Fünfunddreißigstes Kapitel: Heimkehr
„Du… du hast was getan?“, Ahrok blickte sich suchend nach dem Abschlachter um, der hier irgendwo auf der Ladefläche unter all den Kisten und Truhen liegen musste.
„Ich hab deinen dämlichen Brief für dich geschrieben. Na und? Du hast ja eh nichts auf die Reihe gekriegt und wolltest ja auch meine Hilfe.“
„Ja, Hilfe. Aber nicht dass du völlig an mir vorbei handelst. Wie kamst du nur auf diese Idee? Ich meine… wer weiß, was du da für einen Mist reingeschrieben hast, denn ich weiß ganz genau, dass du Ariane nicht leiden kannst.“
„Ja zugegeben, wir sind nicht gerade vom selben Quarz, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ihr keine Liebesbriefe schreiben kann.“
„Sag mal spinnst du? Genau sowas heißt das nämlich doch. Ragnar… warum tust du das? Warum tust du mir das an? Du wusstest doch genau, wie viel mir daran lag.“
„Und genau deshalb hab ich das doch für dich getan, also hör auf hier rumzutoben wie ein junger Bär. Du hast die letzten Wochen nicht einmal sitzen können und morgen erreichen wir Märkteburg. Es blieb einfach keine Zeit mehr für dich, den Brief zu schreiben, geschweige denn noch einen Boten zu finden.“
„Ja, ja, du weißt natürlich wieder mal alles besser. Du hättest mir davon erzählen müssen. Ragnar du bist ein Zwerg! Ein, ein… ich weiß nicht einmal genau was du bist, aber du bist ganz sicher kein Briefeschreiber! Wenn sie deine mit Runen vollgekritzelten Steintafel sieht, dann weiß sie doch, dass da was nicht stimmt.“
„Ich hab doch gar nicht…“
„Oh ihr Götter… was wenn sie denkt, dass du ihr einen Liebesbrief geschrieben hast? Nein, nein, nein, nein, nein…“, Ahrok vergrub bei dieser Vorstellung sein Gesicht zwischen den Händen.
„Das glaub ich kau…“
„Ragnar, was hast du nur getan? Mein Leben ist dahin! Dahin! D-A-H… und so weiter.“
„Nun fahr mal nicht gleich aus deinen Stiefeln… Stiefel. Erstens hab ich mir Papier von einem Grafen geschnorrt und zweitens hab ich für den Brief eine äußerst inbrünstige, zwergische Ballade verwendet, die schon meiner Mutter immer sehr gefallen hat.“
„Und es fällt ja auch gar nicht auf, wenn ich in dem Brief von ihrem hübschen Bart und der aufreizenden Trinkfestigkeit schwärme. Denkst du auch irgendwann mal nach?“
„Du bist ´n scheiß Rassist, Ahrok. Meine Mutter trug keinen Bart und trank auch nicht… übermäßig viel.“
„Ja, ja, du weißt was ich meine. Ich würde zu ´nem Zwerg gehen, wenn ich ´nen schönen Stein haben will, aber doch kein Liebesgedicht.“
„Und warum nicht? Denkst du etwa, unsere Frauen sind weniger verbohrt und zickig als eure? Sie wollen genauso umworben werden. Das ist doch überall das gleiche, vielleicht abgesehen davon, dass dir ´ne Zwergin ihren Hammer über den Kopf zieht, wenn du dich nicht genug anstrengst. Ich hab einfach Worte wie ´Quarz´ und ´Stein´ durch ´Blume´ ersetzt und konnte den ganzen Text fast eins zu eins übernehmen.“
„Hm…“, brummte Ahrok ein wenig versöhnter.
„Also mach dir keine Sorgen. Sie ist wahrscheinlich schon vor lauter Vorfreude auf dich aus dem Rock geschlüpft, nachdem sie meine Zeilen gelesen hat.“, Ragnar hatte sich vom Gespräch abgewandt und blickte an der Plane des Wagens vorbei in die vorbeiziehende Landschaft.
„Dass du diese Wirkung auf meine Verlobte haben sollst ist… verstörend.“
„Du findest aber auch immer was zu meckern.“
„Wenn du das versaut hast, Ragnar, dann…“
„Pff, ich bitte dich. Wann hab ich jemals was versaut? Sieh mal da hinten. Sind das nicht die Häuser von Weidenstolz? Wir sollten den Leuten da mal ´Hallo´ sagen, findest du nicht?“
Ahrok nickte, als der gerechtfertigte Ärger langsam hinter dem guten Gefühl verschwand, dass er mit dem Namen „Weidenstolz“ verband. Seine letzte, große, echte Heldentat. Menschen die ihn bejubelten und ihn feierten als ihren Befreier. Das war genau das, was er jetzt brauchte.
