Das Buch gibt es ab 5. September im Handel
Abschied und Erinnerung
In diesem Jahr war der beginnende Winter noch sehr mild. So im Vergleich zu den eiskalten vorangegangenen Wintern. Es war Ende Oktober. Und die Sonne schien um die Mittagszeit noch so warm. Als wäre es Frühling. Sogar einige Fliegen verirrten sich noch manchmal in die Stube. Ein Glück, dass Else die Fliegenfänger mit den Fliegenleichen schon abgenommen hatte. So konnten die letzten Fliegen unbeschwert weiter leben. Bevor sie sich wieder in Steinfliegen verwandeln würden.
Nach dem Abendessen saß die ganze Familie noch eine Weile am Tisch. In dem alten Kanonenofen rumorte rötlich die Glut der einen Kohle, die Else jeden Abend in ihn hinein schob.
"Die Nächte sind ja schon ziemlich winterlich", sagte Else. "Da kann die Kohle das ganze Haus doch etwas warm halten. Zumal Gitti und Walti sich ja nachts oft abstrampeln."
"Mir ist immer warm", sagte Margitta. "Der Schornstein geht doch durch unsere Kammer."
"Mir ist auch warm", sagte Bubi Walti. "Weil der Schornstein durch unsere Kammer geht."
"So ist es", stimmte Else Gitti und Walti zu. "Und so verbreitet die eine Kohle eine anheimelnde Wärme. Im ganzen Haus."
Else hatte die blaue Runterziehlampe mit den gelben Blumen tief über den Tisch gezogen. "Damit das 'Mensch ärgere dich nicht' Spiel richtig beleuchtet wird", sagte sie.
Das alte Holz mit den Spielfeldern lag verlockend auf dem großen, ovalen Tisch. Dieses 'Mensch ärgere dich nicht' Spiel war ein ganz besonderes Spiel. Es war sechseckig. Und hatte sechs Spielfelder. Und nicht vier. Wie die normalen viereckigen Spiele. Außerdem war es aus Holz geschnitzt. Die Männchen natürlich auch.
Else hatte das Spiel eines Tages vom Trödel mitgebracht. Es lag mit anderen unverkäuflichen Sachen in einer Ecke. Und sie durfte es, ohne dafür zu bezahlen, mitnehmen. Wie Rosi vor langer Zeit ihren völlig zerknautschten, uralten Lederranzen. Den sie die ganze Schulzeit getragen hatte.
Die Kinder hatten die Männchen in ihrer Lieblingsfarbe schon aufgestellt.
Rosi in rot. Jutta in lila. Karlchen in grün. Bertraud in blau. Gitti in gelb. Walti in weiß.
Für Else war auf dem Spielfeld kein Platz. Else spielte den Aufpasser.
"Spielen wir noch einmal gemeinsam eine letzte Runde 'Mensch ärgere dich nicht'", sagte sie jetzt.
"Wieso eine letzte Runde?", wollte Bertraud wissen.
"Weil Rosi übermorgen in ein neues Leben fährt." Else schaute Rosi etwas spöttisch an, bevor sie erklärte: "Und dann ja die Familie nicht mehr vollständig ist."
"Ich will auch in ein neues Leben", sagte Bertraud.
"Ich auch."
"Ich auch."
Gitti und Walti sprangen von ihren Stühlen und hängten sich an Rosis Arm.
"Sitzen bleiben", befahl Else. "Marsch auf eure Plätze."
Sofort ließen Gitti und Walti Rosis Arm los. Artig setzten sie sich wieder auf ihre Stühle.
"Na also", sagte Else.
Die Kinder spielten so zwei, drei Runden ihr geliebtes, von Rosi, Jutta und Karlchen manchmal als Kinderkram belächeltes, Spiel. Doch die rechte Stimmung wollte an diesem Abend nicht aufkommen.
"Ich habe eine Idee", sagte Rosi nach einigen Minuten des Schweigens.
"Dann her damit", sagte Jutta.
"Also", begann Rosi, "weil ich doch übermorgen nach Suhl fahre und nicht weiß, wann ich wiederkommen werde, möchte ich mich von Buttstädt verabschieden."
"Von Buttstädt?", fragte Bertraud.
"Ja. Von Buttstädt." Rosi schaute auffordernd in die Runde. "Und ihr kommt mit", sagte sie.
"Das ist eine gute Idee", war Else einverstanden.
"Oh ja! Oh ja!"
Gitti, Walti und Bertraud klatschten begeistert in die Hände. Jutta und Karlchen nickten zustimmend.
*
Der nächste Tag war ein sonniger Sonntag.
"Kalt. Aber sonnig", sagte Else. "Und der Himmel so blau. Dann ab mit euch."
Das ließen sich die Kinder natürlich nicht zwei Mal sagen.
Karlchen holte den Handwagen vom Hof. Vor Brühl 18 stellte er ihn auf das holprige Kopfsteinpflaster. Sofort sprangen Gitti und Walti übermütig hinein. Bertraud stellte sich nach hinten. Bereit zum Schieben. Jutta und Karlchen nahmen die Deichsel in ihre Hände. Rosi spielte den Anführer.
