Kapitel 52 – Böses Erwachen
Dieser letzte Tag im September des Jahres 1911 war wie der erste goldene Oktobertag. Eine kurze Windböe ließ die Laubbäume rundherum aufrauschen und rote, goldgelbe Blätter rieselten herab, wobei das Sonnenlicht zwischen den Ästen aufblitzte. Hoch am Himmel sah man Schäfchenwolken. Ein Falke kreischte und schwebte direkt über die Waldbäume hinweg, und unten lag Ike mit ausgebreiteten Armen rücklings auf dem klammen Waldboden. Regungslos, als wäre er tot. Immer noch war er bewusstlos aber plötzlich rührte er sich.
Mühselig hob er seinen Kopf und blinzelte. Er blickte hinauf und sah durch die Baumkronen, wie der Falke seine Schneisen flog. Er versuchte sich zu erinnern, weshalb er mitten im Wald auf dem Boden lag und erst als er seine schmerzende Schläfe abtastete, bemerkte er, dass sein linkes Auge zugeschwollen war. Ike betrachtete einäugig seine Hand, daran sein eigenes Blut haftete. Dann vernahm er Stimmen und hörte, dass mehrere Personen umherliefen.
Plötzlich näherten sich ihm zwei schwarz maskierte Gestalten und blieben direkt vor ihm stehen. Ihre gepanzerten Uniformen waren beeindruckend. Die gesichtslosen Sturmhauben waren mit zwei ovalen, undurchsichtigen Panzergläsern ausgestattet und erinnerten an übergroße Augen eines Insektes. In ihren Händen hielten sie vollautomatische Sturmgewehre; unter ihren Dienstgradabzeichen auf den Schultern hafteten blaue Kreuz-Abzeichen, und auf ihren Rücken leuchteten die gelben Buchstaben: SEK.
„Was … Was ist geschehen?“, fragte Ike benommen, richtete sich langsam auf und blieb sitzen. Sein nackter Oberkörper war nur mit einer latexähnlichen Schutzweste geschützt, seine braune Cordhose war verschmutzt und eingerissen. Zudem war ein seiner Hosenträger abgerissen und er blutete am Oberarm sowie Oberschenkel. Die Sanitäter knieten vor ihm nieder.
„Schleuser van Broek, Sie sind in Sicherheit“, sagte eine elektronische Stimme in europäischer Sprache, wobei ein ausgeprägter französischer Akzent herauszuhören war. „Sie hatten unbeschreibliches Glück, van Broek. Die Schrotgeschosse haben Sie nicht lebensbedrohlich verletzt und die Wunde an Ihrer Schläfe, das war nur ein Streifschuss. Zu Ihrem Glück war das ein mieser Scharfschütze gewesen.“
Ike sah sich verwundert um. Er erblickte zahlreiche SEK-Soldaten, die den Waldboden systematisch absuchten. Andere knieten mit vorgehaltenen Sturmgewehren hinter Baumstämmen und sicherten die Gegend ab. Nur wenige Meter vor ihm lag der erschossene Detective Hunter im Gestrüpp, mit verschränkten Gliedern, und wurde von zwei weiteren SEK-Soldaten durchsucht. Der Staffelführer steckte dem Toten eine Kapsel in den Rachen und scannte dann mit einem Beamer seinen Körper. Nachdem er einige Tasten gedrückt hatte, war der Leichnam verschwunden und würde exakt eine Minute später im Jahre 2473 direkt am Checkpoint des Centrums erscheinen, zwecks Obduktion.
Der Sanitäter griff Ike mit seinem gepolsterten Handschuh vorsichtig an sein Kinn und begutachtete die Kopfwunde sowie sein geschwollenes Auge. Ikes geschundenes Gesicht spiegelte sich in den dunklen Augengläsern des SEK-Sanitäters, woraufhin er vor seinem eigenen Anblick erschrocken aufsah. Seine komplette linke Gesichtshälfte war voller Blut. Es schien, als wäre es ein Wunder, dass er diesen Streifschuss am Kopf überhaupt überlebt hatte.