„Ariane, wir müssen reden.“
Schon beim ersten Wort aus dem Mund ihres Onkels verdrehte die junge Komtess die Augen. Wie oft hatte sie in den letzten Wochen diesen Satz gehört und danach eine fruchtlose Diskussion über Anstand, Verantwortung und Pflicht führen müssen. Der Meinung ihres Onkels nach hielt sich eine unverheiratete Gräfin nicht so viele Liebhaber zweifelhaften Rufes und wenn doch, dann nicht so unverschämt öffentlich. Ihr Vormund verstand einfach nicht, dass die Sache mit Gilbert etwas Ernstes war, etwas Besonderes. Er war der Mann, den man nur einmal im Leben traf. Über ihn hatte sie längst vergessen, was sie mal an diesem raubeinigen Bauernjungen gefunden hatte, der nicht einmal richtig lesen konnte.
Gilberts Kultiviertheit, seine Manieren und sein unsäglicher Charme waren um so viel ansprechender. Er erschlug vielleicht keine Drachen, dafür war er jedoch selbst dann an ihrer Seite, wenn sie sich wenig tugendhaft über die häuslichen Probleme der Familie von Lichtenstein bei ihm ausließ. Er verstand sie. Hörte zu, ließ sie reden und stellte sogar Fragen. Selbst dass der schreckliche Schatten des Hammers über ihnen lag, verband sie nur noch mehr, anstatt sie zu entzweien. Warum konnte ihr Onkel das nicht einfach akzeptieren und ihm seinen Segen geben?
„Was ist?!“, fragte sie in einem Tonfall, der hoffentlich all ihre ungeduldige Anspannung transportierte. Sie hatte heute wahrlich keine Lust, sich noch einmal ihren Magier schlecht machen zu lassen.
„Es ist etwas passiert.“
„Und was?“, die Hand in der Hüfte sowie die hochgezogenen Augenbrauen sollten ihren Onkel nun endgültig davon überzeugen, dass dies ein schlechter Zeitpunkt für eine seiner Du-bringst-mich-noch-ins-Grab-Reden war.
„Er kommt zurück.“
Arina hob ungeduldig fragend die Augenbrauen noch ein kleines Stückchen höher.
„Mein Freund der Graf von Greifenfels und seine Expedition kehren ein paar Monate früher zurück. Und mit ihm auch…“, der Graf ließ den Satz unvollendet und erwartete ungeduldig ihre Reaktion auf diese Nachricht.
„Nein…“, flüsterte Ariane bestürzt. „Wann?“
„Sie kommen in ein paar Tagen hier an, in zwei, vielleicht drei.“ Als Ariane weiterhin wie vor den Kopf gestoßen zu Boden blickte, fuhr er so sachlich er konnte fort. „Was willst du, dass ich tue? Denn er wird dabei sein, dessen bin ich mir sicher.“
Das waren schreckliche Neuigkeiten.
Dieses Abenteuer sollte ihr ihren Verlobten bis mindestens zum Winter aus ihrem Leben gehalten haben. Wieso kehrte er nun schon Monate früher zurück? Warum so plötzlich und warum jetzt, da ihr Leben endlich einmal bedingungslos schön war? Es sollte doch so ein schöner Sommer an Gilberts Seite werden, fernab von diesen schrecklichen Pflichten und Bürden, aber jetzt…? Die Konsequenzen der unvernünftigen Verlobung, in die sie ihr Onkel getrieben hatte, sprangen sie aus dem Schatten ihres schönen Traumes an und machten alles zunichte.
„Woher weißt du das?“
„Es kam ein Brief.“
„Von ihm?!“
„Nein! Nein. Die Reisegesellschaft hat Schreiben zu allen Adelshäusern versandt, um uns auf die Rückkehr vorzubereiten.“
„Also ist es kein schlechter Scherz.“
„Nein. Es tut mir leid, es ist kein Scherz. Es ist wahr.“ Ihr Onkel legte ihr in einer für die letzten Wochen ungewöhnlich väterlichen Geste die Hand auf die Schulter. „Was willst du also, das wir tun?“
Viele kleine Szenarien hasteten durch ihren Kopf, doch letztendlich blieb es bei einem hilflosen „Ich weiß es nicht…“
Ahrok hatte sich vor lauter Vorfreude durch den ganzen Unrat bis nach vorn zum Kutschbock durchgekämpft und saß aufgeregt neben dem vor sich hin dösenden Fahrer auf den ungepolsterten Brettern. Der Mann schlief den halben Tag lang und es war nur den stoisch vorantrabenden Pferden zu verdanken, dass dieser Wagen nicht längst abseits der Wege in einem Moor gelandet war. Ein bisschen erinnerte ihn auch dieser Fahrer an Knut. Nicht dass der hier so hässlich war wie die kleine Missgeburt, die ihn damals nach Märkteburg kutschiert hatte, aber Ahrok konnte sich auch bei dem Kerl hier kaum des unwiderstehlichen Drangs erwehren, ihm eine zu verpassen. Vielleicht fühlte er aber auch nur so, weil er insgeheim noch immer wütend über Ragnars eigenhändige Einmischung in sein Liebesleben war und er deshalb irgendjemanden schlagen wollte.
