... für Leser und Schreiber.  

Adipositas

33
41 Stimmen
   
©  Jasmin   
   
Seit der Krankheit hat Conny zugenommen. Nicht von einem Tag auf den anderen, sondern allmählich. Wie Krebszellen eines Geschwürs haben die Fettzellen angefangen sich schleichend über den ganzen Körper zu verteilen und langsam Metastasen gebildet. Fett, überall Fett. Die Füße und Knöchel geschwollen. Bald braucht Conny statt Schuhgröße 39, Größe 40. Die Waden, die Knie mit Fett gepolstert, die Oberschenkel unförmig, mit Orangendellen verziert. Wenn Conny die Haut an den Beinen mit Daumen und Zeigefinger zusammendrückt, tut es weh. Elefantenbeine, murmelt Conny. Das sind verdammte Elefantenbeine. Ich habe Elefantiasis. Wenn Conny geht, dann reiben sich die Innenseiten der Oberschenkel aneinander wund und es brennt. Der Bauch aber ist am schlimmsten. Er wölbt sich hervor wie der Bauch einer Schwangeren, aber er ist nicht so fest und kugelig, sondern schlaff, wabbelig und rollt sich beim Sitzen in mehreren hässlichen Speckrollen auf. Über dem Speckbauch hängen Connys Brüste. Wie zwei Euter hängen sie da und wackeln bei jeder Bewegung und ziehen den Oberkörper nach unten. Conny trägt Cup E und die Träger hinterlassen unschöne, schmerzhafte Spuren auf Connys speckigen Schultern. Der Busen hat seitlich blaue Flecken von den Körbchendrähten des Büstenhalters. Selbst an den Oberarmen sind zellulitische Dellen zu sehen. Da, wo einmal Bizeps und Trizeps waren, als Conny noch trainierte vor der Krankheit, da regieren nur noch Fett und Wasser. Mein Körper ist eine Schlackendeponie. Toxic waste. Ich bin ein wandelnder Müllberg. Ein Fleischkloß aus BSE-verseuchten Rindern.
Diese Gedanken lassen Conny auf den Kühlschrank zusteuern. An der Kühlschranktür hängen Cindy Crawford, Naomi Campbell und Claudia Schiffer. Makellos, glatt, perfekt. Conny streckt ihnen die Zunge aus und öffnet die Tür des Kühlschranks. Es ist zwölf Uhr mittags, Zeit für das Frühstück. Seitdem Conny den Job als Datentypistin bei Siemens verloren hat, frühstückt sie meistens gegen zwölf. Der Job war stupide, aber er brachte Geld. Kurz nachdem Conny den Job verlor, verließ Mike sie. Mike lebte von Connys Geld und ohne Geld wurde Conny schlagartig uninteressant. Dieses Arschloch. Dieses verdammte Arschloch.
Conny holt Salami aus dem Kühlschrank. Salami, Butter, Senf und ein Weizenbier. Sie streicht sich zwei Brote mit viel Butter und belegt sie mit vielen Salamischeiben. Es ist egal. Alles ist egal. Dann stellt sich Conny an das Küchenfenster und kaut und schluckt und schaut dabei auf die Straße wie eine wiederkäuende Kuh. In der Bäckerei gegenüber herrscht Hochbetrieb um die Zeit. Die Berufstätigen haben Mittagspause, gehen hastig hinein und kommen mit großen Papiertüten heraus. Belegte Brötchen, Berliner, Käsekuchen. Dieser Bäcker hat den besten Käsekuchen in der ganzen Stadt. Sie kommen aus allen Stadtteilen wegen diesem Käsekuchen. Wenn die Mittagspause vorbei ist, dann wird sich Conny auch in die Bäckerei trauen und vier Stück Käsekuchen kaufen. Conny hat Angst davor, ehemalige Kollegen zu treffen. Damals war sie der feuchte Traum aller Männer, jetzt ein Fleischkloß zum Anspucken.

