Kapitel 28 – Bon Voyage
United Europe Jahr 2473, Centrum
In der Metropole herrschte wiedermal Hochbetrieb. Abertausende Menschen zwängten sich durch die bunt beleuchtenden Einkaufsstraßen. In den panzerverglasten Schächten rasten die Straßenbahnen und wohin man auch schaute, führten menschenüberfüllte Rolltreppen auf- und abwärts. Auf den Flachdächern der Einkaufsmalls schwebten holografische Werbespots und aus den Lautsprechern ertönten Gongschläge, darauf erfolgten freundliche Frauenstimmen, die in europäischer Sprache auf sehenswerte Events oder auf die nächst eintreffenden Transportlifte aufmerksam machten.
Centrum war die größte errichtete City von United Europe, dort offiziell 15 Millionen Einwohner lebten. Aber dadurch tagtäglich hunderte ICE Züge im Bahnhofsterminal eintrafen, verkehrten dort oftmals bis zu 25 Millionen Menschen. An manchen Tagen drohte sogar die Menschenkapazität zu überlasten, dann wurde die Einreise in das Centrum zeitweise gesperrt und durfte nur mit einer Sondergenehmigung betreten werden.
Die Anschaffung eines Elektroautos im Centrum war beinahe sinnlos, weil aufgrund der Überbevölkerung ohnehin meist ein Fahrverbot angeordnet wurde. Dies galt dann sogar für die Taxiunternehmen, deren größte Konkurrenten die simplen Fahrradverleiher waren. Die öffentlichen Verkehrsmittel, die Straßenbahnen sowie die Lifte und Rolltreppen waren ebenso häufig blockiert und beanspruchten die Nervenstränge, wenn man in den Warteschlangen verweilen musste. Das Fahrrad hatte sich über die Jahrhunderte bewährt und zählte insbesondere im Centrum zu den beliebtesten Fortbewegungsmitteln. Und so erklangen tagtäglich in dieser hochtechnologischen Kuppelstadt, genauso wie zur Zeit der Niederlande, altertümliche Fahrradschellen, wogegen in manch anderen Citys mit einem Hightech-Auto unbeschwert gefahren werden konnte.
Nirgendwo herrschten chaotischere Zustände als im Centrum. Mord und Totschlag sowie Überfälle und anderweitige Verbrechen gehörten zur Tagesordnung, und nirgendwo war das Elend präsenter als im Centrum. Die berühmt berüchtigte Rotterdamstraat mitten in der 21. Etage, unweit entfernt von der Time Travel Agentur, repräsentierte die beispiellose Kluft zwischen abgrundtiefer Armut und übermäßigen Wohlstand. Während adrette Schlipsträger und feine Damen in Designerklamotten aus einem Modegeschäft in die nächste Einkaufsmall schlenderten, hockten kilometerweit an den Straßenrändern der Rotterdamstraat wie Beduine vermummte Geschöpfe, die ihre Hände flehend aufhielten und nach Nahrung und Medikamente bettelten. Sie hausten in notdürftigen Zelten oder in Pappkartons, manch einer besaß nicht einmal dies, sondern schlief auf dem blanken Metallboden oder sie richteten sich eine notdürftige Unterkunft mit Müllsäcken ein.
Diese armseligen Kreaturen ernährten sich hauptsächlich von weggeworfenen Essensresten, die sie auf der Straße oder in Müllcontainer aufsammelten. Die Rotterdamstraat wurde besonders penibel von Videokameras und MP-Staffeln überwacht. Selbst das Leben in einer Haftanstalt war angenehmer, jedoch brauchte ein Obdachloser sich nicht einzubilden, einfach das Gesetz zu brechen würde genügen, um schnellstmöglich in den Knast zu wandern und täglich versorgt zu werden. Diese Kreaturen wurden nicht als gleichwertige Menschen angesehen und jeder kleinste Verstoß bedeutete für sie die Verbannung aus der City, denn die Haftanstalten waren ohnehin bereits überfüllt. Die Todesstrafe existierte zwar in United Europe nicht, aber die Verbannung aus allen Citys glich einem Todesurteil.