Der Zwerg hatte außer seiner eigenen Mutter wahrscheinlich noch nie eine andere Frau berührt und jetzt spielte er sich als der große Verkuppler auf, schrieb Liebesbriefe und sah noch nicht einmal ein, wie falsch das alles war.
Ja, er hatte den Valr um Hilfe gebeten und ja, er war auf dem Schiff und in den Tagen danach nicht in der Lage gewesen, sich seinem hehren Ziel der Rückeroberung seiner Ariane zu widmen, aber das gab Ragnar noch lange nicht das Recht, sich so dreist einzumischen.
Was wenn Ariane das Schreiben nicht gefiel, oder genauso schlimm, was wenn es ihr gefiel? Was wenn sie Fragen hatte, woher diese schönen Worte stammten oder er den Text für sie aus dem Gedächtnis rezitieren sollte? Das dieser Zwerg auch nie weiter dachte, als seine Axt reichte, war ein fast unerträglicher Fluch für Ahroks armes Dasein. Jetzt blieb ihm nur noch hoffen und bangen und beten, dass alles irgendwie und trotz aller Umstände noch gut werden würde. Allein die Vorstellung den Abend in einer gemütlichen Schenke voller lobliedersingender Bauern zu verbringen, hielt seinen Magen davon ab, völlig durchzudrehen und seinen spärlichen Inhalt am Wegesrand zu verteilen.
Tatsächlich rückten vom Horizont die Umrisse eines kleinen Dörfchens näher, doch Ahrok wurde mit jedem Schritt, den ihr Wagen zurücklegte, immer misstrauischer. Die Bauern von Weidenstolz lebten von der Schafzucht und dem Ackerbau, doch auf den ungepflegten Wiesen grasten keine Tiere und es gab niemanden, der auf den brachen Feldern arbeitete. Sollten diese offenbar verlassenen Hütten wirklich zu dem Dorf gehören, dessen großer Held er war?
Sein letzter Besuch war einige Monate her und er hatte sich bei seinem Aufenthalt hier die Architektur von Weidenstolz nicht so genau eingeprägt, aber er erkannte selbst aus dieser Entfernung noch zwei Gebäude, bei denen er überlegt hatte, wie er wohl am besten Fallstricke zwischen ihnen spannen konnte. Dieser von allen Geistern verlassene Ort war also wirklich Weidenstolz.
Ihr Wagenzug rumpelte ungebremst weiter und weiter. Die Häuser des Dörfchens kamen immer näher und offenbarten dadurch immer mehr von der Leblosigkeit dieses Ortes. Keine Stimmen, keine Menschen oder Elfen, ja nicht einmal ein Zwerg oder ein Schaf waren zu sehen, als sie über die Straße fuhren, die durch das Dorf führte.
Tot, leer, verlassen.
Ahrok starrte mit offenem Mund ungläubig auf die Reste von Weidenstolz. Sein Kopf ruckte hin und her wie der eines Wendehalses und seine Augen sprangen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und von Fenster zu Fenster, um an einem dieser Orte doch noch so etwas wie ein Lebenszeichen zu erspähen.
Doch da gab es nichts zu finden.
Ihre Wagen rollten unbehelligt durch die klaffende Schlucht zwischen den leeren Häusern und als sie das letzte Gebäude passierten, konnte Ahrok es immer noch nicht glauben, dass niemand hier war. Hatten sie die Banditen damals doch nicht vertrieben? Waren die versprengten Bösewichte etwa zurückgekehrt, nachdem Ragnar und er abgereist waren?
Ahrok lehnte sich zur Seite und blickte an der Plane des Wagens vorbei nach hinten in der kleinen Hoffnung, dass die Dörfler ihm nur einen kleinen Streich spielen wollten und jetzt gleich alle wohlbehalten aus der Schenke stürmen würden, um ihn willkommen zu heißen.
„Was ist hier passiert…?“
Die Frage in seinem Kopf war so bohrend, dass sie sogar laut ausgesprochen über seine Lippen den Weg in die Welt suchte. Ahrok riss seinen Blick von den kleiner werdenden Gebäuden und packte den armen Kutscher neben sich bei den Schultern.
