Kapitel 34 – Pleite, Pech und Panne
Dienstag, 9. April 1912. Irgendwo in Südengland …
Es war ein wundervoller sonniger Frühlingstag. Am Himmel schwebten schneeweiße Wolken und die Temperatur war mittlerweile auf angenehme 21 Grad Celsius angestiegen. Die Bauer trieben ihre Kühe und Schafe wieder hinaus auf die Weiden.
Der nasskalte Winter hatte sich nun endgültig verabschiedet, abertausende Vögel zwitscherten und die Spechte klopften an den Baumstämmen. Kreuzottern schlängelten durch das feuchte Gras, hoch oben am Himmel kreisten Bussarde und von irgendwoher rief ein Kuckuck. Die Natur war wieder aus ihren Winterschlaf erwacht. Ein Sprung Rehe äste auf einer hügligen Wiese nahe am Waldesrand. Eines der Huftiere hatte sich abgesondert. Es trabte gemächlich davon, schnupperte im Gras und zuckte manchmal mit seinem Lauscher, wenn eine Biene daran schwirrte.
Doch plötzlich ließ dieses Reh vom Äsen ab; seine großen dunklen Augen blickten starr und die Lauscher waren wachsam gespitzt. Es witterte etwas, sogar das rege Vogelgezwitscher ringsherum war verstummt und die Greifvögel waren auf einmal verschwunden. Eine unheimliche Stille herrschte plötzlich. Die Geräuschkulisse der Natur schwieg urplötzlich, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben.
Dann wehte eine kurze Windböe über die Wiese und ließ die hohen Grashalme wie eine Meeresbrandung aufrauschen. Sogleich rannten die Wildtiere aufgescheucht davon und flüchteten in den Wald hinein. Das einzelne Reh war grade dabei seinem Rudel hinterher zu eilen – es trampelte bereits mit den Hufen –, als es blitzartig von irgendetwas getroffen und ruppig über die Wiese geschleudert wurde.
Ein animalischer Schrei zerfetzte die unheimliche Stille, dann schmetterte der braune Leib wuchtig auf dem Grasboden nieder und überschlug sich mehrmals. Zeitgleich peitschte ein Knall durch die Luft, lauter als der eines Gewehrschusses, und verhallte wie ein dumpfes Gewittergrollen. Vogelschwärme flatterten aufgeschreckt aus den Baumkronen heraus. Das Wildtier versuchte sich verzweifelt aufzurappeln, aber dem Reh wurde ein Bein abgerissen. Blutüberströmt sackte es zusammen und blieb hechelnd liegen.
Wie aus dem Nichts stolperte Jean aus dem flimmernden Zeitfenster heraus, das nicht größer als ein Türrahmen war. Er ruderte mit seinen Armen, um das Gleichgewicht zu halten und nicht auf den Boden zu stürzen, als er wie von Geisterhänden gestoßen erschienen war.
Jean richtete seinen Bowler und erblickte mit offenem Mund die märchenhafte Waldlandschaft. Solch einen wundervollen Anblick hatte er zuvor nur in Dokumentarfilmen gesehen. Als er seine Augen schloss und die herrlich frische Luft tief einatmete, fegte wieder ein kurzer Windstoß über den Grasboden. Und wieder zerfetzte ein ohrenbetäubender Knall die immer noch anhaltende Stille. Jean erschrak dermaßen, dass er seine Arme schützend um seinen Kopf schlang und auf die Knie sank.
Mara stieß nun wuchtig aus dem Zeitfenster heraus, trat auf ihren weiten Rocksaum und landete auf allen Vieren. Der geblümte Hut rutschte dabei von ihrer hochgesteckten Rothaarperücke mitten ins Gesicht. Der Knall, der sich wie ein Gewehrschuss anhörte, verhallte allmählich.
„Was war das? Das hatten wir doch noch nie bei einem Wiedereintritt erlebt“, waren ihre ersten Worte, nachdem sie ihren reifengroßen Hut wieder gerichtet hatte.
Jean machte einen angespannten Gesichtsausdruck, holte seine modifizierte Taschenuhr heraus und klappte den Sprungdeckel auf. Es war exakt 11:15 Uhr. Er drückte auf die Aufzugskrone, woraufhin die Zeiger rotierten und die Messwerte des Klimas anzeigten.
„Mmm … Dacht ich`s mir. Die Traktorstrahlen der Energiefelder unserer Zeitfenster haben auf die hohe Luftfeuchtigkeit der Wiese reagiert. Irgendein ungeschickter Anfänger in der TTA hatte dies wohl nicht beachtet, als er die Koordinaten in den Hauptcomputer programmiert hat. Das Gras ist noch viel zu feucht, dieser Spot stand noch vor einer halben Stunde im Schatten. Einen unauffälligen Transfer stelle ich mir jedenfalls anders vor.“
Jean kniff die Lippen während er besorgt Ausschau hielt. Hoffentlich würde niemand dem Knallen eine Beachtung schenken und es nur für Gewehrschüsse eines Jägers halten, denn er vermutete, dass sie in der Nähe von Siedlungen aufgetaucht waren, weil er eine kurvige gepflasterte Straße erblickte. Jetzt fingen auch wieder die Vögel an zu zwitschern und der Bussard flog wieder seine Schneisen am Himmel.
„Wo sind wir überhaupt? Das hier ist nie und nimmer Southampton!“ schimpfte Mara. Sie streifte ihre weißen Handschuhe ab und feuerte sie verärgert zu Boden. „Und was machen wir jetzt?“
Mithilfe Jeans Taschenuhr, die unter anderem auch mit einer integrierten Landkarte ausgestattet war, die er per Fingerdruck auf das Glasgehäuse der Taschenuhr holografisch aufrufen konnte, ermittelte er ihren genauen Standort.
„Die Grafschaft Hampshire ist nicht weit entfernt“, brummelte Jean, während er die Gegend inspizierte. „Chérie, bis nach Southampton sind es noch mindestens zwanzig oder gar dreißig Meilen entfernt. Selbst mit einem Fahrrad wäre die Strecke für uns zu weit. Was hat sich die Time Travel Agentur nur dabei gedacht? Wir sind doch normalerweise einen makellosen Service von ihnen gewohnt.“
Plötzlich vernahmen beide das wehleidige Jammern eines Tieres. Sie erstarrten, als sie eine Blutspur auf der Wiese und das Reh erblickten, dessen Hinterbein abgetrennt war.
