... für Leser und Schreiber.  

Hunger!

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© Heike Sanda   
   
"Da hinten. Da ist er... - Los, Männer. Schnell!"

"Ziannnnng!" Eine Kugel pfeift dicht an meinem Kopf vorbei, prallt ab von dem Stein, hinter den ich mich geduckt habe, und verschwindet als heulender Querschläger aus meinem Blickfeld, hinaus in die Nacht.

Ich ducke mich so tief ich kann in das Gras. Verdammter Vollmond. Bedecke meinen Mund mit beiden Händen. Diese Kälte, direkt aus den Eisschränken des Ostens, lässt meinen keuchenden, abgehackten Atem zu Schwaden gefrieren, die mich bei dieser Helligkeit augenblicklich verraten würden. Die Horde trampelt an mir vorbei, ich kann das Knirschen der gefrorenen Grashalme unter ihren Stiefeln hören, ihre Stimmen entfernen sich. Allen sichtbaren und unsichtbaren Mächten sei Dank. Noch tiefer ducke ich mich in den Schatten, den der Stein wirft. Am liebsten würde ich ihn mir wie eine Stola um die Schultern wickeln.

Ich zweifelte nicht daran, dass sie mich töten würden, wenn sie mich erwischten. Dabei hatte ich doch bloß Hunger. Ist es denn ein Verbrechen, hungrig zu sein? Ich habe mein ganzes Leben lang noch keiner lebenden Seele etwas angetan. Im Gegenteil. Wer ist es denn gewesen, der das Kind aus dem stillgelegten Abwasserkanal gezogen hat, in den sie beim Spielen hineingefallen war? Gerade mal zwei Wochen ist das her. Tot wäre die Kleine heute ohne mich! Die Götter allein mochten wissen, wann man sie gefunden hätte, so tief im Wald draußen. Wie lange hätte sie wohl überleben können, da unten, bei Temperaturen von minus neunzehn Grad Celsius?

Aber das alles zählt ja nicht.
Es zählt nur, dass man anders ist.
Dass man nicht ist wie sie.

Sie, denen es allein zusteht, satt und zufrieden zu sein und einen vollen Bauch zu haben, während ich für dieses Recht täglich neu kämpfen muss und gejagt werde wie ein Tier.

Weihnachten habe ich sie beobachten können. In ihren Kneipen, ihren Restaurants, beim festlich gedeckten Tisch, als Vorspeise vollmundige Reden von Toleranz, von Nächstenliebe und darüber, dass man gerade zur Weihnachtszeit Vorurteile überwinden und dem anderen die Hand reichen solle. Geklatscht haben sie, und Hurra gebrüllt, und dann haben sie ihre Zähne in Gänsekeulen geschlagen! Stellt euch vor, sie töten Tiere, nur damit sie sie essen können. Würde unsereiner das etwas tun?

Keinen einzigen hat es geschert, dass da jemand um ihre Häuser schleicht, mit hohlem Magen und vor Schwäche zitternden Knien. Jemand, der vor Hunger nicht mehr aus noch ein weiß. Den Schädel hätten sie mir eingeschlagen, hätte mich in jener Nacht einer von ihnen gesehen, mit dem ersten besten Pflasterstein. Gutmenschen! Moralapostel!

Will ich denn wirklich zuviel vom Leben? Was denn? Ein paar Abfälle nur, herabfallende Brocken vom Tisch der menschlichen Gesellschaft. Abfälle, die keiner nach ihrer Entsorgung mehr eines Blickes würdigt - die es mir aber erlauben, mein Dasein zu fristen. Ein bisschen Fleisch, oft schon am Verfaulen - Fleisch, das nicht mehr gebraucht wird...

Vorsichtig schiebe ich die Schultern aus dem Schutz des Schattens und luge um den Stein herum.

Böser Fehler!

Diesmal macht die Kugel nicht "Zziannnnng", sondern "plopp!" Ein dumpfer, pochender Laut, der dadurch verursacht wird, dass sie in meinen Brustkorb einfährt wie ein heißes Messer in Butter. Ich werde zurückgeschleudert in das hohe Gras, kann noch die Aufschrift auf dem Grabstein erkennen, hinter dem ich mich die ganze Zeit versteckt gehalten habe, ehe sich mein ganzes Blickfeld rot färbt und zu kreisen beginnt. Ein riesiger Schatten fällt über mich, eine Stiefelspitze wird unsanft in meine Rippen gerammt.
" Dreckiger Scheiß-Leichenfresser", grollt eine Stimme an mein Ohr.

Ja, auch heute noch wird man leicht Opfer von Diskreminierungen. Zumindest, wenn man, wie ich, ein Ghoul ist...
 

http://www.webstories.cc 29.04.2024 - 01:23:42