... für Leser und Schreiber.  

... fressen ihn die Raben

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©  Lanzelot   
   
Anne erwachte vom lauten Vogelgezwitscher, das aus dem gegenüberliegenden Park durch das offene Fenster hereindrang. Sie blinzelte zum Wecker hin - erst halb sieben - da konnte sie noch eine halbe Stunde liegen bleiben. Glücklich seufzend schloss sie die Augen und lauschte den Vögeln. Auch das wenig melodiöse Gekrächze einiger Raben mischte sich darunter und plötzlich hörte sie zwischen dem Krächzen der Vögel ganz deutlich die Worte „Hunger! Hunger! Hunger!“. Sie hielt den Atem an. Das konnte doch nicht wahr sein! Angespannt lauschend lag sie da, aber es war nichts ungewöhnliches mehr zu hören. Sie musste wohl geträumt haben.

„Hallo Schatz!“. Peter gab seiner Frau, die gerade das Abendessen bereitete, einen flüchtigen Kuss und ließ sich auf den Küchenstuhl plumpsen.
„Puh! Heute hatten wir wieder einen Fall.“ erzählte er. „Im Park, gleich hier gegenüber unserer Wohnung. Ein Sandler. Muss wohl von einem Hund angefallen worden sein, oder so etwas. Jedenfalls war er regelrecht zerfleischt und sogar angefressen. War natürlich nichts mehr zu machen. War schon seit Stunden tot, als wir gerufen wurden.“
Anne, der solche Anekdoten aus Peters Sanitäter-Alltag normalerweise nichts mehr ausmachten, erstarrte. „Kannibalismus?“ schoss ihr durch den Kopf. Aber das konnte ja wohl nicht wahr sein.
„Oh, bitte!“ rief sie vorwurfsvoll. „Musst du solche Sachen vor dem Essen erzählen! Vielleicht war es ja ein Mord? Könnte ja sein, oder?“.
„Tut mir leid, Schatz. Es macht dir doch sonst nichts aus, wenn ich so was erzähle“, verteidigte sich Peter. „Die Polizei war zwar auch da, aber die meinten, es sei entweder Hannibal Lecter oder ein Tier gewesen. Haha.“.
„Wahrscheinlich war er ohnehin schon vorher tot. Alkohol, Drogen ... man kennt das ja ....“ fügte er beschwichtigend hinzu, als er sah wie Anne bei seinen Worten erblasste.
„Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen.“

Am nächsten Tag ging Anne am Parkrand entlang zum Einkaufen. Obwohl es ein strahlend schöner Frühsommertag war, fröstelte sie. Plötzlich sah sie auf einem Baum neben dem Gehweg einen großen schwarzen Vogel sitzen. Der Rabe starrte Anne aus schwarz glänzenden Augen an. „Dich kriegen wir auch noch“, flüsterte er.
 

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