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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Heimat und Sehnsucht/Episode 12/Das inbrünstige Gebet und der zerplatzte Traum

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Wir schreiben das Jahr 1952
Episode 12
Das inbrünstige Gebet und der zerplatzte Traum

Die letzten Monate waren wie im Fluge vergangen. Der Winter war immer kälter, härter und stürmischer geworden. Die Kinder waren froh, wenn sie heil in der Schule oder zu Hause ankamen. Es war so kalt, dass die Pausenrundgänge auf dem Schulhof ausbleiben und die Kinder die Pausen in den Klassenzimmern verbringen mussten. Ein Glück, dass in diesem Jahr die Öfen beheizt waren. So brauchten die Kinder nicht mit ihren dicken Wintersachen auf den Bänken zu sitzen.
Irgendwie war das Herumsitzen auch gemütlich. Die Lehrer vergnügten sich einige Minuten ohne die Kinder im Lehrerzimmer. Und die Kinder sangen und erzählten ungezwungen, ohne die Lehrer, im Klassenzimmer.
Rosi wunderte sich immer wieder, dass die Geschichte mit der blauen Tschapka kein Nachspiel hatte. Sie war längst Geschichte. Kein Kind redete mehr davon. Nur sie dachte noch ab und zu daran. Und zwar so lange es Winter war. Und Helga mit der blauen Tschapka herum lief.
*
Was war denn gestern los?", hatte Else Rosi am nächsten Morgen gefragt.
"Der Teufel ist wieder in mich gefahren", hatte Rosi misslaunig geantwortet und kurz überlegt, ob sie Else die Geschichte mit der blauen Tschapka und der angedrohten Klassenkeile erzählen sollte. Gestern war ja dazu keine Gelegenheit.
Als Rosi in Brühl 18 ankam, konnte sie nur noch ihre Fratzen ziehen und hatte kein Wort mehr gesagt. Sie war so müde und erschöpft gewesen, dass sie fast im Stehen eingeschlafen wäre und wie ein Stein ins Bett gefallen ist. Sie hatte sogar vergessen, die kratzige Bettwäsche abzuziehen.
"So, so", sagte Else, "der Teufel ist also wieder in dich gefahren. Das wäre ja nicht das erste Mal."
"Eben", sagte Rosi trotzig. "Aber das ist nicht meine Schuld."
"Natürlich nicht", lachte Else. "Na dann erzähl mal."
Also erzählte Rosi die ganze Geschichte.
"Ist ja wirklich toll", sagte Else, nachdem Rosi geendet hatte. "Ja. Ja. Das ist so eine Sache mit dem Teufel. Der führt uns immer wieder in Versuchung. Da hilft nur beten, beten, nochmals beten."
"Mach ich ja immer", sagte Rosi. "Aber das hilft auch nicht. Gott schickt mir immer wieder den Teufel."
"Da kommt dein Gebet halt nicht aus dem Herzen", stellte Else klar. "Du musst inbrünstiger beten."
"Ja, ja", sagte Rosi und fügte nachdenklich hinzu: "Aber, wenn ich es richtig bedenke, wäre es ohne Teufel bestimmt zu langweilig. Da würde man ja gar nichts mehr erleben."
"Auch eine Ansicht", lachte Else. "Also, pass schön auf, dass du nicht heute die versprochene Klassenkeile erlebst."
"Ich weiß mich schon zu wehren", sagte Rosi leichthin.