„Ach du Schreck!“, fuhr es aus Jean entsetzt heraus. „Das Energiefeld meines Zeitfensters muss das Tier erwischt haben.“
Sofort eilten beide dorthin. Mara kniete vor dem Reh, hielt seinen Kopf in ihren Händen und streichelte es sanft. Das Reh hechelte unregelmäßig.
„Können die in der TTA denn nicht besser aufpassen, wohin sie ein Zeitfenster installieren?!“, fauchte Mara wütend. „Wir müssen dem armen Geschöpf jetzt helfen. Jean, tu doch irgendetwas!“
Jean aber zuckte nur mit der Schulter.
„Dafür kann man niemanden die Schuld geben. Für einen Transfer durch Raum und Zeit werden grundsätzlich abgelegene Landschaften mit weichem Grundboden ausgewählt, jedoch ist es unmöglich vorhersehbar, ob sich an dem kalkulierten Landungsspot ausgerechnet ein Lebewesen aufhält. Zum Glück war es kein Akteur.“ Er fasste ihr behutsam an die Schulter. „Abgesehen davon, dass unser Medikit im Reisegepäck verstaut ist und bestimmt schon in unserer Suite im South Western Hotel gebracht wurde, ist es sowieso strengstens untersagt, irgendeinem Lebewesen aus der vergangenen Welt mit unserer Medizin zu versorgen. Wir können leider nichts tun, Chérie.“
„Cela ne me intéresse pas!“, erwiderte Mara mit einem verachtenden Wink, wobei sie ihn wütend anblickte. „Es interessiert mich nicht!“, wiederholte sie in englischer Sprache, denn beide hatten abgemacht, während ihrer Zeitreise untereinander hauptsächlich Englisch zu reden. „Ich lasse die Rehlein nicht sterben, basta!“, schimpfte sie mit ihrem ausgeprägten französischem Akzent, wobei sie, insbesondre wenn sie aufgeregt war, oftmals der, die, das, vertauschte.
Kurz entschlossen wickelte sie ihren seidenen Schal ab und versuchte damit die Blutung zu stoppen. Als das Reh daraufhin aufschrie, ließ sie von dem Tier erschrocken ab.
Mara und Jean vernahmen plötzlich ein knatterndes Geräusch und erblickten ein Fahrzeug die Straße entlang tuckern. Zugleich duckten sie sich und legten sich vorsichtig bäuchlings in das hohe feuchte Gras hinein. Mara und Jean hatten Angst, Angst von einem Akteur entdeckt zu werden.
Vielleicht unternahm ein Einheimischer grade nur eine Spritztour, oder aber dieser hatte die lauten Knalle gehört und beabsichtigte nun nach dem Rechten zu schauen. In dieser abgelegenen Gegend wollten sie die Bekanntschaft mit einem Akteur unbedingt vermeiden, immerhin verriet ihre elegante Garderobe, dass sie der gehobenen Gesellschaft angehören und beide fürchteten sich davor, überfallen zu werden, zumal Jeans Taschenuhr einem Akteur keinesfalls in die Hände gelangen durfte.
Die Akademiker lagen im Gras und blickten sich erstaunt an. Soeben hatten sie zwischen dem Motorengeräusch eindeutig ein Gesang herausgehört. Mara hielt sich schmunzelnd die Hand vor dem Mund. Der Fahrer sang laut und kräftig aber es klang nicht unbedingt schön, jedoch fröhlich gestimmt.
Das dunkelgrüne Automobil mit dem schwarzen Verdeck rollte langsam näher heran und blieb direkt am Straßenrand vor der hügligen Wiesenfläche stehen. Einen Augenblick tat sich gar nichts, dann trötete die Hupe zweimal, woraufhin sie zögernd ihre Köpfe hoben und vorsichtig nachschauten. Sie erkannten eine männliche Person mit einem hellen Hut, der seinen Arm lässig aus dem Autofenster herauslehnte. Mara erhob sich und winkte ihm zaghaft zu.
„Das muss unser Schleuser sein.“
Der Mann ließ den knatternden Motor laufen, stieg aus dem Wagen und kam ihnen mit einer Hand in seiner Hosentasche gesteckt gemächlich entgegen. Mara zog die Augenbraue zusammen.
„Die Mann ist bestimmt eine Centrumfuzzi, das sehe ich die doch an“, spottete sie.
„Möglich. Das Centrum ist schließlich die Hochburg der Geheimagenten. Was hast du dagegen schon wieder einzuwenden?“, fragte Jean sie vorwurfsvoll, obwohl er ihre Antwort ahnte.
„Ich kann mich mit denen ihr saloppes Gehabe einfach nicht anfreunden. Die aus dem Centrum glauben doch alle, dass sie die Besten, die Tollsten und die Schönsten sind.“
„Chérie, du und deine Vorurteile. Das sind allesamt nette Leute, genauso wie du und ich. Sieh ihn dir doch an. Er schaut doch anständig aus.“
Der adrette Herr ging grinsend auf sie zu, doch plötzlich fluchte er.
„Ach, verdomme aber auch! Jetzt bin ich doch glatt in Schafsscheiße getreten. So eine ekelhafte Sauerei kann einem aber wirklich nur in der vergangenen Welt passieren!“, hörten sie den Mann motzen und sahen dabei zu, wie er auf einen Bein stand und sich den Kot mit ausgerupften Grasbüscheln von der Schuhsohle abschmierte.
Je mehr er sich ihnen näherte, desto deutlicher stach sein verschmitztes Lächeln hervor. Sie schätzten ihn auf Ende Zwanzig, Anfang Dreißig ein. An seinem Erscheinungsbild war absolut nichts zu mäkeln und man würde ihn durchaus diesem Zeitalter zuordnen.