Else stand in der blauen Tür. "Na dann gute Reise", sagte sie. "Aber bleibt nicht allzu lange."
"Als Erstes fahren wir zum Kleffer", sagte Rosi. "Dann die Rastenbergerstraße zum Bahnhof. Dann die Bahnhofstraße zur Schule und dem Roßplatz. Und dann zum Marktplatz. Dem Rathaus. Und der Kirche."
"Und dann. Und dann", spottete Karlchen.
"Und dann verabschiede ich mich noch vom Alten Bach", ließ sich Rosi nicht beirren. "Das heißt, wenn noch Zeit dafür ist", sagte sie.
"Hü, hü Pferdchen", riefen Gitti und Walti aus dem Wagen. "Fahrt endlich los."
Fröhlich holperten die Kinder mit dem Handwagen über die Straßen.
Zu dieser frühen Stunde waren die Straßen fast leer. Nur ab und zu ließen sich einige Leute blicken. Die meisten machten wohl noch ihr Sonntagsschläfchen. Oder sie standen schon in der Küche. Um den Sonntagsbraten vorzubereiten.
Ein Glück, dass es in Brühl 18 keinen Sonntagsbraten mehr gab. Nach dem schrecklichen Pfingstessen. Mit Schneeweißchen und Rosenrot auf dem Bratenteller.
Rosi mochte gar nicht daran denken. Die Erinnerung war zu schmerzlich. So verdrängte sie die soeben aufgetauchte Erinnerung sofort aus ihren Gedanken. Das war die einzig hilfreiche Methode, um nicht in unliebsame Erinnerungen zu versinken.
*
Am Bahnhof angekommen, blieb Rosi stehen. "So", sagte sie zu den Kindern, "ich verabschiede mich jetzt."
"Ich auch. Ich auch."
Gitti und Walti wollten aus dem Handwagen klettern. "Ich auch. Ich auch", riefen sie fröhlich.
"Nix da", hielt Rosi Gitti und Walti zurück. "Ihr bleibt, wo ihr seid. Muss ich mich verabschieden oder ihr?", fragte sie. "Ihr bleibt doch hier. In Buttscht", fügte sie lachend hinzu.
Gitti und Walti setzten sich, etwas enttäuscht, wieder auf den Boden des Handwagens.
Rosi lief in die Bahnhofshalle. Zu so früher Stunde war sie noch leer. Na, Sonntags meistens immer. Da fuhren ja nur zwei Züge in jede Richtung.
Plötzlich erschien vor Rosis geistigem Auge ein längst vergessen geglaubtes Bild.
Eine mit Menschen überfüllte Bahnhofshalle. Flüchtlinge. Die in Gruppen herumstanden. Oder auf dem kalten Steinboden der Halle hockten. Soldaten. Die den Krieg überlebt hatten. Und nun in ihrer abgerissenen Soldatenuniform unschlüssig herumstanden. Oder sich die Vermisstenanzeigen an den Wänden ansahen. Oder die Wegweiser zum Rathaus. Selbstbewusste Amisoldaten tauchten auf. Die die zerlumpten Nazisoldaten aufforderten, Ruhe zu bewahren.
An den Wänden klebten die Plakate: 'Wir werden siegen'.
Über alldem drohte der Hitler mit ausgestrecktem Arm und dem Kohlenklau.
Erschreckt wischte sich Rosi die Augen. Sofort verschwanden die Bilder. Wie ein flüchtiger Spuk.
*
Die zwei Leute, die jetzt in der Bahnhofshalle waren, beachteten Rosi nicht. Sie standen in einer Ecke und lasen.
Rosi eilte zum Bahnsteig. Und da waren sie wieder. Die Erinnerungen. Zum Glück waren die Erinnerungen nicht ganz so tragisch. Obwohl Rosi doch etwas wehmütig an den Abschied von ihrem Vater dachte. Und an den Abschied von Pawel und dem Flüchtlingsjungen. Sie würde sie in guter Erinnerung behalten. Sie hatte ja ihre Andenken im Strohsack. Im Kästchen. Das Kohlestückchen. Und die Verpackung von der Schokolade.
Frohgemut hüpfte Rosi wieder aus der Halle. Vor der offenen Tür machte sie einen Knicks. "Ich verabschiede mich hiermit", sagte sie. "Wir sehen uns bald wieder."
Jutta und Karlchen und Gitti und Walti war es wohl in der Zwischenzeit zu langweilig geworden. Übermütig sangen sie:
Muss i denn, muss i denn zum Städele naus, Städele naus,
und du,: mein Schatz, bleibst hier.
Wenn i komm, wenn i komm, wenn i wiederum komm, wiederum komm,
kehr i ein, mein Schatz, bei dir.
Kann i gleich net allweil bei dir sein,
han i doch mein Freud an dir;
wenn i komm, wenn i komm, wenn i wiederum komm, wiederum komm,
kehr i ein, mein Schatz, bei dir.