Wen das Schicksal auf die Rotterdamstraat verschlagen hatte, wurde verachtend als ein Rotterdamer betitelt, und ein Rotterdamer war der Abschaum der Gesellschaft. Es hatte seine Gründe, weshalb viele der Kreaturen mit Beduinengewändern vermummt waren. Die meisten von ihnen waren misslungene Klone, Crystal-Meth Opfer oder Personen, die sich von skrupellosen Mediziner für billiges Geld zu Cyborgs präparieren ließen – was zweifelsohne ein illegales, trotz alledem ein lukratives Geschäft war – aber nicht bedachten, dass ihre implantierten Bauteile regelmäßige und äußerst kostspielige Wartungen benötigen, andernfalls erleiden sie qualvolle Schmerzen oder erkranken an irgendeiner unheilbaren CM-Infektion. Oder falls die Mediziner gepfuscht hatten, waren die Folgen deformierte Körperteile und überdies bescherte die Modeerscheinung, die Cyborg Technologie, schon einigen einen finanziellen Ruin. Aber es hausten auch normale Menschen auf der Rotterdamstraat, die durch dramatische Schicksalsschläge wie Arbeitslosigkeit, Scheidung oder einfach weil ihre Altersrente nicht ausreichend war, sie in die Gosse getrieben hatte: Mitten auf die wohlständige Einkaufsstraße Rotterdamstraat.
Die meisten Centrumeinwohner demonstrierten regelmäßig gegen die Zustände auf der Rotterdamstraat und forderten, dass das Gesindel hinaus zu den straffälligen Outlaws exiliert wird, oder nach Sin City abgeschoben werden. Aber das UE-Grundgesetz schützte jedes Lebewesen, solange es nicht straffällig geworden war. Selbst ein Mensch, der seinen Körper zu fünfzig Prozent mit der Cyborg Technik ausgestattet hatte, wurde immer noch offiziell als ein Lebewesen eingestuft und stand in der Obhut des Gesetzes, obwohl solch ein Mensch beinahe nur noch eine biologische Maschine war. Und dass verwahrloste Kreaturen einfach nach Sin City abgeschoben werden sollten, war so gut wie unmöglich, weil Sin City insgeheim von der Mount Sekte kontrolliert wurde. Die Mounts waren äußerst mächtig und achteten darauf, dass die zweit größte City in United Europe das blieb was es war: Eine Stadt der Sünde, dort man sich ausschließlich vergnügen und seinen dunkelsten Begierden befriedigen konnte.
Je mehr Mara und Jean sich dem hellen, riesigen Gebäude der Time Travel Agentur näherten, desto langsamer wurden ihre Schritte. Eine beachtliche Gruppe unheimlicher Gestalten belagerten den Haupteingang zum TTA Gebäude. Die dürren knochigen Wesen waren mit hellblauen Mönchkutten bekleidet, ihre komplette Haut, selbst ihre Kahlköpfe, waren leichenbleich tätowiert. Die präparierten Augen leuchteten gelblich und ihre Pupillen stachen stecknadelklein hervor. Manche Gestalten konnte man nur anhand ihrer mickrigen Brüste als eine Frau identifizieren, ihre Gesichter dagegen waren ausdruckslos und nur beim genauen Hinschauen waren einige voneinander zu unterscheiden. Sie liefen wahllos gemächlich hin und her und blockierten somit, dass irgendjemand ungehindert die Eingangshalle der Time Travel Agentur betreten konnte. Diese Wesen gehörten der bekanntesten und zugleich berüchtigtsten Sekte in United Europe an: Die Mount Sekte, deren gläubige Anhänger meistens zu 100 Prozent Cyborgs waren.