Ihnen begegnete ein attraktiver Mann mit einem hellen Hut, der mit einem hellgrauen Herrenanzug bekleidet war, darunter trug er eine passende Oberweste und seine Hose wies eine ordentliche Buntfalte vor. Der Schleuser kaute lässig auf einem Grashalm herum und fasste kurz an seinen Hut, als er die Akademiker begrüßte.
„Doktor und Professor de Corbusier? Willkommen im Jahre 1912. Mein Name ist Marko Rijken und ich bin euer …“
„Nix de Corbusier. Nur Corbusier, Monsieur!“, fiel ihm Mara sogleich barsch ins Wort. „Es gab einen Unfall, nun helfen Sie schon dem armen Tier, Schleuser Rijken!“, fuhr sie ihn sogleich im Befehlston an, wobei sie auf das schwerverletzte Reh deutete. Als er ihren ausgeprägten französischen Akzent vernahm, nickte er stetig und dachte sich: Ja, ja, ihr wohlhabenden Leute aus Nieuw Bruxelles reißt gleich eure Klappe auf, anstatt allererst zu grüßen. Typisch. Ihr beide passt in dieses versnobte Zeitalter, wie ein Arsch auf eine Klobrille.
Schleuser Marko Rjiken betrachtete das hechelnde Reh, dann wanderte sein Blick auf die Blutlache und auf das abgerissene Bein, das einige Meter entfernt lag. Die Situation schien ihm nicht sonderlich zu berühren.
„Wir benötigen Ihr Medikit, Schleuser Rijken. Sie müssen das Tier schnellstens behandeln! Das UE-Gesetz duldet Hilfeleistungen, falls Unfälle seitens der TTA verschuldet wurden, was hier offensichtlich geschehen ist. Beim Wiedereintritt wurde das Reh von meinem Zeitfenster getroffen!“, redete Jean hektisch auf ihn ein.
Marko Rijken pustete den Grashalm fort, griff in die Innentasche seines Sakkos und holte seine EM23 heraus. Kurz zischend drang das Projektil in den Kopf des Rehs ein, worauf es kurz zusammenzuckte und leblos mit geöffneten Augen liegen blieb.
„Junge, Junge, was das wieder für eine lästige Schreiberei gibt“, stöhnte er kopfschüttelnd.
„Was soll das?!“, schrie ihn Mara sogleich völlig empört an, wobei sich ihre Stimme zu überschlagen drohte. „Sie sollten ihm helfen, es aber doch nicht töten! Sie gemeiner, widerwärtiger, arroganter … Centrumheini!“
Marko blickte ihr scharf in die Augen, hielt die Mündung an seinen Mund und pustete, obwohl nicht der geringste Qualm herausdrang. Ein heller Pfeifton erklang.
„Woher zum Geier wollen Sie eigentlich wissen, dass ich gebürtig aus dem Centrum stamme? Ein Name verrät noch lange nichts über die Herkunft.“
Mara kniete vor dem toten Reh, legte ihren Kopf auf seinen weichen Körper und schluchzte. Der Verlust dieses zarten Wesens erschütterte sie. Jean war schon immer ein besonnener Typ gewesen und verlor nur äußerst selten die Beherrschung. Aber der Anblick seiner trauernden Ehefrau brachte ihn aus der Fassung.
„War das wirklich notwendig, Schleuser Rijken?! Das wird für sie Konsequenzen haben! Wir werden uns über Ihr achtloses Verhalten bei der TTA beschweren!“, wies er ihn lautstark zurecht. Marko trat einen Schritt vor und hielt ihm drohend seinen Finger vor die Nase.
„Sachte Leute, ganz sachte. Kommt mal ganz schnell wieder runter, andernfalls beende ich sofort euren Trip und wir gehen alle wieder brav nach Hause. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“, entgegnete er beherrscht.
Jean gehorchte. Er schwieg aber blickte diesen Geheimagenten finster an. Schließlich hatte der Schleuser die Befugnis dazu, beide Zeitreisende augenblicklich wieder zurückzubeordern, falls sie sich gegen seine Anweisungen widersetzen.
„Abgesehen davon, dass ich gar kein Medikit parat habe, was hätte ich eurer Meinung nach sonst tun sollen? Das Bein wieder annähen, ein bisschen streicheln und alles wird gut? Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, was für ein lästiger Papierkrieg mir deswegen bevorsteht? Jedes eliminierte Lebewesen muss ich rechtfertigen und genauestens protokollieren und … Ach, verdomme aber auch. Was wisst ihr schon davon!“, schnauzte Marko und blickte beide abwechselnd finster an.
Jean schluckte und Mara wischte sich schluchzend die Tränen aus dem Gesicht. Sekundenlang schauten sie sich wortlos an. Marko Rijken beugte sich über das tote Reh, steckte ihm einen Mikrosender in den Rachen und scannte es mit einem handlichen Gerät.
Jetzt war für diese Angelegenheit die Sicherheitszentrale zuständig. Auf einem Monitor, der spezifisch für solche Vorfälle vorgesehen war, leuchtete nun ein Signal in der Sicherheitszentrale auf, woraufhin der Kadaver direkt in das Müllkraftwerk der City Centrum transferiert wurde. Der Kadaver verschwand augenblicklich.
„Was stellt ihr euch eigentlich so mimosenhaft an? Ihr beabsichtigt morgen Mittag eine Schiffsreise zu unternehmen, wobei mehr als 1500 Menschen vor euren Augen ihr Leben verlieren werden. Die Akteure jagen und verspeisen diese Viecher sogar, und ihr veranstaltet ein Affentheater.“
Diese Zurechtweisung saß. Jean nickte nachdenklich und Mara entschuldigte sich sogar für ihren Gefühlsausbruch, während sie in ein Taschentuch schnäuzte. Marko versuchte die angespannte Stimmung wieder aufzulockern. Das gehörte genauso zu seinem Job. Er nahm seinen Hut ab, tupfte mit dem Ärmel die Schweißperlen von seiner Stirn und blinzelte in die Sonne.
„Puh, wunderprächtiges Wetter, nicht wahr? Die 21,5 Grad Lufttemperatur fühlen sich etwas wärmer an, als aus den Klimaanlagen der Citys. Meint ihr nicht auch?“
Mara und Jean nickten wortlos während sie betrübt drein blickten. Marko verzog seinen Mund. Warum haben die aus Nieuw Bruxelles immer einen Stock im Arsch. Die sollten mal endlich lernen, alles etwas lockerer zu sehen, dachte sich Marko insgeheim.