Klar wusste sich Rosi zu wehren. Logo. Doch etwas bange war ihr schon. Und, wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, musste sie zugeben, dass sie sich kaum in die Schule traute. Doch sie musste. An jeder Ecke, in jeder schmalen Gasse, vermutete sie Kinder, die sich jeden Augenblick auf sie stürzen würden. Doch, oh, Wunder, sie kam unbehelligt in der Klasse an. Und das Allererstaunlichste war, dass alle Kinder so taten, als wäre gestern nichts geschehen. Als hätte sie überhaupt keine Klassenkeile bekommen sollen. Sogar Helga sagte kein Wort und lief wie selbstverständlich mit ihrer blauen Tschapka auf dem Schulhof herum.
Und wäre die blaue Tschapka nicht gewesen, hätte Rosi gedacht, sie hätte alles nur geträumt.
*
Fast unbemerkt war es Weihnachten geworden. Dann Silvester. Die Glocken in dem schiefen Kirchturm hatten feierlich das Neue Jahr eingeläutet. Das Jahr 1952. Ein Schicksalsjahr sozusagen. Denn die Schüler der Klasse 8b sollten ihr Abschlusszeugnis bekommen.
"Und die fünf besten Schüler meiner Klasse dürfen auf die Oberschule", freute sich Fräulein Ziehe. "Das heißt, wenn ihr und eure Eltern einverstanden sind."
Vier Schüler, darunter Bärbel und Heinrich, waren einverstanden. Ihre Eltern bestimmt auch. Die hatten ja genug Geld. Die konnten die 119 Mark bestimmt bezahlen. Bei Rosi sah das schon anders aus.
"Und du Rosi", fragte Fräulein Ziehe, "bist du auch einverstanden?"
"Ich möchte ja gern", sagte Rosi kaum hörbar. "Aber ich darf bestimmt nicht. Es ist zu teuer. Mein Stiefvater sagt so schon bei jeder Gelegenheit, wir fressen ihm die Haare vom Kopf."
Natürlich sorgte diese Antwort mal wieder für Gelächter in der Klasse. Haare vom Kopf fressen. Hahaha. Stellt euch das mal vor.
"Ist doch wahr", verteidigte sich Rosi.
"Ich spreche mit deinen Eltern", versprach Fräulein Ziehe. "Vielleicht sind sie ja doch einverstanden."
*
Nach dem extrem kalten Winter war es wieder Frühling geworden. In Brühl 18 blühte wieder der weiße Flieder. Else hatte Berta schon lange keinen Brief mehr geschrieben.
Liebe Mama komm doch wieder
In Brühl blüht wieder
Der weiße Flieder