Zudem war ein großes MP-Aufgebot anwesend, abgesehen von den zahlreichen Schaulustigen und Fernsehteams. Überall parkten dunkelblaue Sportwagen und gepanzerte Jeeps. Ein Blitzlichtgewitter warf blaue sowie rote Blinklichter umher. Schwarz vermummte MP-Scharfschützen hielten diese Geistermenschen mit Präzisionsprotoengwehre in Schacht. Protonengeschosse waren die einzigen Alternativen, einen Cyborg unschädlich zu machen, dennoch war Vorsicht geboten und es durfte nur im äußersten Notfall auf die Cyborgs geschossen werden. In ihren Adern floss pure Batteriesäure und die Protonengeschosse konnten durchaus irgendwo in ihren implantierten Modulen einen ungewollten Kurzschluss auslösen, falls deren Hauptsicherung nicht allererst anvisiert wurde. Ihre eingepflanzten Bauteile enthielten teilweise flüssige Chemikalien und würden miteinander vermischt entzündbar reagieren. Falls also nur eine Ader platzen würde, könnte die Schwefelsäure eine verhängnisvolle Kettenreaktion auslösen. Demzufolge müsste mit einer verheerenden Explosion gerechnet werden, wenn die Protonengeschosse nicht präzise einschlugen. Es war also stets ein gewagtes Unterfangen, eine wandelnde Bombe, die zu allem Überfluss mit übermenschlichen Kräften ausgestattet war, außer Gefecht zu setzen. Aber die Mounts verstanden ihr Handwerk und waren den staatlichen Forschern bezüglich der Cyborg Technologie weit überlegen. Nur selten geriet ein Modell ihrer Artgenossen außer Kontrolle. Die Mount Sekte hegte zwar keinerlei terroristischen Interessen, sondern vertraten hauptsächlich ihre Religion und boykottierten hartnäckig die Zeitreisen, trotzdem hatten sich bereits tödliche Auseinandersetzungen ereignet, die aber hauptsächlich aufgrund Missverständnisse oder überreagierte Angst beruhten. Nur ein präziser Schuss mit einem Protonengeschoss in ihren Nacken würde deren Hauptsicherung kurzweilig ausschalten, dann müsste direkt unter dem Unterkiefer ins Gehirn geschossen werden, damit das Hauptmodul zerstört wird und der Cyborg endgültig vernichtet wäre. Der Unterkiefer war die einzige Schwachstelle eines jeden Cyborgs, denn ihre Schädel waren mit einer gepanzerten Titanlegierung ummantelt.
Mara rümpfte die Nase. „Oh nein … Mounts. Sie belagern die TTA. Wie sehr ich diese Freaks verabscheue. Jean, wie kommen wir denn jetzt da rein? Unsere Zeit drängt!“
Jean atmete einmal schwermütig auf, weil er selbst Angst verspürte, aber versuchte seine Ehefrau krampfhaft zu beruhigen.
„Keine Sorge, Chérie. Ich habe letztens einen Artikel im Internet gelesen, dass die Mounts in der Regel friedlich sind. Ihre Waffen sind nur Angst zu schüren und Abschreckung, die sie einsetzen. Sie sind demnach unbewaffnet. Ich schlage also vor, dass wir die Mounts ignorieren und einfach an ihnen vorbei laufen. Dann geschieht uns auch nichts. In dem Artikel stand außerdem, dass man sie nicht anfassen darf, weil die Cyborgs andernfalls einen Angriff signalisieren könnten. Ich schlage also vor, dass wir vorsichtig im Zickzack durch ihnen hindurch schlüpfen“, lächelte Jean verlegen, aber war von seinem Vorschlag zugegeben selbst nicht wirklich überzeugt.
„Friedlich sind die also, willst du mir weismachen? Und weshalb glaubst du, ist die MP und zudem das SEK mit allem Pipapo angerückt?“
Plötzlich öffnete sich zischend die Flügeltür eines protzigen Polizeiwagens aufwärts. Ein MP-Beamter stieg heraus. Seine gesichtslose Maske mit den großen ovalen Augenverglasungen sah mindestens genauso furchterregend aus, wie die leichenblassen Gesichter der Sektenanhänger.
„Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Die Situation sieht heikler aus, als sie tatsächlich ist“, ertönte eine metallische Stimme. Das Dienstgradabzeichen auf seinen gepolsterten Schultern machte ihn als einen Einsatzleiter einer Spezialeinheit erkenntlich. Zwei gelbe und darunter ein roter Stern. Er löste die Druckknöpfe am Torso seiner schwarzen Schutzrüstung und riss die wabbelige Maske herunter. Das Gesicht eines Asiaten schaute sie grimmig an. Hastig wuschelte er seine Frisur zurecht.