„Na los Leute, kommt schon. Lasst uns nach Southampton fahren.“
Die Angelegenheit mit dem Reh mochte zwar traurig sein und Marko Rijken herzlos erscheinen, trotzdem hatte der Schleuser rechtens gehandelt, weil er das Tier von seinem Leid erlöst hatte. Es gab gewisse Bestimmungen, die während einer Zeitreise befolgt werden mussten, diese mittlerweile längst in den Gesetzbüchern von United Europe verfasst wurden. Es durfte weder ein Lebewesen in der Vergangenheit gerettet noch getötet werden, es sei denn, ein UE-Staatsbürger oder die Regierung hatte irgendeine Dramatik verschuldet, wobei ein Mensch oder auch ein Tier verletzt oder gar getötet wurde.
Ein zeitreisender Zivilist hatte diesbezüglich kein Handlungsrecht, nur ein Geheimagent durfte über die Situation abwägen und eine Entscheidung fällen. Genauso wie es in jedem Emigrantenprojekt vertraglich festgelegt war, hatte ein Schleuser ebenfalls das Entscheidungsrecht eine Urlaubsreise einfach abzubrechen, falls er die Zeitreisenden vor Ort für ungeeignet hielt. Manch Zeitreisender glaubte trotz absolvierter Lizenz, dass man sich in einer stets behüteten Märchenwelt befinden würde, in der nichts Unvorhersehbares passieren könnte. Und wenn sie mit der Realität konfrontiert wurden, hatten schon einige das Jahrhundert wieder fluchtartig verlassen wollen, weil sie sich plötzlich in freier Natur unsicher fühlten und verängstigt waren. Insbesondre gerieten manchmal Zeitreisende in Panik, wenn das Wetter umschlug und plötzlich ein heftiges Gewitter mit Blitz und Donner aufzog.
Mara und Jean besannen sich wieder, als Marko Rijken ihnen stolz das dunkelgrüne Automobil präsentierte. Jean war ohnehin ein begeisterter Autonarr, besonders schlug sein Herz für altertümliche Fahrzeuge, welche noch nach Abgas und Diesel stanken. Diese Leidenschaft teilte er offensichtlich mit dem Schleuser. Marko führte das Ehepaar um das Automobil herum und meinte, dies sei ein Ford Modell T, volkstümlich bekannt als Tin Lizzy.
Marko Rijken tätschelte bei dem Rundgang jedes der gerundeten Kotflügel, die im Sonnenlicht glänzten, und erläuterte kurz die Motorleistung. Augenscheinlich sähe Tin Lizzy wie eine Kutsche aus, meinte Mara, womit sie nicht Unrecht hatte. Die breite ledergepolsterte Sitzbank und die kastenförmige Karosserie erinnerten tatsächlich etwas an eine Pferdekutsche, nur ohne ein Pferdegespann. Genauso verglich sie die Speichenräder mit etwas breiteren Fahrradreifen, mit dem ausschlaggebenden Unterschied, dass Tin Lizzys Räder mit einem robusteren Reifenmantel versehen waren. Das Dach konnte nach Belieben abmontiert und gefaltet werden, genauso war die schmale Windschutzscheibe umklappbar. Seitlich an der Fahrer- sowie Beifahrerseite waren standardgemäß, wie bei jedem sogenannten Oldtimer, kleine elektrische Laternen angebracht.
Vorsichtig bestiegen sie die Karosse und nahmen auf der roten Ledersitzbank Platz. Rijken setzte sich rechte Seite hinter das Steuer, dessen lange Lenkstange durch das Bodenblech der Karosserie führte und direkt mit der Achse verbunden war. Marko hatte die ganze Zeit den Motor laufen lassen, weil es eine übelste anstrengende Sache sei, diesen wieder in Gang zu setzen, falls der Motor abgewürgt wird, betonte er. Breit grinsend schaute er zu Mara.
„Dieses Baby lässt sich kinderleicht fahren, Mademoiselle. Bis auf das Lenken, das ist etwas mühselig, weil die Servolenkung noch nicht erfunden wurde. Es gibt weder eine Gangschaltung noch eine Kupplung. Man braucht also nur Gas geben, lenken und ab und zu bremsen. Mehr nicht. Dieses Automobil ist absolut frauentauglich, Mademoiselle.“
Mara entgegnete ihn mit gekniffenen Augen.
„Frauentauglich? Wie meinen Sie das, Marko?“
„Aber das ist doch offensichtlich, Mademoiselle“, antwortete er arglos und fuhr sogleich enthusiastisch fort: „Es werden zukünftig verschiedene Ford T Modelle konstruiert. Dieser Dreisitzer aber ist der kleinste Tin Lizzy, welcher je gebaut wurde. Der Tin Lizzy ist gewissermaßen der Ur-ur-urgroßvater des zukünftigen Smarts aus dem 20. Jahrhundert“, lächelte er. „Damit gelingt es normalerweise sogar einer Frau in die engste Parklücke zu steuern, ohne dabei irgendwo anzurempeln. Es existiert außerdem weder eine Benzinpumpe, die kaputt gehen könnte, noch einen Ölfilter, der regelmäßig gewechselt werden müsste. Nicht einmal einen Ölmessstab gibt es, also braucht sich die Frau darüber keine Gedanken zu machen, denn seien wir doch mal ganz ehrlich, Frauen machen sich über solche Dinge sowieso keine Gedanken und der Mann hat letztlich den Salat, wenn die Kiste verreckt“, erklärte Marko Rijken schulterzuckend.
„Scherzen Sie, Marko?“, fragte Mara warnend. Innerlich kochte ihr Gemüt aber Rijken schien dies absolut nicht zu bemerken. Im Gegenteil, er setzte noch einen unbedachten Kommentar obendrauf und eigentlich meinte er es ja nur gut.
„Ganz gewiss nicht, Mademoiselle. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch …“ Er breitete seine Arme über dem Lenkrad und der Armatur aus, die nur aus einem Tachometer bestand.