„Seien Sie unbesorgt, van Broek. Es sieht schlimmer aus, als es eigentlich ist. Die Schwellung am Auge wird in ein paar Tagen zurückgehen. Haben Sie mich soweit verstanden?“, fragte der Sanitäter mit metallisch klingender Stimme, um seine Auffassung zu testen.
Ike nickte kurz. „Was ist hier los? Wo bin ich überhaupt?“, fragte er geschwächt.
Unterdessen war sogar Henry erschienen. Während er in die Waldlichtung marschierte, wurde er von einer SEK-Truppe beschützt. Henry hatte offensichtlich noch keine Gelegenheit gehabt sich umzuziehen. Immer noch trug er seinen weißen Herrenanzug, welchen er bei der Hochzeit von Ike und Eloise getragen hatte. Sogar die violette Blume steckte noch in der Brusttasche seines Jacketts, aber die Krawatte hatte er längst gelöst und hing ihm über die Schulter.
Das Brautpaar hatte zwar bereits letztes Jahr 1910 im Oktober geheiratete, aber für Henry hatte sich dieses Event erst vor knapp acht Minuten ereignet. Henry machte einen äußerst ernsten Gesichtsausdruck, während er den Finger auf seine Ohrmuschel hielt, grad mit der Sicherheitszentrale per Funk kommunizierte und auf Ike zuging, der immer noch auf dem Boden hockte.
„Das kann nicht sein! Irgendetwas muss es als Videomaterial geben, schließlich fliegt der Satellit genau in diesem Moment über Europa!“, motzte er aufgebracht. Dann blieb er stehen, um zu hören, was sein Stellvertreter Nicholas Verhoeven antwortete. Henry atmete einmal durch.
„Okay, ich verstehe. Nicholas, analysiere die Aufzeichnung nochmal genauer. Der dritte TT kann nicht weit gekommen sein, denn er wurde definitiv schwer verletzt. Uns bleibt nicht viel Zeit, denn hier wird es bald von Akteuren wimmeln! Dann müssen wir samt Beweise verschwunden sein. Over!“, beendete Henry den Funkkontakt. Er nahm seinen Hut ab und tupfte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, als er direkt vor Ike stand.
„Bist du in Ordnung, mein Junge?“, fragte Henry besorgt.
Ike starrte vor sich hin, hielt seine schmerzende Schläfe und nickte.
„Ich helfe dir kurz auf die Sprünge, was passiert ist, um deine Erinnerung wieder aufzufrischen.“
Henry zeigte in den Wald hinein.
„Dort hinten, ungefähr hundert Meter weiter, liegen acht unbekannte tote Militärsoldaten in Schützengräben. Wer zum Teufel hat die erledigt? Unsere Leute waren es nicht und du ja offensichtlich auch nicht. Diese Kerle hatten auf dich gelauert. Und wo ist der dritte TT? Du hast nur Zwei erwischt. Ist er dir etwa entkommen?“, fragte Henry, während er ihm auf die Beine half. „Versuche dich zu erinnern, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Allmählich fügten sich Ikes Gedächtnislücken wieder zusammen.
„Nein … Das kann nicht sein“, antwortete Ike niedergeschlagen und deutete in die Richtung des Waldesrandes. „Ich habe alle drei TT erwischt. Wirklich! Der liegt irgendwo da hinten, bei dem zerfetzten Baum. Ihr werdet ihn schon finden. Hör zu … Ich ähm, musste ihn erledigen ansonsten hätte er mich vielleicht erschossen“, druckste Ike herum.
„Ja, ja, ist schon gut“, entgegnete Henry. „Hauptsache, du lebst. Gute Arbeit. Zwei von denen sind wir schon mal los.“
Ikes Erinnerungsvermögen regenerierte sich langsam. Sein Herz raste, als er an Detective Miller dachte. Er hatte einen wichtigen Kronzeugen kaltblütig aus nächster Nähe erschossen, das war ihm wieder eingefallen. Falls dieses dunkle Geheimnis aufgedeckt wird, hätte er ein mächtiges Problem. Nicht nur, dass man ihn dann des Mordes aus privaten Gründen bezichtigen würde, sondern vielmehr, weil er somit die Ermittlung vorsätzlich behindert hat.