Die Kinder saßen nach langer Zeit wieder gemeinsam unter dem blühenden Zwetschgenbaum. Und nach langer Zeit spielten sie mal wieder das Kinderkramspiel. 'Mensch ärgere dich nicht'.
Auf dem Hof war es wie immer. Im Frühling. Die Bienen und Hummeln summten und brummten. Die Mistkäfer krabbelten glänzend auf den Abfällen herum. Die Hennen gackerten. Der Hahn krähte ab und zu. Freia hatte es sich zwischen den Füßen der Kinder gemütlich gemacht. Und ab und zu reckte Frau Schmids ihren Kopftuchwuschelkopf über die Mauer, vor der der Zwetschgenbaum in voller Blüte stand.
"Sagt mal Kinder", sagte Rosi, "könnt ihr euch daran erinnern, wann Oma und Opa aus Altenburg zum letzten Mal hier waren?"
"Bestimmt zu Bertis Geburt", vermutete Karlchen. "Damals mussten wir doch die Bücher aus der Bibel aufsagen."
"Und du konntest es nicht", neckte Jutta Karlchen.
"Kann ich heute noch nicht", sagte Karlchen. "Interessiert mich auch nicht."
"Mich auch nicht", sagte Rosi. "Aber ich möchte trotzdem wissen, was mit denen los ist. Mama sagt auch nichts."
"Bestimmt", vermutete Jutta, "weil Mama schon so lange kein Kind mehr bekommen hat. Sie waren doch immer nur zur Geburt da."
"Stimmt auch wieder", stimmte Rosi Jutta bei. "Vielleicht kommen sie ja zu meiner Abschlussfeier."
"Vielleicht", sagte Jutta. "Und vielleicht muss Mama ihnen wieder einen Brief schreiben."
"Aber mit einem anderen Text", schlug Karlchen vor. "Vielleicht so: 'Liebe Mama komm doch wieder, im Hof ist verblüht schon der weiße Flieder. Rosi verlässt die Schule, und kommt nie wieder'", frotzelte er.
"Schöner Witzbold", sagte Rosi. "Aber es trifft den Kern."
"Welchen Kern denn?", wollte Jutta wissen.
"Ja, welchen Kern?", war auch Karlchen neugierig.
"Den Kern der Sache."
"Den Kern welcher Sache", wurde Jutta ungeduldig. "Mach es doch nicht so spannend."
"Ich soll unbedingt zur Oberschule."
"Ist doch toll", freute sich Jutta.
"Ja, toll", sagte Rosi. "Aber ich habe so meine Bedenken, dass unser sogenannter Stiefvater nicht damit einverstanden ist."
"Ist doch toll", sagte Jutta wieder. "Oberschule ist schon was Besonderes. Da dürfen nur die besten Schüler hin."
"Eben", sagte Karlchen und setzte sein Besserwissergesicht auf. "Und du bist ja der geborene Streber", neckte er Rosi.
"Bin ich nicht", ärgerte sich Rosi.
Streber. Dieses Wort konnte Rosi überhaupt nicht ausstehen. Sie war kein Streber. Und wenn die Kinder in ihrer Klasse Streber zu ihr sagten, was in letzter Zeit immer öfter vorgekommen war, wurde sie jedes Mal wütend. Sie musste sich beherrschen, nicht aus der Haut zu fahren. Karlchen nahm sie den Streber allerdings nicht so übel.
"Ich bin kein Streber", wiederholte sich Rosi. "Ist das klar?, stellte sie klar.
"Klaro", amüsierte sich Karlchen. "Du bist kein Streber. Du bist eine Streberin", lachte er.
"Um noch Mal auf deine Bedenken zurückzukommen", lenkte Jutta von dem Streberwort ab. "Sie machen schon Sinn." Jutta schüttelte ihren Kopf und rollte mit den Augen. "Du weißt doch, was für ein Theater war, als eure Klasse zu den Skispringermeisterschaften in Oberhof gefahren ist."
"Daran darf ich gar nicht denken", erinnerte sich Rosi.
"Für so einen Quatsch gebe ich nicht mein schwer verdientes Geld aus", hatte der Richard gesagt", sagte Jutta. "Für Pionierkleidung. Passende Schuhe", äffte sie Richards Tonfall nach.
"Ein Glück, dass ich dann die Ausstattung von der Schule bekommen habe. Dafür hat Fräulein Ziehe gesorgt. Sonst hätte ich wirklich was verpasst. So toll, wie die Skispringermeisterschaften waren."
"Da wäre ich auch gern dabei gewesen", sagte Karlchen. "Aber was soll's. Was nicht ist, ist nicht", lachte er.
"Und was nicht ist, kann ja noch werden", sagte Rosi. "Es gibt bestimmt noch mehr Skispringermeisterschaften."
"Bestimmt", sagte Karlchen. "Kommt wir gehen noch schnell ins Schwimmbad. Einige Runden schwimmen."
"Und vom Turm springen", lachte Jutta.
"Ja", war auch Rosi einverstanden. "Da können wir auch gleich Mama und die Kinder abholen."
*
Punkt neunzehn Uhr schellte die Haustürglocke.
"Ich mach auf", sagte Rosi. "Das ist bestimmt Fräulein Ziehe."
Klar war es Fräulein Ziehe. Eigentlich müsste Rosi schon im Bett liegen. Und schlafen. Oder lesen. Oder Jutta und Bertraud, die ja zusammen im Bett gegenüber schliefen, ihre neusten Gruselgeschichten erzählen. Oder was auch immer. Doch heute durfte sie selbstverständlich aufbleiben. Heute war Fräulein Ziehe zu Besuch. Zu einem klärenden Gespräch. Wie sie sich ausdrückte.
Else, Richard und Rosi saßen an dem ovalen Tisch Fräulein Ziehe gegenüber. Freia lag artig zu Rosis Füßen. Die blaue Runterziehlampe mit den gelben Sonnenblumen bewegte sich sacht im leisen Windzug. Die ersten Fliegen zappelten verzweifelt an dem Fliegenfänger. Jetzt, da es nach dem langen Winter endlich Frühling geworden war und der Fliederbusch mit seinem süßen Duft den Hof und das ganze Haus geheimnisvoll umhüllte.
"Ein herrlicher Duft. Der Fliederduft", begann Fräulein Ziehe das Gespräch. Nachdem Else ihr einen selbstgemachten Fliedertee kredenzt hatte.

Eine Weile unterhielten sich Else und Fräulein Ziehe über, nach Rosis Meinung, unwichtige Dinge. Wetter. Essen. Und so. Vor langer Weile fielen Rosi fast die Augen zu. Richard wohl auch. Der saß neben Else und sagte keinen Mucks. Vorerst jedenfalls. Er wurde erst munter, als Fräulein Ziehe sagte:
"Rosi gehört auf die Oberschule. Sie gehört zu den Besten in der Klasse. Es wäre wirklich jammerschade, wenn wir ihr diesen wichtigen Bildungsweg versperren würden."
"Wichtigen Bildungsweg." Richard starrte Fräulein Ziehe mit seinen großen, traurigen Augen verständnislos an. Dann legte er bedächtig eine schwarze Haarsträhne von links nach rechts über seine Vorderglatze und polterte los: "Wichtiger Bildungsweg. Und wer soll das bezahlen? Ich muss hier sechs Mäuler stopfen."
Obwohl es eigentlich acht Mäuler waren.
Seines und Elses hatte er vergessen.

