... für Leser und Schreiber.  

Regen

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© Klaas Wanderer   
   
„Regen. Regen, Regen, Regen. Seit Tagen nichts als Regen.
Würde ich an Gott glauben, würde ich sagen, Gott würde weinen.“
Die zwei nassen Gestalten standen an der Bushaltestelle.
Der andere, der bis eben auf den Regenvorhang starrte, antwortete:
„Ich glaube an Gott. Aber ich weiß nicht, wieso Gott weinen sollte. Ich habe keine Ahnung!“
„Wissen sie es wirklich nicht?“, fragte der andere. „Ich weiß es. Jeder der heutzutage lebt, müsste es wissen!
Gott weint über die Toten. Gott weint wegen der Kriege. Wegen der Unmenschlichkeit und der Verfremdung der Menschen untereinander. Und über die Anmaßung, über die weint er auch. Denn die Menschen spielen Gott, mit diesem Planeten.“
Beide schauten sich an, wie sie so triefend auf den Bus warteten.
Nach einer kleinen Weile fragte der Gottgläubige: „Und wieso tut Gott nichts?“
Der andere überlegte.
„Wahrscheinlich, weil Gott den Menschen ähnlich ist.
Die Menschen, die tun ja auch nichts.
Sie weinen über die Ungerechtigkeit. Sie sind traurig über den Lauf der Welt.
Aber sie tun nichts.
Sie leben einfach vor sich hin. Keiner denkt mehr an die anderen. Und die Menschen leben. 1000 Kilometer entfernt bringen sich die Menschen reihenweise um. Und die Menschen leben. Der Planet wird zerstört. Und die Menschen leben. Der Staat regiert rigoros. Und sie leben. Sie leben, leben, leben,
Sie könnten gegen die Ungerechtigkeiten ankämpfen. Und sie tun nichts. Sie könnten die Welt so verändern, dass sie gut und fair wäre. Doch sie tun nichts. Nichts, nichts, nichts.
Außer leben.“
Der Bus kam und der Redner stieg ein. Durch die sich schließende Tür hörte er den Gottgläubigen rufen:
„Ich glaube, es regnet, weil zu viel Wasser in den Wolken ist.“

Montag 03.September.2001 13:11:43
 

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