Ein weiterer SEK-Soldat berichtete Henry, dass Anne und Justin mitten im Wald aufgespürt worden sind. Mutter und Sohn waren wohlauf und weil ihre ID-Mikrochips längst deaktiviert wurden und sie somit als Akteure erklärt worden sind, durfte man beide nicht mehr zurück in das 25. Jahrhundert beordern. Sie waren demnach schuldfrei und hatten nichts zu befürchten. Der Staffelführer überreichte ihnen jeweils eine Kapsel, diese sie hinunter schlucken sollten. Dabei handelte es sich um die gleichen Kapseln, welche die Toten verabreicht bekamen. Darin steckten mikrokleine Sonden, die für eine Zeitreise unabdingbar waren und später wieder ausgeschieden wurden.
Anne und Justin wurden daraufhin zwei Stunden in die Vergangenheit transferiert, mit der Anweisung, dass sie sich in der Dorfschule unbedingt in der Öffentlichkeit vor allen Nachbarn sehen lassen sollten. Somit hätten sie ein handfestes Alibi, dass beide bei diesem Gemetzel nicht anwesend waren.
Die Situation war äußerst verwirrend. Ike beteuerte auch die dritte Zielperson, Detective Sergeant Miller, eliminiert zu haben, doch wo war seine Leiche geblieben? Die Gegend wurde von dreißig SEK-Soldaten im Umkreis von 500 Metern durchforstet worden, aber die Suche blieb erfolglos. Nirgendwo war eine Leiche zu finden. Henry war davon überzeugt, dass der letzte verbleibende TT überlebt hatte und nun schwer verwundet irgendwohin geflüchtet war. Immerhin wurden am zersplitterten Baum etliche Blut- und Fußspuren von zwei Personen entdeckt worden, welche direkt zum Waldrand führten und dann merkwürdigerweise verloren gingen. Möglicherweise verschwanden sie durch ein Zeitfenster, mutmaßte Henry.
Das war aber eigentlich unmöglich, weil Ike ihn hingerichtet hatte, dies er aber verschwieg. Ike behauptete, Miller lediglich durch einen gezielten Schuss auf den Baum, hinter dem er sich versteckte, niedergestreckt zu haben. Somit stellte er es quasi dar, dass der TT durch ein gewöhnliches Feuergefecht tödlich verletzt wurde. Ike hatte ihn aber sozusagen hingerichtet, obendrein einen äußerst wichtigen Zeugen. Ihm war sehr wohl bewusst, dass er eine Straftat begangen hatte, wofür er gerichtlich belangt werden könnte, sollte dieses Geheimnis aufgedeckt werden.
„Putain de Merde“, nuschelte Henry zornig vor sich hin, während er auf seinen Beamer blickte. „Wir waren so nahe dran, die Belfast Mission endlich zu beenden. So leid es mir tut, mein Freund, aber unter diesen Umständen kann ich dich leider noch nicht aus der Mission rausholen. So lange wir nicht wissen, wo der dritte TT verblieben ist, musst du unbedingt hier bleiben und weiter observieren. Bleib also auf der Hut und montiere weiter Mikrokameras in die Titanic. Möglich, dass er es nochmal versuchen wird, dich zu ermorden.“ Henry klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Du musst leider noch weiterhin deinen Kopf hinhalten. Diesen Scheißkerl brauchen wir unbedingt lebend!“
Ein mächtiger Schreck rüttelte plötzlich sein niedergeschlagenes Gemüt auf, weil seine Gedächtnislücken sich nun wie ein Puzzle zusammengefügt und er nun seine vollständige Erinnerung erlangt hatte.
