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Die Belfast Mission - Kapitel 27

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 27 – Passwort Goldfisch

Der tragische Tod von Jeffersons Sohn hatte diesmal sogar Werftarbeiter nach Feierabend in das Nelson`s Pub gelockt, die normalerweise gar nicht oder sehr selten eine Kneipe aufsuchten. An diesen Freitagabend war die Wirtschaft so proppenvoll, dass einige nicht einmal einen Sitzplatz ergatterten. Zudem herrschte eine bedrückte Atmosphäre und anstatt das Wochenende einzuleiten, wurde diesmal über die Sicherheit auf dem Arbeitsplatz diskutiert. Normalerweise wurde insbesondre freitags in der Kneipe gelacht und gesungen, denn samstags wurde bei Harland & Wolff meistens nur bis zum Mittag gearbeitet und danach der Wochenlohn bar ausgezahlt. Demnach ließen die meisten Werftarbeiter ihre Getränke anschreiben, jedoch gewährte Nelson nur einen sogenannten Deckel, wer vertrauenswürdig war und spätestens am Sonntag seine Zeche bezahlte. Aber wehe dem, der sich sonntags nicht blicken ließ, dieser Gast hatte sich dann dieses Privileg erstmal gründlich verspielt, denn Nelson war diesbezüglich äußerst nachtragend.
Kurz vor Feierabend pfiffen die Vorarbeiter ihre Teams dann mit einer Trillerpfeife herbei, die sich militärisch nebeneinander hinstellten und sehnsüchtig darauf warteten, bis der Vorgesetzter ihren Namen aufrief und ihnen die sogenannte Lohntüte überreichte, einen Briefkuvert, darin die Geldscheine des Wochenlohns steckten.

Ike, Bob und die anderen Stammtischgäste hockten bekümmert am Tisch. Vor ihnen stand jeweils ein frisch gezapfter Guinness. Zigarettenqualm schwebte über dem Lampenschirm, dieser wie ein Spotlight den Stammtisch erhellte. Im Hintergrund hörte man wie zahlreiche Leute miteinander diskutierten, was sich wie ein wirres Gemurmel anhörte.
Sogar Charles war diesmal zum ersten Mal im Nelson`s Pub anwesend, nachdem er Ike gebeten hatte, dass er ihn mitnehmen sollte. Ike hatte ihn zwar schon vor langer Zeit angeboten, dass er mal mitgehen sollte um eigene Freundschaften zu knüpfen, aber Charles hatte sich stets geweigert und gemeint, dass er mit einer sinnlosen Sauferei nichts zu tun haben wollte und der Zigarettenrauch in einer geschlossenen Bude sowieso nicht aushalten könnte. Aber dieses Unglück hatte auch ihn zutiefst betroffen und dazu veranlasst, mit seinen Arbeitskollegen gemeinsam zu trauern. Schließlich war Jeffersons Sohn ungefähr genauso alt wie Justin gewesen. Besonders hatte es Ike erschüttert, dass diesmal ein Kind tödlich verunglückt war. Ausgerechnet war es wiedermal auf der Baustelle der Titanic passiert, die bislang die meisten Todesopfer auf einer Helling während der Arbeit gefordert hatte. Zum ersten Mal fragten sich einige, ob vielleicht ein Fluch auf der Titanic liegt.
Er beobachtete Charles manchmal heimlich, wie er sich verhielt und mit wem er sich unterhielt. Aber Charles stand nur unbeholfen herum und wusste eigentlich gar nicht recht, was er nun tun und wie er sich verhalten sollte. Das Privileg, sich zu der Stammtischrunde zu gesellen, konnte Ike ihm aber beim besten Willen nicht gewähren. Darauf hatte er keinen Einfluss – Onkel vom Holländer hin oder her.
Der Oberhäuptling des Stammtisches, Bob McMurphy, war diesbezüglich äußerst konsequent und hatte strikte Regeln angeordnet, dass einem nur die Ehre erteilt werden würde dazu zu gehören, wen er offiziell als seinen Freund ernennt, ihn mal bei einer Schlägerei behilflich gewesen war oder ihn einmal unter den Tisch gesoffen hatte. Letzteres war bisher noch nie vorgekommen.
Es gab noch eine weitere Möglichkeit, vom Stammtisch akzeptiert zu werden, damit man in der geselligen Runde sich hinsetzen durfte. Man musste äußerst spendabel sein und dafür sorgen, dass die Kehlen der Herrschaften am Tisch nicht vertrocknen. Diese Option war aber nur eine Einladung und galt nur für einen Abend, was noch lange nicht bedeutete, dass derjenige zum Stammtisch wirklich dazu gehörte.

