... für Leser und Schreiber.  

Gesundes Fleisch

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14 Stimmen
   
© Alfred Bekker   
   
In der Schule waren sie Freunde gewesen und jetzt hatten sie sich durch einen Zufall wiedergetroffen. Natürlich gab es eine Menge zu erzählen. Kennst du hier ein einigermaßen passables Restaurant? fragte Tim Gessner, dessen Haar sich schon etwas gelichtet hatte und der ein so aufdringliches After Shave verwandte, daß er eigentlich nur Vertreter sein konnte.
"Nur eins", sagte Peter Fabri. "Du siehst ja, es ist ziemlich ländlich hier..."
"Ja, der Kuhgeruch ist nicht zu ignorieren..."
"Ich rieche ihn gar nicht mehr. Also, laß uns zu Achim aus Brasilien gehen."
"Wem?"
"Achim aus Brasilien, dem Wirt der Dorfschänke. Hat lange im Ausland gelebt, sich hier und da herumgetrieben. Seine Rezepte sind etwas exotisch, aber schmackhaft." Tim zuckte die Achseln. "Meinetwegen."
Kurze Zeit später saßen sie bei Achim und ließen sich die Karte geben. Tim hatte Peter indessen erzählt, daß er tatsächlich Verteter war. Er reiste mit Kleiderkoffern zu den Modehäusern. "Reiner Zufall, daß ich dich heute getroffen habe. Dieses Nest steht eigentlich gar nicht auf meiner Liste. Aber ich mußte tanken... Was machst du eigentlich?"
"Ich bin Lehrer", sagte Peter.
"Ah", machte Tim. "Verheiratet?"
"Ja. Und du?"
"Geschieden."
"Oh."
Tim zuckte die Achseln. "So ist das eben." Dann ließ er den Blick über die Speisekarte schweifen und runzelte die Stirn. "Eintopfgerichte scheinen die Spezialität von diesem brasilianischen Achim zu sein", stellte er fest. "So etwas wie ein anständiges Steak hat er wohl nicht?"
"Ein Steak? Womöglich noch vom Rind?" Peter lachte heiser. "Also ich esse so etwas nicht mehr. Du hast doch sicher von dieser Seuche gehört..."
"Rinderwahn meinst du."
"Ja."
Tim machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. "Ich nehme das nicht ganz so ernst. Wahrscheinlich haben wir uns doch sowieso schon alle angesteckt. Ich für meine Person habe jedenfalls manchmal den Verdacht... Konnte ich mich doch gestern einfach nicht an meine eigene Autonummer erinnern, als mich jemand danach gefragt hat." Er lachte gezwungen, aber sein Gegenüber lachte nicht mit. "Naja, du hast schon recht", sagte Tim. "Eigentlich sollte man kein Rindfleisch mehr essen. Und am besten auch keine Wurst, kein Hackfleisch, keine Kraftbrühe mit Markklößchen..."
"Und keine Gummibärchen und keine Gelatine aus Rind!"
"Nicht zu vergessen! Also, was tun? Schwein und Geflügel? Ich meine, ganz zum Vegetarier werden, das brächte ich nicht übers Herz, Peter! Dazu bin ich zu wenig der asketische Mönchstyp, dem die Entsagung Freude macht! Lieber ungesund und kurz leben, als..." Er brach ab, als er den tadelnden Blick seines Gegenübers sah. "Du guckst wie ein Lehrer", meinte er. Und dann lachten sie. Peter sagte schließlich: "Ich esse auch kein Schwein und kein Geflügel mehr."
"Aber..."
"Schweine werden mit Antibiotika und Hormonen vollgepumpt..."
"Zugegeben..."
"Und die meisten Geflügelbestände sind doch mit Salmonellen durchseucht." Jetzt kam Achim zu ihnen an den Tisch. "Schon gewählt?" fragte er.
"Ja, ich nehme das Ragout", sagte Peter und Tim sah ihn erstaunt an, schluckte seine Verwunderung aber hinunter und entschied sich dann ganz spontan für das Geschnetzelte. "Das mußt du mir erklären", meinte Tim dann, als Achim aus Brasilien weg war. "Erst erzählst du mir, daß es nichts fleischhaltiges unter der Sonne gibt, was man noch guten Gewissens verzehren kann und dann bestellst du dir ein Ragout, bei dem noch nicht einmal angegeben ist, von welchem Tier es kommt! Wer weiß, welche Bestandteile da zusammengemixt wurden! Oder wolltest du mir nur den Appetit verderben? Okay, ich habe einen Bauch vom Autofahren, aber daß du gleich..."
"Moment", fuhr Peter dazwischen. "Alles, was ich vorhin gesagt habe, gilt nicht für Achim aus Brasilien."
"Nein?"
"Nein. Hier kannst du unbesorgt zuschlagen - es sei denn, du denkst an deinen Bauch. Aber wahnsinnig wirst du von diesem Fleisch nicht."
Jetzt wurde es Tim aber zu bunt. "Woher willst du das wissen?"
"Weil Achim die Tiere selbst aufzieht und ihre Herkunft einwandfrei belegen kann."
"Dann ist dieser Achim aus Brasilien also auch nebenbei noch - Bauer?" Tim war ehrlich erstaunt und auf seinem Gesicht erschien der Ausdruck tiefsten Respekts. Das Essen kam, es schmeckte hervorragend. Die Unterhaltung plätscherte dahin. Sie tauschten untereinander aus, wer was von wem aus der alten Schulklasse gehört hatte und dann blickte Tim plötzlich auf die Uhr. "Ich muß weg!" - "Naja, da kann man nichts machen!" - "War schön dich wiederzusehen, Peter!" Sie zahlten. "Kommst du mit raus?" fragte Tim, aber Peter schüttelte den Kopf. "Nein, ich lasse mir von Achim noch etwas Fleisch einpacken. Für zu Hause." - "Er ist auch Metzger?" - "Naja..." - "Tschüß, vielleicht sieht man sich ja mal!" Tim hatte es auf einmal wirklich sehr eilig. Als er aus der Tür war, wandte sich Peter an Achim, der hinter dem Tresen stand. "Nächste Woche haben wir eine kleine Familienfeier, da brauche ich etwas mehr", sagte er und Achim nickte. Dann folgte Peter Achim durch den Flur. Sie gingen an der Küche vorbei zu den Stallungen, in denen ein einzigartiges Gewimmel herrschte. Hunderte von Ratten und Mäusen und Tausende von Heuschrecken, deren Zubereitung Achim in den Regenwäldern Südamerikas von den Indianern gelernt hatte, tummelten sich dort - sicher auch nicht viel glücklicher als gewöhnliches Mastvieh, aber garantiert nicht vom Rinderwahn befallen.
 

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