„Mein Name ist Lieutenant Hotaka Kishimoto, Police Department Centrum. Ich bin der Staffelführer dieser MP-Einheit. Meine Jungs und ich wurden spezifisch gegen Cyborg Attacken ausgebildet.“ Er schloss seine mandelförmigen Augen und nickte kurz. „Es besteht für Sie keinerlei Gefahr“, versicherte er. „Die Mounts sind eigentlich harmlos, sie beabsichtigen lediglich Sie einzuschüchtern, um Sie von Ihrer bevorstehenden Zeitreise abzuhalten. Sie demonstrieren gegen die Titanic Zeitreise, weil diese grad in den Medien präsent ist. Eine unkoordinierte Massenformation wie diese, ist ein typisches Verhaltensmuster der Mounts. Mit dieser Taktik verhindern sie, dass wir sie unbeschwert ausschalten können.“
Lieutenant Kishimoto deutete eine Kopfbewegung auf die zahlreichen Cyborgs, die wahllos hin und her liefen.
„Wenn nur einer dieser Burschen falsch ausgeschaltet wird, explodiert der sofort. Und dann fliegen aufgrund der Druckwelle folglich alle zugleich in die Luft was zu Folge hat, dass uns die Etage herunter reißt und ein gewaltiges Loch in der Außenhülle sprengen würde. Also, schlängeln Sie sich einfach hindurch. Achten Sie nur darauf, dass Sie keinen von ihnen anrempeln. Dann wird nichts geschehen. Aber bitte vorsichtig!“
„Wenn diese komischen Leute harmlos sind, wie Sie es uns zu erläutern versuchen, weshalb dann dieser Aufmarsch?“, fragte Mara spitz. Selbstverständlich unterhielten sie sich mit der gesetzlich vorgeschriebenen europäischen Sprache, trotzdem war Maras französischer Akzent nicht zu überhören. Über die Mundwinkel des Asiaten huschte ein freundliches Lächeln. Aus Nieuw Bruxelles kamen sie also angereist.
„Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, Madame. Das sind immerhin Cyborgs, also wandelnde Bomben, und zu allem Überfluss sind sie gerade in einem Trancemodus geschaltet was bedeutet, dass sie nicht mehr nach ihrem eigenen Willen handeln. Die hohen Herren der Sekte ziehen jetzt ihre Fäden und manipulieren ihre Armee. Das macht sie unberechenbar. Sie reagieren, falls sie sich bedroht fühlen, ähnlich wie Wespen. Wenn nur einer von ihnen Bedrängnis wittert, sendet derjenige einen Impuls und alle anderen werden ihm unweigerlich beistehen und die Gefahr konsequent eliminieren. Dann wären die Mounts durchaus in der Lage, jemanden zu verletzen.“
„Lieutenant Kishimoto, damit wollen Sie uns verständlich machen, dass sie uns dann sofort töten werden?“, fragte Jean mit nüchterner Tonlage. Der Lieutenant schwieg. Jean zog daraufhin nachdenklich die Augenbraue hoch und nickte.
„Was meinst du, Chérie? Sollten wir es in der Tat riskieren und die TTA betreten? Wir würden dabei unser Leben riskieren. Ist das wirklich diese Zeitreise wert?“, fragte er besorgt.
Die momentane Aufregung hatte Mara ihre Angst vor der bevorstehenden Passkontrolle vergessen lassen. Sie dachte nicht mehr an Lieutenant Nicole Kalbach, die einen Zahlencode illegal auf ihrem ID-Chip programmiert hatte. Sollte der Computer dies bemerken, würden sie sofort verhaftet werden. Nun hatte sie noch mehr Furcht vor den gespenstischen Cyborgs als zuvor, weil Lieutenant Hotaka Kishimoto ihnen die Sachlage nach ihrem Geschmack etwas zu präzise dargelegt hatte. Hätte der gute Mann dies besser unterlassen, dachte sie. Aber sie entschloss, tapfer zu bleiben. Nicht nur allein der 24 Millionen Euro wegen, die sie für diese begehrte Zeitreise gelöhnt hatten.
„Glaubst du etwa, ich lass mich von diesen Spinnern von der einmaligen Gelegenheit abhalten, mit der Titanic zu reisen? Non, jamais!“(Nein, niemals!)
Lieutenant Kishimoto wäre dazu berechtigt gewesen, ihr augenblicklich ein Bußgeld zu verhängen, weil sie französisch gesprochen hatte, aber er lächelte nur. In Anbetracht der Situation und weil im Centrum ohnehin einiges lockerer gesehen wurde, empfand der Lieutenant es nicht gar so dramatisch.