Empört stand Richard auf. Aufgeregt lief er zwei Runden um den Tisch herum. Dann blieb er neben dem Stuhl, auf dem Fräulein Ziehe saß, stehen. Einen Moment starrte er Fräulein Ziehe von der Seite an. Dann sagte er, etwas ruhiger: "Wissen Sie, was das bedeutet? Nein.", gab er sich selbst die Antwort. "Wissen Sie nicht. Woher auch. Hätte ich auch nicht. In Ihren jungen Jahren."
"Aber Richard", mischte sich Else ein, "wie kannst du so etwas sagen." Else blickte verlegen zu Boden, bevor sie sagte: "Fräulein Ziehe hat Recht. Es ist doch sehr anerkennungswert, dass sie sich so um ihre Schüler kümmert."
"Nichts da", hatte Richard seine Meinung. "Abgesehen von dem Schulgeld, müsste ich das Ding noch vier Jahre durchfüttern. Was das kostet."
"Ich verdiene doch auch", sagte Else zaghaft. Und es klang nicht gerade überzeugend, als sie fortfuhr: "Ich könnte ja auch bei Vetters arbeiten. Neben der Näherei und Häkelei."
"Nichts da", blieb Richard hart. "Das Mädchen hat so schon genug Flausen im Kopf. Jeden Tag stellt sie was Neues an. Sie soll einen richtigen Beruf erlernen. Und uns dann unterstützen."
"Du willst also über mich entscheiden", sagte das Ding böse zu Richard, der sich wieder auf seinen Platz neben Else gesetzt hatte.
"Wer denn sonst?", fragte Richard kalt. "Du etwa?", lachte er höhnisch.
Empört stand Rosi auf. "Du bist doch gar nicht mein richtiger Vater!", schrie sie Richard an. "Mein Vater würde mir bestimmt nicht den Bildungsweg versperren. Und er würde auch nicht Ding zu mir sagen,"
Rosi wurde immer wütender. Sie musste aufpassen, dass ihr Gott nicht wieder den Teufel schickte. Das konnte sie Else, und natürlich auch Fräulein Ziehe, nicht antun.
"Lieber Gott", betete Rosi inbrünstig. Wie Else es ihr geraten hatte. "Bitte, behalte den Teufel. Lass mich nicht wieder aus der Haut fahren. Bitte, bitte. Behalte deinen Teufel lieber Gott."
"Und was soll ich bitteschön lernen?", fragte Rosi etwas ruhiger. Gott hatte wohl seinen Teufel behalten. Und das inbrünstige Gebet erhört.
"Ist doch egal", sagte Richard. "Irgendeinen Beruf. Da wird dir schon was einfallen."
"Mir fällt aber nichts ein", wurde Rosi wieder aufmüpfig. "Ich will zur Oberschule. Und wenn ich das nicht darf, mache ich gar nichts."
"Da sehen Sie", wandte sich Richard wieder an Fräulein Ziehe. "Und diese Frechheiten soll ich mir noch vier Jahre gefallen lassen. Nie und nimmer. Diese verwöhnten Kinder fressen mir noch die letzten Haare vom Kopf."
"Wir werden schon einen Weg finden", versuchte Else einzulenken.

Doch es fand sich kein Weg. Jedenfalls nicht heute. Richard blieb stur. Else gab nach. Fräulein Ziehe verließ enttäuscht Brühl 18. Rosi war traurig. Ihr Traum zerplatzte wie eine Seifenblase. Nun würde sie kein Abitur machen können. Wie Norbert.

***Fortsetzung folgt
 
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Kommentare  

Vielen Dank, ja, dem Film und dem weißen Flieder
widme ich 1954 auch eine Episode.
Gruß von


rosmarin (30.05.2024)

Wieder ein schönes Kapitel aus den 50ern. Wenn
der weiße Flieder wieder blüht; erinnert mich an
den Film mit Romy Schneider, spielt ungefähr in
derselben Zeit.

LGF


Francis Dille (29.05.2024)

Was ist denn los? Seit drei Tagen steht mein
Text einsam und verlassen hier oben. Gibt es
einen technischen Defekt? Oder schreibt
niemand mehr? Das wäre ja noch fataler. Ich
hoffe, dass ich bald wieder einige Texte lesen
kann.

,Gruß von


rosmarin (25.05.2024)

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