„Eloise … Eloise ist noch im Wagen!“, bekundete Ike aufgebracht. „Sie ist schwer verwundet! Wir müssen ihr sofort helfen. Henry, ich flehe dich an, erteile eine Sondergenehmigung, damit sie ins Centrum transferiert werden kann. Bis ein Krankenwagen oder ähnliches hier erscheinen wird, ist es zu spät und es wird ohnehin fraglich sein, ob die hiesigen Ärzte ihr überhaupt noch helfen können. Sie hat einen Bauchschuss erlitten!“
Henry stutzte und blickte ihn verwundert an.
„Soll das etwa heißen, dass das Fräulein bei dieser Attacke dabei war? Bist du denn total bescheuert? Hast du deinen Verstand verloren?!“, brüllte Henry ihn unbeherrscht an. „Du hattest es doch geahnt, dass es Charles Komplizen waren und Gefahr droht! Warum hast du sie mitgenommen? Sie ist eine Akteurin und du hättest sie daran hindern müssen! Ihr hätte niemals etwas zustoßen dürfen. Dafür wirst du die Verantwortung tragen, Schleuser van Broek!“
Henry atmete einmal kräftig durch, um sich wieder zu beruhigen.
„Ich muss dich leider enttäuschen, von dem Fräulein fehlt jede Spur. Sie ist niemanden begegnet.“
Ike blickte ihn völlig verdutzt an. Eloise musste doch noch im Fahrzeug hinten auf der Rücksitzbank liegen, weil sie das Bewusstsein verloren hatte. Sie konnte also unmöglich geflüchtet sein. Eloise wurde zwar schwer verletzt aber sie könnte dennoch gerettet werden. Allerdings nur, wenn sie schnellstmöglich ins Centrum teleportiert werden würde. Ike wusste zwar, dass diese Option gegen das UE-Gesetz sprach, aber Henry war der oberste Chef des Secret Service und könnte dies bewirken. Aber damit würde Henry gegen das UE-Gesetz verstoßen.
„Glaube mir doch, ich hatte es versucht aber sie ließ nicht locker. Es war unmöglich sie davon abzubringen. Sie wollte uns unbedingt begleiten. Du kennst Eloise nicht, sie ist äußerst hartnäckig sobald sie sich was in den Kopf gesetzt hat. Ich bitte dich, mach eine Ausnahme und transferiere zum ersten Mal in der Geschichte eine Akteurin in die Zukunft, ich meine, in unsere Gegenwart. Hierfür werde ich selbstverständlich die volle Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen dafür tragen. Ich bitte dich, gib dein Einverständnis!“
Henry starrte ihn wortlos an. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ike war tatsächlich nicht mehr annähernd der Schleuser, welchen er einst in die Belfast Mission beordert hatte. Er hatte auf Ike gebaut und sogar dem Staatspräsidenten von United Europe, Henrik Klaasen, persönlich versichert, dass er für die Belfast Mission den absolut zuverlässigsten, loyalsten und fähigsten Schleuser entsandt hatte. Ike wirkte anfangs abgebrüht, arrogant, er war ehrgeizig und äußerst stolz darauf, dass Henry ihn unbedingt in seinem Team haben wollte. Aber jetzt stand sein angepriesener Mann völlig kopflos vor ihm und war offensichtlich zu jedem Opfer bereit, die Mission zu gefährden, nur um eine unbedeutende Akteurin zu retten.
Zwar war Henry selbst stets darauf bedacht, dass in seinen Missionen keine Akteure zu Schaden kamen, aber jede Mission diente der Menschheit und Kollateralschäden wurden zwangsweise eingeplant. Falls es keine Alternative geben würde, müsste selbst ein seiner Geheimagenten geopfert werden. Hauptsache die Mission ist erfolgreich.
Henry begriff nun, dass Frau Dr. Heinzmann tatsächlich Recht behalten hatte als sie letztens behauptete, Ike wäre der falsche Mann für die Mission, weil er seine Ehefrau aufrichtig lieben und die Mission somit gefährden würde. Für diese Erkenntnis war es nun viel zu spät. Henry atmete schwermütig auf.