"Na, ihr seid ja lustig", freute sich Rosi. "Da kann ich ja gleich mitsingen."
Singend holperten die Kinder mit dem Handwagen hinter Rosi her. Ihren Zielen entgegen. Bei jedem erreichten Ziel blieben sie stehen.
Rosi machte ihren Knicks und weiter gings.
Vor der Schule schaute Rosi sehnsüchtig zu den drei Fenstern im dritten Stock. Es war wirklich ein Glück, dass sie neulich Elfriede hier getroffen hatte.
Auf dem Marktplatz war jetzt ein reges Treiben. Die Kirchturmuhr an dem schiefen Kirchturm hatte gerade zehn Mal geschlagen. Einige Menschen spazierten gemächlich in die Kirche. Zum Gottesdienst.
"Früher sind mehr Menschen in die Kirche gegangen", sagte Else manchmal.
Das war schon seltsam. Wo Else doch nie in die Kirche ging. Und auch Rosi strengstens verboten hatte, die Kirche zu betreten.
'Und ich bin doch rein gegangen', frohlockte Rosi jetzt innerlich. "Die vielen Stufen hoch. Auf der Wendeltreppe. Bis auf die Brüstung.'
Das war schon ein tolles Erlebnis. Wie frei hatte sie sich damals gefühlt. Frei, wie ein Vogel, der sich in die Lüfte erheben kann. Und die Menschen unter ihr auf dem Marktplatz, waren ihr so klein erschienen.
Bei diesem Gedanken musste Rosi lachen. Jetzt stand sie mit ihren Geschwistern unten. Auf dem Marktplatz. Inmitten der Menschen. Die ihr nicht klein erschienen.
Rosi warf dem Engel auf der Kirchturmspitze eine Kusshand zu. Dann lief sie zu ihrem geliebten Brunnen. Mit dem Teufel und dem Mühlstein und dem Kind auf der Waage.
Das Wasser war schon abgestellt. Etwas traurig starrten die Löwenköpfe mit ihren offenen, trockenen Mäulern in den leeren Brunnen. Nur einige welke Blätter lagen darin. Und einige Pfennigstücke, die in der frühen Sonne metallisch glänzten.
"Ja, ja", sagte Rosi, während sie knickste. "Ein Kind wiegt schwerer als der Teufel."
Die Kinder standen mit dem Handwagen noch mitten auf dem Marktplatz. Zwischen den Menschen, die feierlich der Kirche zustrebten.
"Das war's", sagte Rosi. "Für die anderen Abschiede ist keine Zeit mehr."
"Welche anderen Abschiede?", wollte Jutta wissen.
"Na den Gänsebach zum Beispiel", sagte Rosi. "Oder das Schwimmbad. Und das Feld. Und das Loh."
"Aber zum Alten Bach wollten wir doch", erinnerte Jutta Rosi.
"Ja", sagte Rosi. "Aber da gehe ich alleine hin. Nach dem Mittagessen. Wenn ihr Schularbeiten macht", fügte sie hinzu.
*
Damit mussten sich die Kinder zufrieden geben. Else machte da keine Abstriche. Auch nicht am Sonntag. "So eine Ausnahme kann schnell zur Gewohnheit werden", war ihre Meinung. "Dann ist das Chaos nicht mehr weit."
*
Nach dem Mittagessen lief Rosi zum Alten Bach. Und da waren sie. Die Erinnerungen.
Ganz deutlich sah Rosi Pawel vor sich. Mit seinen struppigen, blonden Haaren. Den blauen Augen. Den Sommersprossen auf Wangen und Nase. In seinem schmutzig weißen offenem Hemd. Seinen nackten Füßen in den knielangen Hosen. Zusammengehalten mit einem dicken Strick. Wie er ihr seltsame Geschichten von den Fröschen erzählte.
Jetzt waren keine Frösche mehr da. Keine Hummeln und Bienen. Keine Schmetterlinge. Die sich auf die Gräser und Blumen setzten. Auch keine Zicklein. Keine Zippi und keine Zappi. Kein Schneeweißchen. Und kein Rosenrot. Und keine Freia.
Bei der Erinnerung an Freia und ihren schrecklichen Tod, kamen Rosi nun doch die Tränen. Ein Glück, dass sie diese Erinnerungen nun bald hinter sich lassen würde.
Erleichtert bei diesem Gedanken, wischte sich Rosi mit ihrem Jackenärmel die Tränen vom Gesicht. Auch die Erinnerung an den alten Bergmann, die schemenhaft kurz auftauchte, wischte sie weg. Sie wollte nur die guten Erinnerungen behalten.
Ganz still stand Rosi noch einige Zeit am Alten Bach. In Gedanken versunken, schaute sie hinüber zu den Gärten mit den uralten, knochigen Trauerweiden.
Vielleicht ist Abschied ja Erinnerung. Und Sehnsucht, dachte Rosi
***
Ende Teil 4
Fortsetzung in Teil 5