... für Leser und Schreiber.  

Wach auf und atme

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© Mia Mai   
   
Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich mir fest vorgenommen, es nie wieder zu tun. Es einfach zu lassen, als sei es mir schon immer fremd gewesen und hätte niemals einen Platz in meinem Leben gehabt. Auch nur der flüchtigste Gedanke daran, der wie ein garstiges Reptil in mir hoch kroch, versuchte ich im Keim zu ersticken, so gut es eben ging. Manchmal half es schon, Bilder vergangener Tage heraufzubeschwören; Bilder, die mir die leisen Echos eines anderen, schöneren Lebens vor Augen führten: Eiscremetage, warmer Juliwind und das glöckchenklingelnde Lachen von Nadja in jenem Sommer an der Ostsee. Ihre warmen, warmen Hände. Das Gefühl, mit bloßen Füßen über sonnengewärmten Strand zu laufen. Nadjas Stimme, wie sie durch die flirrende Abendluft tänzelt und Neruda zitiert. Nächte, in denen ich meine Gitarre zum Flüstern bringe und die Welt in weichem Samt versinkt..
Manchmal aber schleicht es sich von hinten an mich heran, preßt mir die kalten Hände auf den Mund und bringt mich dazu, es einfach gewähren zu lassen. In solchen Momenten fühle ich fiebrige Wogen in mich eindringen wie einen zorniger Liebhaber. Unerbittlich erobert es meinen Geist, zerfetzt mein bebendes Fleisch mit unsichtbaren Klingen und läßt erst von mir ab, wenn ich wimmernd und gebrochen am Boden lag und schaumiger Speichel aus meinen Mundwinkeln tropft.
An diesem Abend habe ich nicht einmal dagegen angekämpft. Verzweifeltes Aufbäumen, das Sammeln der letzten Kräfte hat noch nie etwas für mich getan. Mut ist eine schöne Sache, um ein loderndes Gewissen zu besänftigen, hilft einem aber nur in seltenen Fällen aus der Patsche. Und so liege ich, ein wimmerndes Bündel, auf dem Boden und starre ins Nichts. Ich hätte den rauhen Stoff des Teppichs an meiner Wange fühlen müssen, den kalten Luftzug, der durch die zerborstene Fensterscheibe ins Zimmer dringt, doch eine nach der anderen ist jegliche Empfindung von mir abgebröckelt und hat nichts als Gleichgültigkeit in mir zurückgelassen. Ich erinnere mich nur sehr vage an das, was kurz zuvor geschehen sein muß: Hektische Wortfetzen, die wie giftige Hornissen durchs Zimmer surren, Nadja verläßt das Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu, die irrsinnige Wut, die sich aus mir erbricht und deren Gestank die Luft verpestet, die Angst, ersticken zu müssen an etwas, das in meiner Kehle zu einem eisigen Klumpen erstarrt ist und mir den Atem stiehlt. Und die furchtbare Erkenntnis, daß es aus seinem leichten Schlaf erwacht ist und sich seinen Weg nach draußen bahnt.

"Abhauen werd ich, hörst, es ist vorbei..."

Nadjas Stimme zuckt durch meinen Geist.

"...glaub bloß nicht, ich würd zurück kommen, das liegt alles hinter mir – du liegst hinter mir..."

Ich werde zu nichts, ihre Worte formen mich zu einen leblosen Klumpen. Sie ist weg, aus meinem Leben gerissen

"Ich ertrag das nicht mehr, diese Anfälle, die du da hast...Mädel, hol dir Hilfe, aber ich kann nicht, ich kann nicht mehr, hörst du...du zerbrichst mich..."