„Ike, ich muss dir was sagen. Das ähm … Das verdammte Auto brennt lichterloh und auf der Rücksitzbank liegt eine Person, die wir aber nicht mehr identifizieren konnten. Selbst mit unseren Brillen nicht, denn da ist nicht mehr viel übrig, wenn du verstehst. Es brannte bereits, als wir hier angekommen sind. Wir konnten am Checkpoint keine genauen Koordinaten im Computer eingeben, weil der Funkpeilsender in deinem Mikrochip fehlerhafte Daten preisgibt. Da wurde offenbar rumgefuscht und bald wird der Funkpeilsender komplett deaktiviert sein. Keine Ahnung, weshalb. Aber das klären wir später.“
„Mein Funkpeilsender ist deaktiviert?“, fragte Ike ungläubig.
Er hatte sich dies zwar gewünscht und die Möglichkeit dazu hatte er auch eigentlich, mithilfe der heruntergeladenen Geheimdaten von Simon Barnes, jedoch hatte sich Ike noch gar nicht damit beschäftigt.
„Wie dem auch sei …Daraufhin hatte ich die Koordinaten deines Hauses eingegeben und sind dort erschienen. Und nur durch die starke Rauchentwicklung im Wald, die man meilenweit sehen kann, war uns klar gewesen, wo genau du dich aufhältst. Sonst hätten wir dich niemals so schnell auffinden können.“
Henry blickte Ike scharf an.
„Wieso brennt das Auto überhaupt? Was hast du getan? Erinnere dich, verdammt nochmal!“
Ike blickte entsetzt hinter sich, in die Richtung des Waldweges. Zwischen all den Bäumen war genau zu erkennen, wie wölbender Rauch aufstieg. Ein sachter Dunst kroch bereits zwischen den Bäumen hindurch, wie ein rauchender Nebel schwebte es zur Waldlichtung. Zudem machte sich jetzt ein beißender Geruch bemerkbar, dass es irgendwo brannte. Obwohl Ike am Bein von Schrotmunition verletzt wurde, sprintete er mit einem geschwollenen Auge sogleich los. Eloise war doch noch in dem Auto!
Ike war entsetzt und schlug die Hände über seinen Kopf. Das Automobil brannte wie ein Höllenfeuer. Die Flammen schlugen meterhoch aus dem Fahrzeug heraus und es knisterte, zischte und knallte. In dem Moment quietschte und krachte es, weil die Motorhaube bis zum Boden zusammenfiel. Das Autowrack war nur noch ein zusammengefallenes Gestell. Schwarzer Rauch wölbte sich gewaltig in den Himmel hinauf, sodass es ganz bestimmt bis zur Stadt sichtbar war. Die Hitze war dermaßen unerträglich, dass niemand sich dem Wagen hätte nähern können, um die ohnehin tote Person zu bergen.
Ike trat dem Flammeninferno gemächlich entgegen, blieb aber mit einer gewissen Distanz stehen und kniete nieder. Entsetzt blickte er auf das lichterloh brennende Autowrack. Wie konnte das alles nur passieren? Weshalb brannte das Automobil? Eloise ist jetzt wirklich tot? Ike war schockiert und konnte nicht mehr klar denken.
Henry eilte ihm hinterher.
„Ike, du hörst mir jetzt genau zu!“, redete er unaufhörlich auf ihn ein, während er nur apathisch dreinschaute und immer wieder stammelte, dass das nicht hätte passieren dürfen.
„Henry … Wir müssen sie zurückholen!“, schrie Ike. „Wir müssen sie zurückholen! Das ist unsere verdammte Pflicht, verdomme! Eloise ist eine Akteurin … Sie darf nicht aufgrund unserer Mission sterben!“
Als Henry einsah, dass Ike scheinbar nicht mehr fähig war, vernünftig zu denken, geschweige denn ihm zuzuhören, kniete er sich zu ihm nieder, packte an seinen Schultern und rüttelte ihn.