„Lass mich bloß mit diesen Söffern in Ruhe! Hab sowieso keine Lust mit diesen dämlichen Affen rumzumachen!“, hatte Charles Ike angefahren, als er ihn letztens ins Nelson`s Pub entführen wollte. „Halt mir insbesondere diesen Deppen McMurphy vom Hals. Der tickt doch nicht richtig!“
Daraufhin musste Ike ihn abermals zurechtweisen.
„Pass mal gut auf, mein ehrenwerter Onkel. Nur deinetwegen habe ich all diese wertvollen Freundschaften geknüpft, damit du in diesem Jahrhundert nicht komplett alleine dastehst, wenn du mal in Schwierigkeiten gerätst. Wenn ich nicht mehr da bin, werden sie dir anstandslos beistehen, allein nur deswegen, weil du mein angeblicher Verwandter bist. Bob mag vielleicht ein verrückter Kerl sein und ich gebe es zu, dass ich mich in United Europe mit solch einem Typ normalerweise gar nicht abgeben würde, aber wir leben nun mal jetzt hier, in der vergangenen Welt im Jahre 1910. Und Bob ist im Grunde kein schlechter Mensch, sondern ein loyaler Freund, der dir immer beistehen wird, egal wer dich bedroht oder du dich in einer anderen Notlage befindest. Genauso wie Sam Brady, Matthew Kelly und all meine anderen Freunde, sind nun auch deine Freunde. Diese wertvollen Freundschaften habe ich allein für dich erarbeitet, weil das zu meinen Aufgaben zählt. Und das war nicht einfach! Also, hege diese Gesellschaft wie deine eigene Familie, rate ich dir, denn bald bist du mit deiner Frau samt deinem Sohn auf dich alleine gestellt! Aber solange ich euer Probejahr betreue, verlange ich von dir, dass du mich anstandslos über Carl Clark informierst, denn dieser Akteur ist viel zu scharfsinnig und könnte uns beide wohlmöglich auffliegen lassen. Zwar nicht unbedingt als Zeitreisende, vielmehr könnte er unseren Betrug aufdecken. Man würde uns fristlos kündigen. Dann wäre nicht nur die Belfast Mission gescheitert, sondern auch deine Auswanderung!“, hatte Ike ihn dringlich ermahnt.

Charles lungerte zwischen den besetzten Tischen herum, wobei die Hände in seinen Hosentaschen steckten. Niemand beachtete ihn. Er hüstelte ständig, weil der Zigarettenrauch ihn belästigte, obwohl die Fenster wenigstens gekippt waren.
Er schaute sich schüchtern um. Über der Eingangstür hing ein Kruzifix und an der Wand hing eine Schwarzwälder Kuckucksuhr, die 18:25 Uhr anzeigte. Im Raum weiter hinten, erblickte er das eingerahmte Gemälde, darauf Jesus von Nazareth zu sehen war, wie er mit seinen Jüngern das Abendmahl zelebrierte. Selbst der Nebenraum war diesmal völlig besetzt, daraus Gemurmel und manchmal ein lauter Lacher ertönte.
Seine Augen wanderten an der Decke entlang, an der ein Kutschenrad mit Ketten befestigt war und herabhing. Zahlreiche Glühbirnen waren daran montiert und spendeten der Hafenkneipe ausreichend Licht.
Diesen originellen hölzernen Kronleuchter hatte Ike selbst konstruiert und gesponsert, weil er den alten Kronleuchter bei einer Kneipenschlägerei ausversehen mit einem Barhocker zertrümmert hatte. Ike hatte an den Stuhlbeinen gepackt und weit ausgeholt, weil er die Sitzgelegenheit auf seinen Nebenbuhler schmettern wollte. Dabei hatte er nicht bedacht, dass direkt über ihn der gläserne Lüster aus dem frühen 19. Jahrhundert hing, dieser daraufhin in abertausend Glasscherben zerbarst war.
Es gab eben immer noch genügend Leute, die es einfach nicht abschätzen konnten, ab wievielten Guinness es nicht mehr ratsam war, Ike den Holländer zu betiteln, und sei es auch nur spaßhalber. Bereits nach dem ersten vertilgten Bier lachte Ike auffällig laut, nach dem zweiten Glas standen ihm einige Haarsträhnen lustig ab und sobald er wie alle anderen sich einen Whiskey gönnte, guckte Ike nur noch mit einem zugekniffenen Auge umher, damit er nicht mehr alles doppelt sehen musste. Der Mann aus der Zukunft vertrug nun mal keinen Alkohol und konnte mit den trinkfesten Iren keinesfalls mithalten.
Dann genügte nur ein unbedachtes Wort, ein falscher Blick; und je kräftiger und größer der Mann war, desto eher fühlte Ike sich provoziert und pöbelte herum – wobei Bob in solchen Situationen ihn obendrein zusätzlich anstachelte –, was letztendlich immer zur Eskalation führte. Zwar wurden beide von Nelson danach immer mit den Worten: „Raus hier, sofort! Absolutes Hausverbot, ihr zwei bekloppten Arschgeburten!“, hinausgewiesen, aber weil Ike am nächsten Tag stets reumütig erschienen war und den geschundenen Schankwart wieder großzügig entschädigte, blieb im Grunde alles beim Alten. Nun war Nelson`s Pub im Besitz eines eindrucksvollen Kronleuchters, in der Form eines Kutschenrades, was ein regelrechter Hingucker war.