Mara und Jean sahen bedenklich zur Eingangshalle hinüber. Sie konnten bereits eine der vergoldeten Löwenpranken der original nachgebauten, berühmten ägyptischen Sphinx hervor blitzen sehen, die mitten in der riesigen Halle zwischen Marmorsäulen originalgetreu errichtet wurde. Es hatten sich mittlerweile mindestens dreißig oder gar vierzig Sektenanhänger davor versammelt, die wahllos kreuz und quer umherliefen. Der Lieutenant fasste die Akademiker an ihren Schultern und führte sie langsam voran.
„Bleiben Sie dicht bei mir und beachten Sie die Mounts nicht. Wenn ihnen jemand zu nahe kommt, dann halten Sie einfach Ihre flache Hand vor deren Augen und sie werden automatisch umkehren. Ähnlich wie bei einem Haushaltsroboter, der ein Hindernis erkennt“, lächelte Lieutenant Hotaka Kishimoto. „Aber bitte keine hektischen Bewegungen, ansonsten registrieren ihre Sensoren möglicherweise einen Angriffsakt. Und vor allem, rempeln Sie sie bloß nicht an. Wenn ihre Augen rot leuchten, wird es kritisch!“, fügte der MP-Lieutenant warnend hinzu.
Die unheimlichen Wesen starrten sie mit ihren gelb leuchtenden Augen an, die stecknadelkleinen Pupillen wirkten gespenstisch aber alle wichen anstandslos zurück und ließen sie problemlos zur Eingangshalle der TTA passieren, als Mara und Jean ihre flachen Hände vor deren Gesichtern hielten. Jean jedoch, der seinen Mitmenschen stets freundlich begegnete, lächelte die starrenden Gestalten an.
„Guten Tag, miteinander. Wie geht’s Ihnen so?“, grüßte er freundlich. Plötzlich weitete ein weiblicher Cyborg ihre Augen, streckte ihre Hände aus und grabschte in Jeans schulterlanges blondes Haar herum.
„Nicht ansprechen!“, zischte Lieutenant Kishimoto. „Sind Sie verrückt? Bloß nicht ansprechen!“
Er holte einen zangenartigen Knüppel hervor, hielt es dem Cyborg vorsichtig am Genick und knipste die biologische Maschine förmlich aus, die daraufhin augenblicklich zusammensackte und zu Boden fiel. Kishimotos mandelförmige Augen blickten wachsam umher. Die Cyborgs geisterten unbeirrt weiter, als wären sie seelenlose Zombies. Zum Glück hatte keiner der Mounts diesen Vorfall bemerkt.
„Keine Sorge, der steht in wenigen Minuten wieder putzmunter auf und geistert weiter vor sich hin. Ich habe ihm nur eine mächtige Stromladung verpasst, sodass die Hauptsicherung rausgeflogen ist. In ein paar Minuten ist der Cyborg wieder online.“
Mara wagte es nicht, nur einen der Mounts anzuschauen. Ihr stand die Angst sichtlich in ihrem blässlich angelaufenen, hübschen Gesicht geschrieben.
„Lieutenant Kishimoto, sagen Sie, waren das in der Tat einmal Menschen wie du und ich gewesen?“, fragte sie, als sie endlich den Haupteingang erreicht hatten. Sie versuchte ihre Furcht unter Kontrolle zu halten, weil direkt neben ihr ein Mount stand, seinen Kopf neigte und sie genau ins Gesicht anstarrte und sie begutachtete. Lieutenant Kishimoto zog seine Handschuhe aus und hielt seine flache Hand vorsichtig vor dessen Gesicht, bis der Cyborg sich umdrehte und weiterging.
„So ist es, Madame Corbusier. Nun sind sie reine biologische Maschinen, ohne jegliches menschliche Empfinden, bis auf das ihre Sensoren Gefahr melden vermögen. Nur wenn sie sich nicht im Trancemodus befinden, wirken sie etwas menschlicher und können auch selbständig handeln. Dann kann man sich sogar mit ihnen vernünftig unterhalten. Es kommt sogar durchaus vor, dass man während des Gesprächs für denjenigen gar Sympathie empfindet. Man darf sich jedoch von ihnen nicht täuschen lassen, denn jeder Mount versucht in erster Linie seinen Gesprächspartner zu bekehren.“
Mara atmete erleichtert auf, als dieses unheimliche Wesen, was einst ein Mensch gewesen war, sich von ihr abwandte.
