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Wenn ich an morgen denk

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© André Finken   
   
Es ist 8:30 Uhr als der Radiowecker, den ich immer weit über Zimmerlautstärke stelle, das Ende der Welt verkündet. Eine Nachrichtensprecherin erklärt, daß in 24 Stunden alles ein Ende gefunden haben wird, daß sich nichts mehr zum Guten wenden kann. Dort, in meinem Bett, in dem ich seit einem Jahr aufwache um zur Arbeit zu gehen, liege ich nun mit geöffneten Augen und meine Gedanken spielen alle Scherze durch. Wir haben weder den ersten April, noch Helloween, und das Schluchzen in der Stimmer der Sprecherin scheint mehr als gute Schauspielerei. Nur kurze Zeit und mein Selbst hat begriffen das die "Ewigkeit" keine Gültigkeit mehr in meinen Gedanken haben darf. Was immer auch passieren wird, es wird uns das nehmen was "für immer" war, was bis morgen hätte warten können. Und so fremd mir der Gedanke auch ist, so seltsam vertraut ist er. Was wollte ich morgen nicht alles machen was wolltest du nicht morgen alles? Morgen! Ich würde der Welt erzählen wie gern ich sie habe. Würde sie um Verzeihung bitten, für all die Dinge die in mir einen Wert hatten den sie nie verdient haben, für all die ungenutzten Momente, die erst jetzt ihren Wert haben, wo ich sagen muß das "heute" alles ist. Es mag sicher Menschen geben, die ihren Fernseher ein letztes mal einschalten, um das Ende aus der Ersten Reihe zu sehen. Manche werden zur Arbeit gehen und ihren Job erledigen und andere werden noch ein letztes mal über ihre teuer bezahlten Daimler Benz streicheln. Doch mein letzter Tag ist ein anderer. Er wird beweisen was mir wichtig ist. Ich springe auf, mit der Hast die bezeichnend ist für einen neuen Tag, an dem die Arbeit wartet und so viele Dinge erledigt werden wollen. Gedanken, die so schnell kommen - und gehen - wie funken aus einem Feuer steigen, spielen das eigene Leben zum x-ten mal durch. Doch dann, wenn die Wahrheit erkannt ist, wird es ruhig. Wie vielen Menschen wollte ich sagen das sie mein Leben bereichert haben, wie vielen, daß ich nie ich auf sie gezählt habe?! Wie viele Bäume wollte ich berühren und wie oft Meeresrauschen hören, wenn ich nur den Morgen hätte? Und zum ersten mal im meinem Leben begreife ich, daß man nicht im Morgen - sowenig wie im gestern - leben kann. Was zählt, und was schon immer zählte, ist das jetzt und hier. Ein paar Menschen, arme Seelen, werden orientierungslos umher irren und ihre Welt zerstört sehen, doch die meisten werden sich dem zuwenden was ihnen lieb und teuer war in ihrem leben. Sie werden das unterstreichen, wofür es sich zu leben gelohnt hat. Ich koche meinen letzten Kaffee, mit aller liebe, und trete vor meine Haustür. Nun atme ich tief und werfe den Blick auf die geliebten Wolken, die jeden Tag von neuem, und anders sind. Ich schaue auf die Bäume, deren Distanz sich aus der diesigen Luft ergibt und die ihre Blätter, für mich, nie wieder abwerfen werden. Und der Kaffee schmeckt, wie er zum ersten mal geschmeckt hat: nach der großen, weiten Welt. Ich denke an meine Vergangenheit und überlege was ich hätte besser machen können, doch der Gedanke scheint Grotesk. Nun, in diesem Moment, erscheint die Vergangenheit als das was sie ist: Unveränderbar. Was ich jetzt nicht tue, wird nie mehr getan! Und die Trauer über diese Erfahrung, die ich in meinem weiteren Leben nicht mehr nutzen kann - und womöglich nie genutzt hätte - fängt mich für einen Moment. Wie verkehrt die Welt ist, wo eine Radiodurchsage das Leben und handeln aller Menschen zum Guten verändern kann. Ich steige in mein Auto, was mir als Fortbewegungsmittel dient, und fahre zu meinen Eltern. Wie lange habe ich sie schon nicht mehr gesehen? Wann habe ich sie zum letzten mal in meine Arme geschlossen und ihnen gedankt, daß sie mir mein Leben schenkten? Wovor habe ich Angst gehabt? Jetzt, wo sie, Hand in Hand, vor mir sitzen und das halten, was sie ein Leben lang begleitet hat. Nun sitzen sie mir gegenüber, in einem Schweigen in dem alles gesagt ist, was überfällig war, und sehen mich als ihren Sohn. Dann küsse ich sie und gehe. Ich lasse sie zurück, als das was sie immer waren: als Liebespaar, welches als Beweis ihrer Liebe etwas in die Welt setzte, was sich "Ich" nennt. Nun fahre ich zu meiner Frau. Und sie wird eine nie geforderte Stärke zeigen, meine Ungeschützen Tränen trocknen und meine Hand halten, bis der Tod uns scheidet. Ich werde sie ein letztes mal bewundern, in ihre wunderschönen Augen sehen. "ich liebe Dich" wird ein letztes mal über meine Lippen huschen, und wenn sie´s erwidert bin ich der glücklichste Mensch, für diesen Moment. Dann werde ich sie an mich ziehen, ihren Duft ein letztes mal einatmen, ihre weiche Haut ein letztes mal spüren, ihr Herz ein letztes mal schlagen hören und mich fragen, warum es nicht immer so hätte sein können.
 

http://www.webstories.cc 29.03.2024 - 16:28:07