Nelsons Servierdame, Sophia, huschte mit zwei Tabletten herum; eines mit Getränken und das andere mit einen Teller Spiegelei und Rahmspinat mit Pellkartoffeln. Sie wirkte wiedermal, sobald mehr als zehn Gäste anwesend waren, völlig gestresst und war äußerst mies gelaunt. In ihrem Mundwinkel steckte ein glimmender Zigarettenstummel. Ihre rotblonden Locken standen ihr wiedermal zu Berge und diesmal erntete sie besonders gierige Blicke, weil das Dekolleté ihres Kleides diesmal schräg über ihre Schulter hing und jeder sah, dass sie diesmal sogar gar keinen Büstenhalter trug und ihre üppigen Brüste bei jedem Schritt wippten. Die Männer tuschelten untereinander und blickten sie gierig an: Die Bedienung mit der Hexennase sei zwar nicht unbedingt die hübscheste Magd von Belfast, aber ihre schlanke Figur, ihr knackiger Hintern sowie ihre prallen Brüste würden dafür einiges wieder wettmachen.
„Mach doch mal Platz, du Armleuchter! Setz dich irgendwo auf deine verdammten vier Buchstaben und geh mir aus dem Weg!“, schnauzte sie Charles an, wobei die Zigarette in ihrem Mundwinkel beim Reden wackelte und die Zigarettenasche dabei auf das Spiegelei fiel. Charles zog sogleich die Hände aus seinen Hosentaschen und hopste erschrocken zur Seite.
„W-wo soll ich mich denn hinsetzen? Es gibt doch gar keine Sitzgelegenheit mehr. Wäre geehrtes Fräulein vielleicht so nett, mir einen Stuhl zu besorgen?“, lächelte Charles freundlich.
Sophia blinzelte, weil der Zigarettenrauch in ihren Augen biss.
„Du kannst mich mal kreuzweise, du Knallkopf. Hol dir aus dem Schuppen im Hof doch selber einen Stuhl, oder hock dich von mir aus draußen auf die Latrine hin. Dann kannst du aber lange warten, bis ich dich bediene. Nur steh hier nicht so dumm herum!“, bekam er mit ihrer rauchigen Stimme forsch geantwortet.
„Hey, der Gast ist König, meine geehrte Dame. Wissen Sie das etwa nicht? Also, bringen Sie mir gefälligst einen Stuhl!“, forderte Charles entrüstet. Aus Sophias Mund brach eine schallende Lache heraus, wobei ihr die Zigarette in den Spinat fiel.
„Solch einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört. Sollte es eines Tages aber tatsächlich so weit sein, dass der Gast König ist, nehme ich mir auf der Stelle einen Strick. Und hör verdammt noch mal auf mich zu siezen, sehe ich etwa wie ein hochnäsiges Stadtweib aus?“
Dann pustete Sophia die Zigarettenasche vom Spiegelei, pulte mit ihren Fingern die Kippe aus dem Spinat und schnickte diese auf den Boden, bevor sie dem hungrigen Gast die Mahlzeit servierte.