„Du sollst mir gefälligst zuhören!“, brüllte er ihm ins Gesicht. „Uns bleibt wenig Zeit. Bald werden die hiesige Feuerwehr und die Polizei erscheinen, und weiß Gott wie viele schaulustige Bauerntölpel hier gleich auftauchen werden. Die Leichen müssen fortgeschafft und die Schützengräben müssen zugeschüttet werden. Die Hightech-Waffen müssen vor allem verschwinden und dieser scheiß Baum muss geflickt werden, welchen du zersplittert hast. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen, hörst du! Ich habe bereits alles veranlasst und in die Wege geleitet. Ich sag dir jetzt, was du tun wirst, was du den verdammten Bullen aus Belfast sagen wirst!“, fauchte er ihn an.
„Du wirst behaupten, dass du von Protestanten überfallen und attackiert wurdest. Sie haben dir eine Falle gestellt, sie wollten dich beseitigen und haben die verfluchte Karre angezündet, um ein Exempel zu statuieren. Hast du das verdammt nochmal verstanden?! Das alles wegen dieses beschissenen Home Rule Bills!“
Ike jedoch blickte nur mit einem Auge entsetzt auf das Feuerinferno. Dahinter überblickte er die Dörfer und es waren bereits von überall her Kirchenglocken zu hören. Die hiesige Feuerwehr war längst alarmiert.
„Eloise ist tot, akzeptiere es! Du hast den Tot von Bugsy und Bob vorbildlich akzeptiert und gemeistert. Und jetzt akzeptiere gefälligst, dass auch Eloise verstorben ist! Denk an die Belfast Mission!“, fauchte Henry ihm ins Gesicht und rüttelte ihn dabei. „Ich verlange ja nicht von dir, dass du es jetzt gleich so hinnimmst. Aber du musst es akzeptieren! Verdammt nochmal, nimm es hin Schleuser van Broek! Tu deine Pflicht, wofür du ausgebildet wurdest!“
Henry ließ ihn los und blickte ihn entsetzt an. Falls Ike jetzt keine Stärke beweisen würde und einknickte, müsste die Belfast Mission abgebrochen und neu gestartet werden. Mit anderen Schleusern, Agenten und Spionen. Alles müsste neu durchdacht werden, eine neue Umgebung müsste ausgesucht werden; in der Vergangenheit müssten neue Wurzeln gesetzt werden und eine völlig neue Strategie müsste geplant werden, fuhr es blitzschnell durch Henrys Gedanken. Dann wären Abermillionen Euros verschwendet worden, weil Henry sich für den falschen Mann entschieden hatte, obwohl er von einer geschulten Psychologin sogar vorgewarnt wurde. Das könnte das Karriereende des obersten Chefs des Geheimdienstes bedeuten.
Von der Ferne aus sah man schon, wie dutzende Bauern von überall herbeigerannt, sowie Pferdegespanne mit Löschgütern bestückt im Eiltempo angaloppiert kamen. Die Zeit drängte, sie drängte ungemein. Jetzt kam es allein auf Ike an.
„Henry, ich tue alles was du von mir verlangst, aber lass mich wenigstens drei Stunden in die Vergangenheit reisen. Nur läppische drei Stunden, damit ich Eloise davon abhalten kann, dass sie mitfährt. Mehr verlange ich nicht von dir“, sprach er besonnen, während er wieder aufrecht stand und einen gefassten Eindruck machte.