„Was ist hier passiert?!“, fuhr er den Mann an, der derart rüde aus dem Schlaf geweckt sogleich die Zügel fahren ließ.
„Hä?“, war die Antwort, die auch das schier endlose Desinteresse in seinen glasigen Augen gut widerspiegelte.
Ahrok rüttelte jedoch weiterhin unnachgiebig an dem Mann. „Weidenstolz! Was ist mit dem Dorf hier passiert?“
Der Kutscher, der bei ihrer kleinen Unterhaltung neben dem zerkauten Grashalm auch die Zügel verloren hatte, sah sich kurz um, wies dann mit einem Kopfnicken nach links und bückte sich dann, um sein am Boden schleifendes Arbeitsgerät wieder aufzunehmen.
Als Ahroks Blick der gewiesenen Richtung folgte, traute er seinen Augen nicht.
„Ragnar!“, rief er nach hinten in den Wagen. „Ragnar komm her, ich brauch dich hier!“
„Was ist?“, tönte es aus dem Wirrwarr geplünderter Schätze.
„Komm! Schnell!“
Dinge fielen um, Kisten wurden mit gruseligen Geräuschen begleitet verschoben, als sich der kleine Mann durch den viel zu engen Raum zwängte.
„Was ist?“, fragte der Zwerg noch einmal, als er seinen Kopf endlich zwischen Ahrok und dem Kutscher durch die Plane schob.
Ahroks Stimme überschlug sich während er dem Zwerg „Sie dir das da drüben mal an!“ ins Ohr brüllte.
Links von ihnen am Wegesrand stand ein alter, mächtiger Baum mit weit ausladenden, starken Ästen. Obwohl es mitten im Sommer war, trug er kein einziges Blatt, stattdessen hingen siebzehn schlaffe Körper von seinen starken Ästen.
„Schei…“, der Rest des Fluches ging in dem Geräusch unter, das ein Zwerg verursacht, der völlig überhastet Hals über Kopf vom Kutschbock einen Wagens purzelt.
Ohne auf die zerrissene Hose und die darunter blutigen Knie zu achten, stolperte Ragnar weiterhin kopflos auf diesen Baum zu und vertrieb damit einen ganzen Schwarm Krähen, die mit ihrem glänzendem Gefieder wie totes Laub zwischen den Gehängten saßen.
„Ahrok!“, brüllte der Zwerg.
„Was?!“
„Das musst du dir ansehen!“
„Ich kann ni… ohhhhh Scheiße!“, fluchte er und sprang dann entgegen aller Vernunft wie auch schon der Zwerg vom Wagen.
Wie erwartet konnte er den Sturz mit nur einem Bein nicht abfangen und fiel schon wie der Zwerg vor ihm der Länge nach in das warme Gras. Umständlich rappelte er sich auf, spuckte Halme und Käfer aus und hüpfte zu dem Galgenbaum vor dem Ragnar stand.
Mit wild klopfendem Herzen, das halb von der Anstrengung und zur anderen Hälfte von der großen Aufregung herrührte, lehnte Ahrok an der Schulter des Zwerges und starrte fassungslos auf die vertrockneten Füße, die sich direkt vor seinem Gesicht in einer warmen Sommerbriese wiegten.
Die Haut der erhängten war fleckig und fahl, Zunge und Augen, soweit nicht herausgepickt, hervorgequollen, dennoch war es nicht schwer für ihn unter den Toten einige Gesichter wiederzuerkennen. Direkt vor ihm hing der Schulze von Weidenstolz. Die Arme auf dem Rücken zusammengebunden, damit er sich im Todeskampf nicht befreien konnte. Links davon baumelten die Überreste der Alten, welche ihm die Schulter wieder eingerenkt hatte.
„Was ist hier passiert?“, murmelte Ahrok wohl zum zehnten Mal.
Ragnar legte den Kopf in den Nacken und wies auf ein kleines Holzschild, das außerhalb seiner Reichweite einem der toten Dörfler vor der Brust hing. In schmucklosen Lettern erklärte es das Schicksal von Weidenstolz.
„Auf Anordnung des Landgrafen Friedhelm Günther von Stauffen, Herr über die Wulfmark, Weidenstolz, Dahlingen und Grauheim, wurde das Urteil wegen Hochverrats an dem abtrünnigen Dorf Weidenstolz am fünfzehnten Maia im Jahre 5573 vollstreckt.“
Ahroks Knie wurde weich und er ließ sich zu Boden fallen.
„Abtrünniges Dorf? Ragnar, was ist hier passiert?“