„Ich kann das gar nicht verstehen, wie solche ferngesteuerten, willenlosen Kreaturen so mächtig sind. Wie ist das möglich?“
„Madame Corbusier, das sind alles nur Marionetten, die Sie grad sehen“, erklärte Lieutenant Kishimoto. „Und von ihnen gibt es Millionen. Die wahren Fürsten dieser Sekte sind wahre Menschen. Sie kommen aus der Politik oder sind megareiche Schauspieler oder Investoren an der Börse. Alle von ihnen besitzen unglaublichen Reichtum. Die Mounts sind undurchsichtig und äußerst einflussreich. Sie schleichen sich langsam in unsere Regierung ein und suchen nach korrupte Politiker und Justizbeamte. Man kann einfach nicht abschätzen, welcher Mensch der Sekte angehört, nur die fanatischen Sektenangehörigen sieht man es an, dass sie Mounts sind. Jeder Mount ist zu 100 Prozent ein Cyborg“, erklärte Lieutenant Kishimoto.
„Die sehen tatsächlich wie diese Außerirdische von damals aus, die vor 300 Jahren die Erde einst besetzt hatten. Ich verstehe einfach nicht, was diese Menschen sich dabei gedacht hatten. Wie kann sich nur ein normaler Menschenverstand zu einer willenlosen Drohne präparieren lassen, zu einem 100 prozentigen Cyborg? Ich verstehe davon nicht viel, aber in meinen Augen ist die Mount Sekte völlig nutzlos.“
Lieutenant Hotaka Kishimoto lächelte verschmitzt und hob seinen Zeigefinger schulmeisterlich in die Höhe.
„Aber nicht doch, Madame. Konfuzius sagt: Kein Mensch ist unnütz, er kann immer noch als falsches Beispiel dienen.“
Als Mara und Jean den Kosmetikbereich verließen und endlich mit angemessener Bekleidung für das frühe 20. Jahrhundert bekleidet waren und im Countdown-Raum Platz nahmen, atmeten sie erleichtert auf. Sie hatten die Passkontrolle am Zoll tatsächlich ohne Einwendungen passiert, so wie es Lieutenant Nicole Kalbach vorhergesagt hatte, die mindestens zu 70 Prozent ein Cyborg ist.
In dem weißsterilen Raum standen zwei schwarze Ledersessel und ein Glastisch, auf dem eine Broschüre im Taschenbuchformat lag. Darin war der geschichtliche Ablauf der Titanic Katastrophe beschrieben, mit allen vorhandenen schwarz-weißen Fotografien. Während Jean darin schmökerte, betrachtete sich Mara in einem ovalen Spiegel. Sie drehte sich langsam im Kreis herum, ließ ihren weiten Rüschenrock flattern und faste vorsichtig an ihre Brüste, die aufgrund Ihres Korsett etwas betont wurden und tastete an ihre hochgesteckte rothaarige Perücke, bevor sie den reifengroßen Hut aufsetzte. Die rothaarige Perücke passte ihr wie angewachsen und gefiel zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Sie gähnte ausgiebig, denn die Strapazen des Morgens hatten sie ermüdet.
„Ach, Jeanie, was bin ich doch so müde. Am meisten freue ich mich jetzt darauf, endlich im South Western Hotel einzuchecken und ein heißes Bad zu genießen.“
Jean lümmelte mit überschlagenen Beinen im Sessel und hielt nachdenklich seine Faust auf dem Mund.
„Merkwürdig“, murmelte er. „Äußerst merkwürdig.“
„Was ist dir wiedermal merkwürdig, Monsieur Jean?“, fragte Mara bestgelaunt, während sie ihren weiten Rüschenrock anhob und diesen im Spiegel begeistert musterte.
„Ich glaube zu meinen, dass einige Fotografien in der Broschüre von den Sachbüchern abweichen. Hier sind teilweise sogar mir völlig unbekannte Fotos aufgelistet, wogegen einige berühmte Bilder fehlen. Verstehe ich nicht.“ Er blätterte hastig einige Seiten weiter.