„Eloise wurde von Männern aus der Zukunft getötet. Sie wäre heute ursprünglich niemals gestorben. Nicht heute und nicht auf diese Weise. Es ist unsere gesetzliche Pflicht, das Zeitgeschehen aufrecht zu erhalten, so wie es in den Geschichtsbüchern geschrieben steht. Dazu zählt jedes Menschenleben, und sei es für uns noch so unbedeutend. Wir müssen sie zurückholen!“
„Okay, okay, in Ordnung“, lenkte Henry ein. „Zur gegebener Zeit. Jetzt ist es aber leider unmöglich, weil die Gefahr viel zu groß wäre, dass du deinem anderen Ich begegnen würdest. Wenn dein anderes Ich dich von Angesicht zu Angesicht erblickt, wäre das eine Katastrophe. Dein Pendant sowie auch du selbst würden gleichzeitig einen Schock erleiden, woraufhin ihr beide, die ja ein und dieselbe Person sind, augenblicklich in ein Wachkoma fallen würden. Dieses Risiko kann ich unmöglich eingehen. Ich bin heilfroh, dass du dieses Massaker überhaupt überlebt hast.“
Ike aber ließ nicht locker, denn Henry stand unter extremen Stress. Noch war dieses Desaster frisch und konnte theoretisch gesehen problemlos verändert werden, zumal in diesem Moment noch niemand wusste, dass Eloise bei diesem Ereignis umkam. Denn je länger man Zeit verstreichen lässt, desto mehr werden sich Einflüsse ereignen. Zukünftige Ereignisse könnten dieses Vorhaben negativ beeinflussen und somit erschweren, sogar unmöglich machen, weil sich dann Zeitparadoxen bilden werden. Henry musste also hier und jetzt und sofort sein Einverständnis geben, Ike zu erlauben, Eloise von dieser Höllenfahrt mit allen Mitteln abzuhalten. Damit würde aber auch er selbst mit dem UE-Gesetz in Konflikt geraten.
„Henry, ich bitte nicht zu einem Vorgesetzten, sondern zu einem Freund. Ich werde schon aufpassen, dass mein anderes Ich mich nicht entdeckt. Du kannst mir vertrauen. Schließlich weiß ich noch ganz genau, wo und wann und wie ich was in den letzten drei Stunden getan habe. Lass mich zurück in die Vergangenheit reisen. Nur minus drei Stunden, dann wird es mir gewiss gelingen.“
„Was wird dir dann gelingen?“, fragte Henry bissig. „Was? Etwa, Eloise davon abzubringen, dass sie nicht mitfahren wird? Du hast mir eben grad verklickert, dass du bereits alles versucht hattest aber es war dir trotz alledem nicht gelungen. Dann wird es dir auch nicht gelingen, wenn ich dich jetzt zurückbeordere. Verstehst du es denn nicht? Simon Barnes hatte es dir doch erklärt. Dramatische Weltereignisse lassen sich leicht manipulieren, aber das Schicksal eines Menschen kann man niemals verändern. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst auch du sterben und dann könnten wir tausendmal zurückgehen, um dich zu retten. Aber letztendlich würdest du sterben. Immer und immer wieder auf eine andere Art und Weise“, redete Henry ihm ein. „Ich bin seit 30 Jahren in der Zeitreise dabei, ich habe es schon so oft erlebt. Du hast es doch bei Bob sowie bei Benjamin Glover selbst erfahren müssen. Akteure, die dir etwas bedeutet hatten!“ Henry atmete schwermütig auf. „Jetzt musst du wiedermal damit irgendwie klar kommen. Und nun tu deine verdammte Pflicht, Schleuser van Broek! Aber lass dir eins gesagt sein … Freundschaft im Geheimdienst gibt es nicht. Das ist eine Lehre von mir und nimm dir das zu Herzen, wenn du der beste Schleuser werden willst, so wie du es mir versprochen hast und ich darauf gebaut habe. Denn sogenannte Freunde in der Sicherheitszentrale haben sich schon zu oft als Verräter entpuppt. Siehe dir nur Vincenzo an. Er war einst mein Freund gewesen, dem ich vertraut habe!“
Nachdem Henry vom Staffelführer der SEK-Einheit unterrichtet wurde, dass der Baumstamm plastisch repariert wurde, wandte er sich wortlos von Ike ab, deutete dem Lieutenant ein Handzeichen und marschierte zur Waldlichtung zurück. Die Zeitfenster für die Reise in das 25. Jahrhundert waren für über dreißig Personen, plus Leichen und diversen Gegenstände, welche nichts im 20. Jahrhundert zu suchen hatten, aktiviert worden. Nach und nach verschwanden alle Personen spurlos durch flimmernde Rechtecke, welche sich sogleich wieder neutralisierten.