„Die Frau muss doch bloß Gas geben, bremsen und hin und wieder mal lenken. Sehen Sie doch selbst. Dieses schlichte Tachometer ist Tin Lizzys einzige komplizierte Technik hinter dem Steuer. Nicht einmal ein rotes Lämpchen könnte die Frau in irgendeiner Weise irritieren, sie auf den unheilvollen Gedanken bringen: Hey, ich glaube hier stimmt was nicht. Weil einfach kein rotes Lämpchen zum nervös machen vorhanden ist.“ Marko lächelte und fuhr unbekümmert fort.
„Die Frau fühlt sich beim Fahren demnach absolut sicher. Man braucht nicht einmal zu blinken, weil, die Knatterkiste hat keinen Blinker. Aber das Beste ist“, erläuterte er mit erhobenem Zeigefinger, „Tin Lizzy fährt bloß allerhöchstens fünfundvierzig Stundenkilometer. Die angerichteten Schäden der Frau bewegen sich demnach noch in einem bezahlbaren Bereich.“
„Marko“, entgegnete ihm Mara ziemlich geladen, „ehrlich gesagt interessiert mich Ihr komisches Vehikel nicht im Geringsten, aber gewöhnen Sie sich gefälligst ab, mich ständig Mademoiselle zu betiteln. Ich bin verheiratet und somit eine Madame! Merken Sie sich das gefälligst!“, ermahnte sie zornig.
Wenn Blicke töten könnten, läge Marko Rijken jetzt mausetot mit der Stirn auf dem Lenkrad. Damit die Diskussion aber nicht völlig zu eskalieren drohte, forderte Jean den Schleuser freundlich auf, endlich loszufahren. Marko Rijken hatte es scheinbar geschafft, dass Mara sich mit ihren Vorurteilen gegenüber den Centrumeinwohnern nun endgültig bestätigt fühlte.
„Ihr habt Recht“, sagte Marko. „Los geht’s, ab nach Southampton!“ Er trat das Gaspedal durch und ließ dabei einen freudigen Ausruf los: „JIPPIYEAH!“
Doch das Automobil ruckelte sprungartig, wobei Mara und Jean jeweils nach vorne wippten und mit ihren Köpfen gegen die Windschutzscheibe gestoßen wären, wenn diese nicht von alleine umgeklappt wäre. Der Oldtimer blieb abrupt stehen, und der Motor war aus.
„Verdomme, hoe onhandig van mij! (Verdammt, wie ungeschickt von mir)“, fluchte Marko und schlug wütend auf das Lenkrad.
Mara schmunzelte.
„Was ist denn geschehen? Wofür geben Sie sich die Schuld? Sie können bestimmt nichts dafür, Marko, wenn der Motor einfach versagt“, sprach Mara lieblich, wobei ihre Schadenfreude herauszuhören war.
„Ich ähm … Ich habe den verfluchten Motor abgewürgt“, gab er zerknirscht zu. „Mistkarre! Jetzt steht uns eine komplizierte, anstrengende Prozedur bevor.“
„Uns???“, fragten beide gleichzeitig verdutzt.
Marko blies die Backen auf und nickte. „Ja, uns. Leute, ihr müsst mir leider dabei helfen, den Motor neu zu starten. Alleine kann ich das unmöglich bewältigen.“
Der Schleuser wies Jean ein, dass er den Schalter unter der Lenkstange so lange nach oben gedrückt halten soll, bis er JETZT rufen würde. Sogleich müsste er dann den Chokeknauf ziehen, während Marko mühselig die Kurbel unter dem Kühlergrill durchdrehen würde. Und wenn er daraufhin nochmal JETZT ruft, sollte Jean den Schalter sofort loslassen und den Choke wieder eindrücken.
„Und wenn Gott gnädig ist“, rief er unter der Motorhaube gebückt hervor, als er die ersten zehn Umdrehungen hinter sich hatte, „springt der Motor gleich beim zweiten Versuch an!“
Nach dem dritten Startversuch hatte Marko schließlich sein Sakko ausgezogen – wobei Gottes Gnade deswegen keineswegs in Frage gestellt werden sollte – und erst nach dem fünften Startversuch, wobei er die Motorkurbel ständig durchdrehen musste, tuckerte der Motor zuerst nur stotternd, bis er dann endlich ansprang und rund lief. Schweißgebadet stieg Marko Rijken wieder ein und lächelte verschmitzt.
„Puh ... Das war ganz schön anstrengend, Leute. Jetzt kann`s aber wirklich losgehen. Nur keine Panik auf der Titanic. Alles wird gut“, lächelte er.
Während die Herrschaften aus dem 25. Jahrhundert gemütlich die kurvenreiche Straße entlang fuhren, stimmte Marko beherzt den Song Take Me Home, Country Roads von John Denver an. Es stand außer Frage, dass ihm dafür keine amtliche Genehmigung vorlag, einen Song aus dem Jahre 1971 lautstark zu singen. Zudem klang sein Gesang erbärmlich, weshalb Mara naserümpfend ihre Ohren zuhielt. Die Peinlichkeit scheint Rijken absolut keine Grenzen zu stecken, dachte sich Mara insgeheim. Jean störten Markos schräge Gesangkünste weniger. Er ließ sich vielmehr von dessen guter Laune anstecken, nahm seine missmutige Ehefrau beherzt in die Arme, schunkelte sie und sang kurz entschlossen lautstark mit. Und so kutschierten sie laut singend durch die südenglische Landschaft im Jahre 1912, während der frische Fahrtwind an ihnen vorbei wehte und sie einen Song sangen, der erst 59 Jahre später von John Denver komponiert werden würde:
“Country roads, take me home
To the place, where I belong
West Virginia, Mountain Mama
Take me home, country roads.”
„Marko“, unterbrach Mara ihn mit einem lieblichen Unterton, als er gerade die zweite Strophe anstimmte. „Sagen Sie, wie ist das überhaupt möglich, ein Fahrzeug abzuwürgen, was ohne Kupplung und Gangschaltung ausgestattet ist? Sagen Sie, wie ungeschickt muss man sich dabei anstellen? Ich frage bloß, weil ich schließlich nur eine Frau bin und von die Autos keine Ahnung habe. Belehren Sie mich, s'il te plaît (bitte)“, lächelte Mara bezaubernd, wobei sie auffällig mit den Wimpern klimperte.