In mir trage ich keine Tränen. Nadja, Nadja, Nadja...siehst du nicht, was du aus mir gemacht hast, welches Monster du erschaffen hast – du sagtest, ich sei krank, da drin in meinem Kopf...doch weißt du, heute ist es nur die Leere, die mich auffrißt und die du dort hinterlassen hast.
Einen Moment lang verliere ich mich in Schwärze, und als ich wieder hinsehe, bedecken glitzernde Tautropfen meinen Körper. Der Spiegel ist zerborsten, seine Überreste grinsen mich an mit einem abscheulichen Scherbenmaul. Ich liege inmitten eisiger Splitter. Meine Hand ist ein Geist, der sich losgesagt hat von meinem Körper, ich sehe zu, wie meine Finger sich um eine Scherbe krallen. Kein Gefühl, kein Gefühl...tief taucht die Scherbe in mein Fleisch, ratsch, ratsch, ratsch, meine Güte, warum tut das denn nicht weh? Draußen geht die Sonne langsam unter, ich sehe ihr zu, wie sie langsam am unteren Rand des Fensters verschwindet. Ich bin ganz ruhig, einatmen, ausatmen, nur keine Angst haben. Mein Arm fühlt sich heiß an.

Ich erwache, der Schlaf war voll heiß glühender Träume. Schon als ich langsam die salzverkrusteten Lider öffne, weiß ich, das es wieder geschehen ist. Die Haut an meinem rechten Arm ist in dunkles Rot getaucht. Keine Furcht kommt in mir auf, diese Wunden in meinen Fleisch sind meist nie sehr tief.
Mein Kopf liegt schwer auf dem kühlen Grund und fühlt sich schmierig an von Schweiß. Direkt neben mir liegt sie, eine Spiegelscherbe so groß wie ein Bleistift. Schwerfällig stemme ich mich hoch, krieche zu ihr, der Eisprinzessin, deren Spitze rot ist von meinem Blut. Mein Gesicht, das sie plötzlich ausfüllt...blasse Wangen, dunkles, strähniges Haar, große staunende Augen. Ganz und gar schmutzig sehe ich aus, in meinem Kopf erscheint das Wort: Besudelt. Meine Fingerspitzen berühren die kühle, glatte Oberfläche der Spiegelscherbe, zeichnen meine Konturen nach, tänzeln liebevoll über das Abbild der Lippen. Warum siehst du nur so traurig aus, mein Mädchen, so klein und jämmerlich?
Spürst du denn nicht, daß du am Leben bist?
Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem die Wunde an meinem Arm zu schmerzen beginnt. Erschrocken fahre ich zurück. Der Schmerz treibt mich in die Wirklichkeit. Nach einem langen Irrflug stelle ich erschrocken fest, erwacht zu sein.
Ich habe mir doch so fest vorgenommen, es nie...aber das war, bevor Nadja mich verlassen hat. Theoretisch kann es jeden Tag aufs Neue geschehen. Schwärze, Schnitte, Wunden, Narben. Ja, Narben...wie viele davon schon an meinen Körper kleben! Ich ziehe meinen Pullover hoch und betrachte sie, all die feinen kleinen Erhebungen an meinem Bauch, züngelnde Schlangenbrut auf nacktem Fleisch. Wie schön sie sind im flirrend blauen Halbdunkel....sie sind schön, weil sie mir gehören, jede einzelne von ihnen, und weil sie mir manchmal das Gefühl geben, lebendiger zu sein als das Leben.
Nach einer Ewigkeit schaffe ich es, auf die Füße zu kommen und finde mich vor dem Fenster mit dem klaffenden Loch wieder. Es muß Nadjas kleines Kofferradio gewesen sein, daß ich gestern Abend durch die Scheibe gejagt habe. Das Glas trägt so feine Risse wie ich selbst. Über dem Dorf liegt Nebel; wenn man nur lange genug hin sieht, glaubt man, kleine Elfen durch den dichten Schleier tanzen zu sehen.
Ich atme die kalte, scharfe Morgenluft, die nach Feuchtigkeit und Tautropfen riecht. Mit ihr sauge ich Mut in mein Innerstes, der mich anfüllt und größer macht, als ich es je sein werde. Ich lebe noch. Ich atme. Es ist vorbei...mein Mund tut sich auf und schüttet Lachen über den neuen Tag.
 

http://www.webstories.cc 03.05.2024 - 17:00:50