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Wie ein Schatten in der Nacht

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© Klaas Wanderer   
   
Wie ein Schatten in der Nacht oder: Die Kinder hinter den Fenstern

Als sich die Dunkelheit über die Häuser senkte, irrte er wie ein Schatten durch die Häuserschluchten. Er blickte sehnsüchtig nach den erleuchteten Fenstern. Während er langsam und mit gesenktem Kopf weiter ging, dachte er nach, was wohl für Menschen hinter diesen Vorhängen und Gardinen wohnen.
Waren sich glücklich und zufrieden, oder waren sie traurig und depressiv? Waren sie erfolgreich im Beruf oder waren sie Verlierer? Er wusste es nicht. Doch er würde es nie wagen, in die Fenster zu schauen. Während er über diese Fragen, die ihm so wichtig erschienen nachgrübelte gelangte er nach Hause.
Wenn ihm jemand in dieser Nacht begegnet wäre, hätte der sich gewundert, was dieser junge, gutaussehende Mann mitten in der Nacht auf der Straße macht. Auch die Freunde des nächtlichen Wanderers hatten sich schon oft gefragt, warum er nachts nie anzutreffen war. ?Seltsam, seltsam?, sagte ein Freund einmal zu einem andren. ?Er hat einen wunderbaren Job mit vielen Aufstiegschancen, aber er bekommt einfach keine Frau.?
Der, von dem sie sprachen, saß inzwischen auf seinem Bett und stellte sich genau die selbe Frage. Doch er war es leid, darüber nachzudenken.
Er hatte nun mal noch keine gefunden, die zu ihm passen würde. Die ihn verstehen würde.
Während er an die Decke starrte, die heute so seltsam verschwommen aussah, begann es in seinem Kopf zu rumoren.
Er dachte wieder an die Menschen hinter den Fenstern. Waren sie wirklich glücklich und zufrieden? Und wie konnten sie glücklich und zufrieden sein, in dieser verrückten Zeit, auf dieser sterbenden Erde?
Er grübelte, doch ihm viel nur eine Antwort ein: Der Mensch ist dumm. Der Mensch ist beschränkt. Wenn man ihm nur oft genug erzählt, dass Ozonloch werde schon irgendwann wieder kleiner werden, der Atommüll sei im Meer am besten aufgehoben und solange er einen guten Job hat, muss er glücklich sein, so war der Mensch glücklich.
Langsam stand der junge Mann auf. Ihm war schlecht. Er öffnete das Fenster und sog die verpeste Luft ein. Ihm war es gleichgültig geworden. Sein Leben, sein kleines Stück eingebildete Freiheit war nichts als ein Scherbenhaufen.
Er fluchte, spuckte aus und legte sich schlafen. Wenn er doch wenigstens eine Frau hätte, dachte er noch, bevor der süße Schlaf des Vergessens ihn einfing.
In der nächsten Nacht war er wieder unterwegs. Als er gerade um eine Häuserecke bog, traf es ihn wie ein Schlag. Vor ihm stand eine Frau. Ihre Blicke trafen sich und er war sofort verliebt. 1000 Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Er würde mit ihr eine neue Existenz aufbauen. Irgendwo, weit weg von dem Dreck dieser Stadt und dieser Kultur. Eine Farm in Australien, eine Schafszucht in Neuseeland.
Während er so phantasierte, ging er weiter wie immer. Er lächelte die Frau nicht einmal an, als er an ihr vorüber ging.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, war etwas in ihm zersprungen. Er vermutete, dass es sein Herz war.
Er ging in sein Zimmer, öffnete das Fenster und, ohne dass ein Wort über seine Lippen kam, ging er einen Schritt weiter, als die Fensterbank breit war.

Mittwoch, 12. Dezember 2001 19:08:37
 

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