Marko verschlug es die Sprache und würgte daraufhin sofort seinen schrägen Gesang ab. Er zögerte, blickte nervös abwechselnd auf das Ehepaar und wieder zur Straße. Der Motor knatterte laut.
„Ähm … Tja, also das ist so …“, druckste er herum und schniefte einmal. „Ich hatte vergessen, die blöde Handbremse zu lösen. Die Handbremse war schuld, nicht ich.“
„Ach, die Handbremse also. Vielleicht sollte ich die ehrenwerte Mister Henry Ford einen kleinen Besuch abstatten und ihm raten, zukünftig nur Automobile ohne Handbremsen zu produzieren, damit die Fahrzeuge auch die Mann problemlos bedienen kann.“
Marko öffnete grad seinen Mund, um sich zu rechtfertigen, als alle Insassen plötzlich von einem explosionsartigen Knall aufgeschreckt wurden.
Der Motor stotterte zunächst nur, aber versagte letztendlich. Jetzt waren nur noch das Surren der Reifen und ein unheilvolles Zischen zu hören, gefolgt von sachtem Qualm, welcher aus dem Kühlergrill herausquoll. Hüstelnd wedelten Mara und Jean mit ihren Händen.
Langsam rollte das Vehikel bis zum Stillstand aus. Rijken blies wieder die Backen auf, stieg aus und klappte die Motorhaube seitlich auf. Zischend kam ihm eine weiße Dampfwolke entgegen und kochendheißes Wasser plätscherte ihm vor die Schuhe.
„Ver-dom-me!“ fluchte er hüstelnd, zog seinen Hut ab und wedelte damit den Wasserdampf aus seinem Gesicht.
„Bravo, großartig … Ganz toll. Ich bin absolut entzückt. Wie abgefuckt! Der Kühler ist geplatzt!“, verkündete er verärgert.
Mara reckte ihren Hals und blickte neugierig auf die geöffnete Motorhaube.
„Was ist denn nun schon wieder los, Schleuser Rijken? Wann geht`s endlich weiter?“
Marko Rijken ging behutsam auf beide zu, nahm seinen Hut ab und lehnte auf der Beifahrertür. Er räusperte sich und blickte beschämt seitlich weg während er sprach.
„Na ja, was soll ich noch großartig dazu sagen? Die Sache ist die: Der Kühler ist geplatzt.“
„Das sagten Sie bereits und ich fragte, wann wir weiterfahren.“
Nachdem Jean ihr in französischer Sprache erklärt hatte, dass die Fahrt mitten in der wunderschönen, englischen Landschaft geendet sei, stieg sie wütend aus.
„Das darf ja wohl nicht wahr sein! Sind Sie nicht fähig, anständig zu fahren? Wir verlangen sofort in das South Western Hotel gebracht zu werden! Wie, bleibt Ihr Problem! Das ist Ihre Pflicht! Wir sind sehr früh aufgestanden, außerdem gerieten wir in eine Polizeikontrolle und zu allem Überfluss wurden wir von Mounts belästigt. Wir sind müde und ich will jetzt sofort ein heißes Bad nehmen. Außerdem lässt langsam die Wirkung unserer Nahrungspräparate nach. Uns knurrt der Magen!“, schimpfte sie. „Wir haben 24 Millionen Euro bezahlt, dafür kann man gewiss einen reibungslosen Service erwarten. Meinen Sie etwa nicht, Schleuser Rijken? Ihr Centrumheinis könnt und wisst doch immer alles. Warum haben Sie nicht vorher im Archiv recherchiert, dann hätten Sie dieses lästige Malheur doch vorhersehen und Maßnahmen ergreifen können!“, hielt sie ihm obendrein vor.
„Momentchen mal, geehrte Mademoiselle … Ich meine, Madame. Der geplatzte Kühler ist nicht meine Schuld und habe es nicht mit meiner Fahrweise verursacht und NEIN, diese Panne war nicht vorhersehbar!“ Marko deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger rigoros vor seine Füße. „Das hier, mittendrin irgendwo in Südengland, ist meine und auch eure Gegenwart und wenn ich im Archiv danach geforscht hätte, was uns im Jahre 1912 erwartet, hätte ich keine Informationen bekommen, weil es nämlich meine Zukunft betreffen würde, obwohl wir uns in der Vergangenheit aufhalten. Und die Zukunft kann niemand vorhersehen. Ist das verständlich, Madame Corbusier?!“, erwiderte er gleichermaßen laut.
Jean stieg nun ebenfalls aus dem Automobil, um beiden Streithähnen endlich Einhalt zu gebieten und zu schlichten.
„Schluss jetzt!“, schimpfte er. „Vorwürfe nutzen uns momentan wenig. Marko, sorgen Sie dafür, dass wir hier schnellstmöglich aus der Walachei wegkommen! Wir verlangen, dass wir umgehend in das South Western Hotel gebracht werden. Meine Frau hat recht. Wie, ist Ihr Problem … Schleuser Marko Rijken!“
Nachdem Marko Rijken beiden hochheilig versprochen hatte, die Situation völlig unter Kontrolle zu haben und er dafür sorgen werde, dass sie trotz alledem schnellstmöglich ins South Western Hotel chauffiert werden, beruhigte sich Mara wieder. Marko sprach von einer alten Fabrik in Southampton, welche als geheimer Stützpunkt dient. Dort hielten sich weitere Geheimagenten auf, die vor einem Funkgerät sitzend auf seine Anweisungen warten würden. Er unterrichtete die Corbusiers, dass er seine Mannschaft befehlen werde, einen Abschleppdienst zu organisieren.
Marko Rijken mochte in ihren Augen wie ein schusseliger Trottel aussehen, der von einem Fettnäpfchen ins andere tappt, ein regelrechter Unglücksrabe sozusagen; nichtsdestotrotz war Rijken ein gewissenhafter Geheimagent und verzichtete bewusst auf den sprachlichen Funkkontakt, um völlig auszuschließen, dass in diesem Jahre 1912 die Funkwellen ein Unbefugter irgendwie empfangen könnte. Der Satellit sendete zurzeit ein optimales Funksignal und brachte eine hervorragende WLAN-Verbindung zustande. Also entschied er, seinen Stützpunkt mit einer veralteten SMS zu kontaktieren.