„Und hier wird sogar von einer Testfahrt auf dem Victoria Channel auf Queens Island berichtet, um die Funktionstüchtigkeit der wasserdichten Schotts bei einer simulierten Katastrophe zu prüfen. Dabei ereignete sich ein tödlicher Unfall, heißt es. Chérie, du bist doch die Expertin für das Zwanzigstes Jahrhundert von uns beiden. Du kennst dich insbesondre mit der Titanic aus. Solch eine Testfahrt hatte es doch niemals gegeben, was selbst ich weiß. Aber die Fotos, sowie die Berichte, stammen aus dem Archiv und müssen demnach echt sein. Wie ist das möglich?“
Es stand außer Frage, dass die Broschüre nicht im Reisegepäck verstaut werden durfte. Als Mara gerade einen Blick darauf werfen wollte, schnellte die Falltüre hoch und eine uniformierte Dame trat herein.
„Hiermit weise ich das Ehepaar Professor und Doktor Corbusier über ihren Exit ein. Professor Jean, Ihr Zeitfenster wird am 15. April um exakt 1.20 Uhr, rechts neben dem Kamin in Ihrer Kabine B-58 installiert und aktiviert, weil Sie keines der Rettungsboote besteigen dürfen. Doktor Marlene, Ihr Zeitfenster dagegen wird am 15. April um genau 2.30 Uhr installiert und aktiviert, nachdem Sie das Rettungsboot besteigen. Wir haben die genaue Position von Rettungsboot 7 zu dieser Zeit lokalisiert. Lassen sie sich dann einfach rückwärts in das Wasser fallen, damit die Akteure sehen, dass Sie ertrinken. Somit erfüllt die TTA ihren Vertrag“
„Ja aber … Ja aber wie soll das bloß vonstattengehen? Ich meine, wie soll ich rückwärtsfallend zudem bei Dunkelheit, dieses kleine unsichtbare Zeitfenster erwischen?“, hakte Mara besorgt nach.
„Madame Doktor, für eine detaillierte Erläuterung des Zeitreiseprinzips bleibt leider wenig Zeit. Ich kann Ihnen nur versichern, selbst wenn Sie das Zeitfenster verfehlen, dass die Signale des Zeitfensters Ihr Mikrochip empfängt. Das Wasser leitet die Traktorstrahlen, Sie verstehen jetzt?“
Mara lächelte und machte den Anschein, genauestens über die physikalischen Eigenschaften von Traktorstrahlung Bescheid zu wissen. Dann aber schüttelte sie ahnungslos mit dem Kopf. Von der Technik, wie ein Zeitfenster funktioniert, hatte sie in Wahrheit keinen blassen Schimmer.
„Chérie, das Wasser leitet die Traktorenstrahlung äußerst effektiv. Genauso wie Elektrizität“, erklärte Jean. „Im Umkreis von zehn Metern wird dich dein Zeitfenster erfassen und dich zum Checkpoint befördern.“
„Das Wasser im Nordatlantik ist aber merde kalt. Ich bin nicht begeistert!“, moserte sie mit verschränkten Armen.
„Aber Chérie, es wird nur einen Augenblick sein.“
„Du hast gut reden, dein Zeitfenster wird ja direkt neben einen warmen Kamin installiert. Und was ist mit mir?“, motzte sie ihren Ehemann vorwurfsvoll an.
„Sind die Herrschaften sich nun einig oder soll ich das Reservepaar bevorzugen?“, fragte die uniformierte TTA Angestellte gelangweilt, wobei sie ihre Augen genervt rollte.
„No, no, no, no! Wir sind uns einig, Madame. Ich tue es“, antwortete Mara und lächelte die TTA Frau bezaubernd an, wobei sie wiedermal auffällig mit ihren Wimpern klimperte.
Mithilfe einer Fernbedienung öffnete die TTA-Angestellte das Tor zum Checkpoint. Mittig in dem runden Saal leuchtete die grünliche Glorie des Zeitfensters. Die Koordinaten für das Jahr 1912 in Südengland waren programmiert. „Bon Voyage“, verabschiedete sich die TTA-Angestellte. Von nun an war es untersagt, mit der europäischen Sprache zu kommunizieren. Nur noch englisch oder französisch waren erlaubt. Die gelben Rundumleuchten rotierten, als Jean lautlos im flimmernden Zeitfenster verschwand. Dann stieg Mara hinterher.