Es war wie ein Spuk, der endlich vorbei war und kein Einheimischer würde je erfahren, was dort tatsächlich geschehen war. Selbst die Schützengräben waren unkenntlich gemacht worden und der Waldboden sah beinahe wie unberührt aus. Nicht einmal Fußspuren konnte man erkennen.
In Windeseile hatten die Zeitreisenden aus der Zukunft die Vergangenheit wiedermal so hinterlassen, als wäre in der Gegenwart nur das geschehen, was in den Geschichtsbüchern geschrieben stand. Lediglich was die Akteure auffinden sollten, ließen sie zurück: Ein brennendes Auto, indem auf der Rücksitzbank ein unkenntlich verschmorter Leichnam lag, etliche Patronenhülsen von Schrotgewehren und einen Ehemann, der vor dem lichterloh brennendem Autowrack kniete und offensichtlich einen Schock erlitten hatte.
Nachdem die acht getöteten Soldaten in der Sicherheitszentrale obduziert wurden war es gewiss, dass sie dem Marine Corps der vergangenen USA angehörten. Jedoch waren ihre Waffen und Ausrüstung futuristisch, genauso wie die von United Europe. Aber deren Schusswaffen sowie Ausstattungen waren dennoch fremdartig, ganz anders und doch war eine ähnliche Technik vorhanden, wie im 25. Jahrhundert üblich. Diese Personen stammten ebenfalls aus der Zukunft, das war eindeutig.
Henry war, nachdem man ihn darüber unterrichtet hatte, äußerst nachdenklich und besorgt. In seiner Welt, im 25. Jahrhundert, gab es lediglich United Europe und die Vereinigten Staaten von Amerika existierte bereits seit einigen Jahrhunderten nicht mehr, seitdem der dritte Weltkrieg und zeitgleich die globale Katastrophe ausgebrochen waren. Das war mindestens ein Indiz, ein Hinweis. Es existierte möglicherweise doch eine parallele Welt, wobei der scheinbar untergangene US-Staat existierte. United Europe und die USA versuchten offensichtlich ihre Vergangenheit, so wie es in ihren Geschichtsbüchern geschrieben stand, zu korrigieren. „Mhm. Was hat das alles mit dem Untergang der Titanic zu tun?“, grübelte Henry.
Dutzende Pferdegespanne galoppierten heran. Männer, bekleidet mit dunklen Uniformen und Helmen sprangen von ihren Fuhrwägen herunter. Die meterlange Schläuche und Pumpen nutzten ihnen wenig, weil nirgends ein See oder Teich vorhanden war. Aber die Feuerwehrleute aus Belfast, sowie all die unzähligen Bauern aus den Dörfern, hatten etliche gefüllte Wassereimer sowie nasse Wolldecken dabei. Das Auto beabsichtigten sie ausbrennen zu lassen, vielmehr sorgten sie sich, dass die umstehenden Bäume nicht entzündet werden. Ein Waldbrand würde schließlich die umherliegenden Dörfer bedrohen. Der Feuerwehrhauptmann ging auf Ike zu, kniete sich zu ihm runter und fasste auf seine Schulter.
„Sir, Sie sind ja verletzt. Was ist geschehen?“
„Meine Frau liegt im Wagen, hinten auf der Rücksitzbank. Bitte löschen Sie das Feuer. Ich will, dass Sie wenigstens die Überreste meiner Frau bergen“, sprach Ike monoton, während er apathisch auf das brennende Automobil starrte.
Dieses schreckliche Ereignis musste Ike irgendwie ungeschehen machen, auch ohne Henrys Einverständnis. Aber wie, fragte er sich. Wie sollte er dies anstellen und war es überhaupt noch möglich? Die einzige Möglichkeit überhaupt, Eloise vor dem Tod zu retten war, dass er einen Beamer besitzt. Ike musste unbedingt zuerst einen Beamer auftreiben.