Was ihm aber tatsächlich Sorgen bereitete war der defekte Autokühler des Tin Lizzys. Mit diesem Automobil war eigentlich vorgesehen, dass Marko Rijken die TTA-Kundschaft am nächsten Morgen zum Hafen chauffieren würde. Aber woher sollte er auf die Schnelle einen passenden Autokühler organisieren? Autowerkstätten existierten noch nicht, derartige Reparaturen verrichteten gewöhnlich Eisen- und Schrotthändler und dieser musste zudem einen Tin Lizzy Kühler auf Lager haben. Andernfalls müsste Rijken dieses unabkömmliche Motorteil bei einem Ford-Händler in Amerika bestellen, was jedoch eine monatelange Lieferzeit bedeuten würde.
Da nun Marko Rijken ebenfalls wie Ike dazu befugt war, das geheime Bankkonto in Notfällen zu beanspruchen, spielten die Kosten demnach keine Rolle. Hauptsache war, die zahlungskräftigen Zeitreisenden werden am nächsten Tag zum Hafen gefahren, schließlich würden Mara und Jean als First-Class-Passagiere an Bord der Titanic gehen und was würden die Leute andernfalls denken, wenn die noblen Herrschaften mit einem Taxi, einer Pferdekutsche oder gar angelaufen kämen? Das war undenkbar, weil es auffällig wäre. Einfach ein neues Automobil zu kaufen, wäre eventuell die letzte Option gewesen, Marko aber war darauf bedacht, mit den Staatsgeldern sparsam umzugehen, weil er an seine Karriere dachte. Er beabsichtigte das Problem auf eigene Faust zu lösen und falls ihm dies gelinge, konnte er durchaus mit einer Gehaltserhöhung rechnen. Vielleicht sogar mit einer Beförderung. Plötzlich rumpelte es am Himmel verdächtig.
„Oje, auch das noch“, klagte Marko und blickte besorgt zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken waren herangezogen, die Unheilvolles versprachen. In der Ferne zuckten sogar bereits Blitze auf. Ein dumpfes Grollen wälzte durch die regenschweren Wolkenmassen, die bedrohlich näher kamen und langsam die Sonne verschlangen. „Oje“, wiederholte Marko, als die ersten dicken Tropfen aufklatschten. Jean dagegen schleuderte seinen Bowler in die Höhe, breitete seine Arme auseinander und ließ den Regenguss freudig über sich prasseln.
„Juchhu, endlich dürfen wir mal einen Regenschauer erleben. Juchhu!“, jubelte Jean.
Seine blonden schulterlangen Haare lagen ihm klatschend an, während er wie ein Kind übermütig im strömenden Regen herumhüpfte. Marko und Mara schauten ihn bei seinem Regentanz betrübt zu.
Es blitzte und donnerte, der Regen prasselte im Strömen auf den Asphalt nieder und ließ die Waldlandschaft ringsherum aufrauschen. Die Luft roch noch erfrischender als zuvor, doch Marko Rijken reichte dem euphorischen Tanzbär energisch seine Hand. Von seinem hellen Hut tröpfelte das Regenwasser herunter.
„Professor Corbusier, seien Sie doch bitte vernünftig. Steigen Sie unverzüglich in das Automobil ein, sonst werden Sie sich noch erkälten. Ich bin auch für Ihre Gesundheit verantwortlich.“
Aber Jean beachtete seine Bedenken nicht, sondern packte Mara an ihren Schultern und rüttelte sie.
„Es regnet, Chérie. Es regnet! Ist das nicht wundervoll? Wir dürfen einen wahrhaftigen Regenschauer in freier Natur miterleben!“
Mara allerdings blickte apathisch drein, zog langsam ihren triefnassen Hut ab und feuerte diesen wütend zu Boden.
„Schaut mich nur an, Monsieurs. Jetzt bin ich ganz pudelnass. Putain de merde“, jammerte die feine Dame. „Das dauert doch Stunden, bis jemand hier vorbei kommt. Was machen wir denn jetzt?“, fragte sie weinerlich.
Marko Rijken aber lächelte zuversichtlich, hantierte mit seiner Taschenuhr und behauptete, dass in nur wenigen Minuten ein Abschleppdienst erscheinen würde.
„Leute, ihr habt verdammtes Glück, dass ich euer Schleuser bin und keiner dieser erbärmlichen Anfänger, die der Geheimdienst gerne mal auf ahnungslose Zeitreisende loslässt, damit sie ihre ersten Erfahrungen sammeln. Ich bin ein waschechter Profi und habe soeben die Sicherheitszentrale anstatt die alte Fabrik kontaktiert.“
„Ja und?“, fragte Jean gelangweilt. „Was macht das für einen Unterschied?“
„Ganz einfach. Wenn ich meine Jungs in der alte Fabrik anfunken würde, müssten die sich erst auf die Suche nach einem geeigneten Abschleppdienst machen, welcher obendrein einen passenden Tin Lizzy Kühler auf Lager hat, richtig? Und das würde in der Tat etliche Stunden dauern, weil meine Leute sich in unserer Gegenwart befinden. Außerdem hätten wir dann immer noch kein Ersatzteil“, grinste er.
„Und weiter???“, fragten beide zugleich erwartungsvoll.
„Die Sicherheitszentrale allerdings wird einen Schleuser dazu beauftragen, der im Jahr 1911 in Southampton observiert, dass er sich um einen Abschleppdienst sowie um einen neuen Tin Lizzy Kühler rechtzeitig kümmert. Der Autokühler wurde demnach bereits bestellt und weil ich die genaue Uhrzeit unserer Autopanne angegeben habe, wird jeden Augenblick der Abschleppdienst samt Ersatzteil hier erscheinen“, sprach Marko Rijken freudig. „Bin ich nicht genial?“
Mara, Jean sowie auch Schleuser Rijken standen im strömenden Regen mitten auf dem Asphalt und schauten gespannt die Straße entlang, die nach Southampton führte. Es blitzte und donnerte gewaltig, aber es war kein Fahrzeug in Sicht. Markos siegesbewusstes Lächeln entschwand allmählich, ebenso war Jean längst die Freude am Frühlingsregen vergangen als ihm klar wurde, dass ein Regenguss sich nicht wie eine Duschbrause einfach abstellen lässt. Mit dem heftigen Gewitter war es zudem etwas düster geworden. Als aber bereits beinahe fünfzehn Minuten vergangen waren und immer noch kein Fahrzeug zu sehen war, fing Jean zu zweifeln an.