Conny setzt ihre rosarote Sonnenbrille auf und schlürft zur Bäckerei. Sie trägt die Sonnenbrille immer. Auch im Winter, auch nachts. Ihre Augen sind immer geschwollen, die Lider hängen herunter, erdrücken ihre einst schönen Augen fast, schwarze Tränensäcke darunter, Krähenfüße an den Seiten.
„Grüß Gott!“
„Grüß Gott! Was darf’s denn sein?“
Jeden Tag fragt die das. Jeden Tag. Die müsste doch allmählich schnallen...Warum gibt sie mir das Zeug nicht einfach?
„Ich möchte bitte von dem Käsekuchen.“
„Wie viel darf’s denn sein?“
„Vier Stück, bitte.“
Jedes Mal das gleiche Theater. Ich halt’s nicht mehr aus. Schnell wieder in die Wohnung.
Conny reißt in der Küche ungeduldig das Papier auf. Sie isst den Kuchen aus der Verpackung. Im Stehen. Eigentlich frisst sie. Und dann wird Conny schlecht und sie rennt aufs Klo. Sie muss mit dem Zeigefinger nachhelfen, weil ihr Magen immer alles bei sich behält. Aber heute klappt es nicht. Es kommt zwar der Würgereflex und die Tränen schießen ihr in die Augen, aber es passiert nichts. Scheiße, ich muss die Zahnbürste nehmen. Conny steckt sich die Zahnbürste in den Rachen und kratzt damit die Schleimhaut rauf und runter. Tränen laufen über ihre Hamsterbacken, aber der Kuchen bleibt drin. Conny kniet sich vor die Toilette, sie klappt den Deckel runter, verschränkt ihre Unterarme auf dem Deckel, bettet ihr Gesicht auf die Arme und heult.
Conny nimmt die Klopapierrolle und geht ins Zimmer. Sie legt sich aufs Bett und starrt an die Decke. Zwischendurch heult sie wieder, wischt ihr Gesicht mit dem Klopapier ab und dann starrt sie wieder an die Decke.
Bis zum frühen Abend liegt Conny so da.
Ich muss einkaufen. Der Kühlschrank ist leer.
Conny steht auf. Sie nimmt die Sonnenbrille, ihr Portemonnaie und geht. Der Plus-Laden ist gleich um die Ecke.
Alle starren mich an, weil ich so fett bin. Sie schauen, was ich in meinen Einkaufswagen lege und denken, schau mal, die fette Sau, statt abzuspecken mit Magerjoghurt, kauft sie sich hier nur vollfettes Zeug.
Keiner beachtet Conny. Alle sind mit sich selbst beschäftigt.
Milchprodukte, mager, Quark, fettarme Milch. Will ich nicht. Wo ist der Krabbensalat?
Conny kauft Krabbensalat mit Mayonnaise, Eiersalat, Kartoffelsalat, alles mit viel Mayonnaise, Butter, Toastbrot, Salami und Sekt. Heute ist Söhnlein Brillant im Angebot. Und „Faszination“ kauft sie, ein Weinschaumgetränk mit Fruchtgeschmack, davon wird sie schnell betrunken. Hoffentlich treffe ich keinen. Scheiße, da ist Pit. Wie aus der Rasierwasserwerbung sieht der aus. Immer frischgebügelte Polo-Hemden, die nach Weichspüler riechen. Pfefferminzkaugummi, glattrasiert. Geht’s dem eigentlich nie schlecht? Verdammt, hoffentlich sieht er mich nicht.
„Hi Conny? Na? Und wie?“
„Geht so. Und du?“
„Man lebt.“ Pit lacht sein Zahnpastalächeln.
Conny schaut verlegen auf ihre dicken Füße.
„Hast du heute Abend schon was vor? Wir treffen uns im Bogart’s.“
Ich habe keine Zeit, weil ich zu dick bin. Verstehst du? Ich muss zu Hause bleiben.
„Nee, heute geht’s schlecht. Nina kommt vorbei. Wir kochen Chinesisch“, lügt Conny.
„Na, dann n anderes Mal. Man sieht sich.“
Pit nimmt seine Flasche fettarme Milch und geht.

In der Wohnung angekommen, stellt Conny die Tüten in die Küche und dann wirft sie sich mit dem Bauch aufs Bett und heult wieder. Als sie sich beruhigt hat, geht sie in die Küche, räumt die Sachen ein, legt den Sekt ins Tiefkühlfach. Bis der Sekt kalt wird, trinkt Conny Bier aus der Flasche und isst Krabbensalat aus dem Plastikbehälter. Sie stellt sich wieder ans Küchenfenster und schaut auf die Straße. Es ist noch nicht dunkel. Ein Pärchen geht vorbei. Sie hört die beiden durchs offene Fenster lachen. Der Junge küsst das Mädchen am Hals und zieht sie fest an sich. Das Mädchen kreischt und lacht. Dann reißt sie sich los und läuft weg und er hinter her und dann bleiben sie stehen und küssen sich mitten auf der Straße. Ein Radfahrer schreckt sie auf mit seiner Klingel. Lachend ziehen sie weiter.
Im „Konfetti“ gegenüber gehen die Lichter an. Diese Kneipe ist bis auf paar pennerähnliche Gestalten immer leer. Frauen gehen da fast nie rein. Die Musik kommt aus der Jukebox. Vielleicht wartet mein Traummann dort auf mich. Conny lächelt bitter vor sich hin. Dann öffnet sie das Tiefkühlfach und tastet nach der Sektflasche. Der Sekt ist noch nicht sehr kalt, aber Conny kann sich nicht mehr beherrschen. Sie macht die Flasche auf und der Plastikverschluss schießt knapp an ihrem Auge vorbei auf die Straße. Er fällt einer weißhaarigen Frau mit gleichfarbigem Pudel auf den Kopf. Die Frau dreht sich entrüstet in Connys Richtung und fuchtelt mit erhobenem Zeigefinger in der Luft herum. Der Pudel zerrt sie bellend weiter. Conny zeigt ihr den Mittelfinger, aber die Frau ist schon weiter gegangen.

Es ist kurz vor Mitternacht. Conny hat den ganzen Krabbensalat gegessen, den Kartoffelsalat und die beiden Flaschen Sekt getrunken. Es ist kein Alkohol mehr im Haus. Conny stolpert durch die Wohnung aufs Klo. Mir ist so schlecht. Ich muss kotzen. Diesmal braucht sie den Finger nicht. Sie schafft es nicht mehr, den Klodeckel hochzuklappen. Die warme, saure Brühe landet auf den Fliesen.

Conny putzt das Bad. Und dann putzt sie sich die Zähne, geht ins Bett und weint sich in den Schlaf.






 

http://www.webstories.cc 25.04.2024 - 21:56:06