... für Leser und Schreiber.  

Liebesbrief

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© Heike Hagenguth   
   
Jetzt bist du da, mein Kind. Noch kann ich es gar nicht richtig glauben. Ich streiche dir über deinen kleinen Kopf mit der gerunzelten Denkerstirn. Richtig hübsch finde ich dich mit deinen geschwollenen Augen und dem platten Näschen.

Eigentlich ist es ein Wunder, daß wir hier so zusammen ruhen. Eigentlich solltest du in deinem Bett liegen und ich in meinem. Eigentlich sollten wir uns gar nicht kennen. Aber als ich deinen ersten Schrei gehört habe, konnte ich die Frage aller Mütter, wie du aussiehst und ob alles dran ist an dir, nicht zurückhalten. Lang eingeübte Sätze und Ablehnung wollten nicht über meine Lippen. Statt dessen habe ich vor Liebe dein nasses Haar vollgeweint.

Schwierig wird das mit uns werden, mein Kind. Perfekt bin ich bei weitem nicht, auch nicht dein Vater, und unsere Ehe schon mal gar nicht. Ich hatte mir alles so einfach vorgestellt. Cool wollte ich sein und alles regeln. Neue Eltern für dich, die dich zu einem vernünftigen Menschen erziehen. Ein neuer Anfang für mich, ein Leben ohne Platz, Zeit und Geld für dich. Bis zum Schluß habe ich geglaubt, das durchziehen zu können. Alle deine kleinen Lebenszeichen habe ich registriert, erfolgreich habe ich Staunen, Erwartung und Liebe verdrängt. Gut gerüstet mit diesem ehrenwerten Plan lag ich dann da. Und als du kleines nasses Bündel in meinen Armen warst, da ist das ganze Kartenhaus zusammen gefallen.

Unsere erste Begegnung wird wohl ein lebenslängliches Ende haben, mein Kind. Aber wieso eigentlich auch nicht! Ein Blick aus deinen Augen, und ich übe alle Sätze und Ablehnungen, damit unser kleines Glück weiter dauert.

Mama


© Heike Hagenguth 07/2001
 

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