„Haben Sie der Sicherheitszentrale auch die genauen Koordinaten unseres Standortes durchgegeben? Das wäre andernfalls fatal, wenn der Abschleppdienst uns in einer ganz anderen Gegend vermutet und ...“
„Selbstverständlich hab ich das!“, unterbrach Marko ihn missmutig, wobei er seine Hände auf die Hüfte abstützte und unruhig hin und her wanderte.
Doch plötzlich erblickten sie in der Ferne zwei leuchtende Scheinwerfer. Nach dem Motorengeräusch zu urteilen, musste es sogar ein Lastkraftwagen sein. Marko atmete erleichtert auf und wischte sich mit dem nassen Ärmel über das Gesicht.
„Sagte ich nicht, dass jemand kommen wird? Sagte ich es nicht? Wie ich schon sagte, Leute: Nur keine Panik auf der Titanic.“
Ein schwarz lackierter Lastwagen steuerte langsam auf sie zu. Die Pritsche war mit einer weißen Leinenplane überdeckt und an den Bordwänden stand in gelber Aufschrift geschrieben: Lloyd & Lloyd Iron Trade Company Ltd. Der Regen preschte unermüdlich gegen den LKW.
Jean ging langsam auf das Fahrzeug zu und tätschelte bewundernd auf die klobige Motorhaube, darauf das Benz-Emblem hervorblitzte. Der schwarze Lack glänzte vor Nässe und von der weißen Plane floss das Regenwasser herunter. Jean war überwältigt und völlig fasziniert. Vor ihm stand ein wahrhaftiger Dinosaurier auf vier Rädern. Der Motor brummte, strahlte Hitze aus und stank herrlich nach Diesel und Abgase.
Unterdessen diskutierte Marko Rijken mit dem Fahrer. Der kräftige Mann mit dem ölverschmierten Armen schaute aus dem geöffneten Fenster und musterte seine sonderlichen Fahrgäste misstrauisch, während er eine Whiskeyflasche ansetzte und sich einen kräftigen Schluck gönnte.
„Das hat aber lange gedauert, Mister. Wir stehen hier schon seit über fünfzehn Minuten und warten auf Sie!“, moserte Marko. Der Fahrer zuckte mit der Schulter.
„Ich musste langsam fahren, Mister. Es regnet, wie soll ich da vernünftig was sehen können?“, antwortete der Eisenhändler Mr. Lloyd mürrisch.
Marko blickte kurz auf die Windschutzscheibe, daran das Regenwasser wie ein Rinnsal runterlief.
Sogleich fiel ihm wieder ein, dass zwar Scheibenwischer bereits im Jahr 1903 erfunden wurden, aber immer noch nicht vom Werk standartgemäß an jedem Fahrzeug angebracht wurden. Man musste also die Scheibenwischer selber nachrüsten, wenn man darauf bestand. Jedoch hielten es die meisten Leute damals für ein Schnickschnack, das nicht unbedingt notwendig war.
„Sie schleppen uns also ab?“, fragte Marko Rijken, wobei es aber wie eine Feststellung klang.
Mr. Lloyd nickte. „Ja, Sir.“
„Und einen Kühler für meinen Tin Lizzy haben Sie auch dabei?“
„Ja, Sir.“
Wieder nickte der Eisenhändler mürrisch und blickte misstrauisch drein. Es kam ihm etwas seltsam vor, dass ungefähr vor 8 Monaten ein Mann auf seinem Schrottplatz erschienen war, der genauso adrett angezogen war und ebenfalls einen auffälligen, holländischen Akzent hatte und einen Tin Lizzy Autokühler bestellt hatte. Und vor einer Stunde war dieser Holländer wieder bei ihm erschienen und meinte, dass genau um diese Uhrzeit, genau an dieser Stelle des Highways jemand abgeschleppt werden müsste, weil dessen Tin Lizzy Autokühler geplatzt wäre. Und wen trifft der verwunderte Eisenhändler an? Genau, schon wieder einen Holländer. Das alles empfand dieser Mann für einen sehr merkwürdigen Zufall.
Rijken klatschte seine Hände zusammen und rieb sie. „Großartig“, antwortete er erfreut. „Fabelhaft. Dann ist ja alles in Butter. Sie schleppen uns ab und bauen den Kühler ein. Jawohl, genauso habe ich mir das alles vorgestellt.“
„Das kostet aber einiges“, antwortete Lloyd grimmig und genehmigte sich sogleich einen weiteren Schluck aus seiner Whiskeyflasche.
„Für das Abschleppen plus das Ersatzteil verlange ich 35 Pfund, Mister, ohne dass ich dieses verdammte Teil einbaue. Das würde nochmal extra was kosten. Ihr Kollege oder wer auch immer das war hat mir versichert, dass Sie sofort bezahlen. Und zwar bar auf die Kralle!“
Marko zwinkerte nervös mit den Augenlidern aber klopfte zugleich zuversichtlich gegen die Fahrertür.
Selbstverständlich sollte dieser Akteur sofort entlohnt werden. Sobald sie die Stadt erreicht hätten, müsste Marko Rijken nur das nächste Bankinstitut aufsuchen und 35 Pfund von dem geheimen Gemeinschaftskonto abheben, und das Problem wäre erledigt. Den Kühler würde er dann selber einbauen, meinte Marko, sobald sie die alte Fabrik in Southampton erreicht hätten.
„Okay Leute, einsteigen. Wir werden abgeschleppt. Jetzt fahren wir wirklich nach Southampton“, sagte Marko Rijken und atmete erleichtert auf.