... für Leser und Schreiber.  

Der stille Beobachter

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©  Naselang   
   
Der See lag ruhig vor ihm. Weit draussen kräuselten sich ein paar kleine Wellen. Womöglich war ein Fisch in die Versuchung geraten, ein bisschen Luft zu schnappen. Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen. So genau wusste er es nicht mehr, er hatte schon eine Flasche Wein allein getrunken.
Den Mond konnte er auch nicht finden. Er war doch so verrückt nach ihm. So oft hatte er versucht ihn zu fotografieren, aber die Leute, die die Fotos wie in Trance ohne zu überlegen entwickelten, hatten ihm die schönsten Mondfotos einfach vorenthalten - aus welchem Grund auch immer. Wahrscheinlich hatte er in seinem fast täglichen Rausch, den er immer hatte, wenn er allein am See sass und vor sich hinstarrte, vergessen, die Blende richtig einzustellen.
Diese Deppen! Solche Fotos waren ja genau das, was er wollte. Ein schwarzer Himmel wie jetzt und ein heller, runder Punkt davor: der Mond, den er, egal ob Vollmond, ab- oder zunehmend, liebte.
Eine magische Anziehungskraft ging von ihm aus. Oft sass er nur vor seiner Haustüre und fing an zu tanzen, für ihn, den Mond, den stillen Beobachter, der ihn nie auslachte.
Er jedoch fühlte sich dabei nie beobachtet, sondern behütet. Der Mond würde jede Nacht wieder an seiner Stelle verweilen und wieder würde er versuchen ihn zu fotografieren.
Er nahm sich vor, das nächste Mal sich mehr zu konzentrieren und weniger Alkohol in sich rein zu schütten, damit auch diesen Idioten von Kodak klar werden müsse, dass jedes Mondfoto es wert war entwickelt zu werden.

Den letzten, grossen Schluck von der billigen Rotweinflasche, die er immer an der Tanke einen Kilometer vor dem See um 29,90 kaufte, zog er schnell hinunter, rülpste und warf die Flasche weit von sich.
Er hatte auch schon besser geworfen. Egal, der Alkohol war schuld, wie immer.
Mit einem lauten Knall zerbarst die Flasche wenige Meter von ihm entfernt. Morgen würden dann kleine Kinder vielleicht in die Scherben treten. Aber was war so ein kleiner Schnitt am Fuss schon gegen seine tiefe Wunde im Herzen?

Mit geübtem Handgriff entkorkte er die letzte Flasche Rotwein, trank sie halb leer und zündete sich eine weitere Camel an. Sich am kargen, blattlosen Baum neben sich festhaltend, versuchte er aufzustehen. Beim dritten Versuch stand er dann endlich wackelig auf seinen Beinen.
Er stolperte zum See hinunter und übersah den grossen Stein vor sich, als er die Flasche Wein wieder an seine Lippen ansetzte. Er verlor das Gleichgewicht und konnte es nicht mehr vermeiden, schwerfällig in den See zu plumpsen.
Kalt umschlang ihn das Wasser.
Die Rotweinflasche fiel ihm aus der Hand und kollerte über die Steine hinweg in den See.
Mist, die letzte Flasche, die ihm geholfen hätte, seinen Schmerz zu betäuben.
Übelkeit stieg in ihm auf. Die Zigarette in seiner Hand glitt ihm aus den Fingern und ging mit einem letzten leisen Zischen im See baden.

Kurz bevor er sich übergab und ihn nur noch der stille Beobachter am Himmel oben sehen konnte, dachte er noch ein letztes Mal an sie.

 

http://www.webstories.cc 04.05.2024 - 14:51:35