: ?Und? Wie ging es weiter??
?Wie bitte?? verwirrt überlegte der Kopf kurz. ?Oja, Moment. Also: ich habe bestimmt zwanzig Photos geschossen. Dann bin ich wieder in die Stadt gefahren, in dieses entsetzliche Haus. Mal abgesehen von diesem ?Alte-Leute-Mief?, denn ich trotz dauernden Lüftens nicht mehr herausbekommen habe, war es duster und ungemütlich. Onkel Konrad hatte es nur spartanisch eingerichtet. Kein Möbelstück mehr als unbedingt notwendig. Größtenteils hatte er noch nicht einmal Lampen aufhängen lassen, sondern begnügte sich mit Glühbirnen, die nackt und einsam an langen Kabeln von der Decke hingen. Ich hasste dieses Haus. Aber ich würde ja nicht mehr lange dort wohnen. Dachte ich zumindest.? Er überlegte kurz. ?Nunja, genaugenommen hatte ich damit Recht.? Er legte eine kunstvolle Pause ein.
?Hahaha.? machte Gortak geistesabwesend, während er die Finger der Größe nach sortierte.
?Ich bin gleich in die Dunkelkammer gegangen, um den Film zu entwickeln. Ich muss dazu noch sagen: Die Dunkelkammer war der ehemalige Vorratskeller. Das hat den Vorteil, dass er ziemlich groß ist.
Ich holte also den Film aus der Kamera, um ihn zu entwickeln. In diesem Moment tut es einen Schlag... ich sage dir, so etwas habe ich noch nie vorher gehört. Als hätte irgendwer einen Stuhl umgestoßen und gleichzeitig einen Baum mitgerissen.?
Irritiert sah der kleine Teufel auf. ?Was für einen Schlag??
?Na, so einen dumpfen kleinen Knall und dann ein lautes Poltern und Scheppern. Ich habe mich tierisch erschrocken. Furchtbar war das. Immerhin war ich allein in dem Haus. Ich glaubte zuerst, es seien Einbrecher. Aber ich konnte keine Schritte hören. Zur Sicherheit bewaffnete ich mich mit einem alten Besen. Aber als wieder eine ganze Weile alles still und leise war, beruhigte ich mich wieder und macht weiter. Die nächste Überraschung kam, als ich das erste belichtete Foto in den Entwickler tauchte. Langsam wurde ein Bild sichtbar. Aber das war nicht das, was ich gemacht hatte. Es zeigte eine Szene von vor etlichen Jahren. Es war auch der Bahnhof, allerdings in einem wesentlich jüngeren Zustand. Auf dem Bahnhof herrschte reger Betrieb. Leute liefen und standen auf dem Bahnsteig, viele mit Koffern und Taschen. Die Kleidung der Leute war ebenfalls aus einer anderen Zeit. Ich schätze ungefähr die Fünfziger, aber ich habe es nicht so mit Mode, genau kann ich es nicht sagen.?

Gehässig nickte Gortak und betrachtete die dreckige und zerlumpte Kleidung seines Delinquenten. ?Glaube ich gerne.? Murmelte er, während er den fast komplett wiederhergestellten Körper aufsetzte.

? Und da hörte ich wieder dieses Geräusch. Ich erschrak und ließ das Foto fallen. Aber wieder folgte nur Stille. Ich bekam Angst und rief über mein Handy die Polizei an. Sie sollten schnellstmöglichst vorbeikommen.? Fuhr der Kopf fort, während er auf den Hals aufgesetzt wurde. ?Es beruhigte mich zu wissen, dass die kommen würden. Aber um sicher zu gehen, keinem Einbrecher zu begegnen, schloss ich die Türe zur Dunkelkammer ab. Dann hob ich das Foto vom Boden auf. Irgendetwas war merkwürdig. Auf den ersten Blick konnte ich es nicht erkennen.?

Er reckte sich, dass die Gelenke knackten. ?Sofort belichtete ich die anderen Fotos und warf sie ungeduldig in den Behälter mit der Entwicklungsflüssigkeit. Und was da zutage kam, ließ mir die Haare im Nacken zu Berge stehen:
Das nächste Foto zeigte einen kleinen Jungen, vielleicht zehn, elf Jahre alt, der auf den Gleisen spielte. Er sah in die Ferne und drehte dem Fotografen den Rücken zu. Mir wurde immer elendiger zumute, als ich das nächste Foto betrachtete. Am Horizont erschien eine Dampflokomotive. Wie erstarrt stand der Junge bloß da. Unwillkürlich dachte ich: ?Geh von den Gleisen, geh! Da kommt ein Zug!? Aber das war natürlich Blödsinn, es war ja nur ein Foto aus längst vergangenen Tagen. Ich schmunzelte über meine überschäumende Phantasie.
Ein schrilles Pfeifen ließ mich zusammenzucken. Es war laut und unerträglich, wie ein Teekessel. Und es klang erschreckend nahe.
Ich sah mich um, aber ich konnte natürlich nichts erkennen. Aufgewühlt betrachtete ich das nächste Foto. Die riesige Lok war gerade noch ein paar Meter von dem kleinen Jungen entfernt. Der Junge schien erst jetzt die Situation zu begreifen, er sah in Richtung des Zuges wendete sich um, um wegzurennen. ?Nicht nach vorne,? flüsterte ich verzweifelt. ?Spring zur Seite, zur Seite!?
Meine Hände begannen zu schwitzen und ich mein Atem ging immer schwerer. Und dann sah ich das vermaledeite letzte Foto.?

Der kleine Mann setzte sich ergeben auf den harten Steinboden.
?Der Junge rannte um sein Leben, die Lok war Zentimeter hinter ihm. Es gab kein Entrinnen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Kamera. Und ich erkannte in diesem verzweifelten und angsterfüllten Gesicht mein eigenes. Als ich aufblickt, sah ich den riesigen Scheinwerfer einer alten Dampflok vor mir auftauchen. Ich schrie....? Er schwieg bedeutungsvoll.
In der Ferne ertönte das eigentümliche Pfeifen der alten Lokomotive. Der Zug näherte sich durch den dichten Nebel mit rasender Geschwindigkeit. Die Erde schien unter dem rhythmischen Donnern zu beben.
Der Mann seufzte abermals.

Wenige Sekunden später donnerte die Lokomotive auf ihn zu. Der Mann schrie. Sein Körper wurde erfasst und meterweit nach vorne geschleudert. Blut spritzte auf die umliegenden Felsen. Die Lokomotive pfiff, unheimlich, bedrohlich. Das Rattengesicht blickte verzweifelt auf, hielt seinen rechten Arm, der unnatürlich verkrümmt herabhing. Er schrie. Und doch half nichts: sein Körper wurde unter den Rädern des tonnenschweren Gefährts zermalmt. Knochen knackten und splitterten. Dann verschwand die Lokomotive pfeifend im dichten Nebel und hinterließ einen über mehrere Quadratmeter verteilten Körper, der kaum mehr als solcher zu erkennen war.

Gortak lächelte. Mit einem mal fand er wieder Gefallen an seinem Job. Summend machte er sich an die Arbeit.
 

http://www.webstories.cc 06.05.2024 - 01:23:00