Charles war empört und machte den Schankwart darauf aufmerksam, dass seine Bedienung mit ihrem unmöglichen Benehmen die Gäste vergraulen würde. Das wäre nicht gut für das Geschäft, versuchte er Nelson zu erklären, der grad ein neues Bierfass anstach. Nelson blickte ihn hasserfüllt an und richtet seine Melone etwas zurück.
„Hör bloß auf, mich mit deinem jämmerlichen Geheule zu belästigen. Ich verrate dir mal was … DU bist nicht gut für das Geschäft, weil du Arschling nichts zum Saufen bestellst. Bestell etwas oder scher dich zum Teufel!“, zeterte er.
„Sie sind ganz schön unfreundlich und unverschämt obendrein, mein Herr. So kann man gewiss keine Wirtschaft betreiben, indem man seine eigenen Gäste anpöbelt. Ich bin … Ich bin der Onkel von Ike van Broek und wünsche, angemessen behandelt zu werden!“, bekundete Charles mit erhobenem Haupt, wobei er seine verschmutzte Cordjacke richtete und nervös an seiner Schirmmütze zupfte.
Doch aus Nelson platzte nur ein heißeres Lachen raus, wobei er sich beinahe nicht mehr einkriegte.
Nelson lehnte sich mit verschränkten Armen auf den Tresen, trocknete seine feuchten Augen vor Lachen und blickte dann Charles mit gekniffenen Augen an. Er grinste schäbig und sprach im ruhigen Ton zu ihm.
„Soso … Du bist also der Onkel vom Holländer? Tatsächlich? Aha. Ich verrate dir mal was, wie das in meiner Schänke so abläuft. Ich bin hier der Chef und nur ich bestimme, wie ich meine Kneipe führe. Es ist mir schnurzpiepegal, wer du bist. Bestell was zum Saufen und setzt dich irgendwohin, damit du Sophia nicht auf den Geist gehst. Oder verschwinde, damit ich deine dumme Visage nicht mehr länger ertragen muss! Habe ich mich klar ausgedrückt, Onkel?“
Charles war zwar entrüstet denn er war es nicht gewohnt, dass man ihn in einer Gaststätte mit so einer vulgären Ausdrucksweise behandelte, aber sogleich wurde ihm wieder bewusst, in welchem Jahrhundert er sich befand und in was für einer Ambiente er sich grad aufhielt.
Er zupfte sich an der Nase und überlegte was er trinken sollte. Etwas Alkoholisches kam für ihn absolut nicht in Frage und ob es bereits die Coca Cola gab, da war er sich nicht sicher. Also bestellte er bei Nelson ein schlichtes Glas Wasser. Vorzugsweise ein Glas Sprudelwasser, aber da war sich Charles ebenfalls nicht sicher, ob es dies bereits gab. Wie auch immer; ein stilles Wasser wäre ihm auch genehm. Bloß kein Bier oder gar einen Schnaps oder Whiskey.
„Was willst du?!“, fuhr ihn Nelson sogleich spitz an. „Ein Glas Wasser? Willst du mich auf den Arm nehmen?“
Charles blickte ihn daraufhin verwundert an und schüttelte mit dem Kopf. Was hat er denn jetzt schon wieder falsch gemacht, fragte er sich.
„Nein Sir … Ähm, ich meine: Nein Nelson. Du wolltest, dass ich was zum Trinken bestelle und das habe ich doch eben grade getan. Also, wo ist das Problem?“
Nelson grinste nickend, holte gemächlich aus der Vitrine ein Glas heraus und drückte es ihm in die Hand. Charles blickte verdutzt drein.
„Du willst also wie ein dämlicher Gaul Wasser saufen? Dann geh doch raus zum Hydranten und zapf dir welches, Spaßvogel. Bei mir gibt’s nur Bier oder Hochprozentiges!“

Nachdem Nelson sich vor Ike aufgebauscht und sich vor versammelter Mannschaft lautstark beschwert hatte, was für komische Leute er in sein Haus anschleppen würde, Ike den aufgebrachten Wirt daraufhin wieder besänftigte, indem er gestikulierend versicherte, alles was Charles verlangt zu bezahlen, trat plötzlich ein fremdes Gesicht herein und setzte sich vor dem Ausschank auf einen Barhocker. Niemand schien den jungen Mann zu beachten, obwohl jeder Fremde von den Stammgästen sofort kritisch gemustert wurde. Aber die Bude war proppenvoll. Gemurmel beherrschte die Atmosphäre, es wurde mittlerweile laut gelacht und gesungen. Nun herrschte wieder die gewohnte Stimmung im Nelson`s Pub.
Niemand beachtete den Kerl mit der Arbeitskluft, wie er ein schaumiges Guinness bestellte und umherschaute. Während Bob den Stammtisch tiefgründig über die Arbeit unterhielt, setzte Ike seine Nickelbrille auf und untersuchte den Fremdling zuerst nach Waffen. Er war unbewaffnet. Dabei fiel ihm seine außergewöhnliche reine Haut auf und überhaupt; seine Arbeitskluft war ungewöhnlich sauber und er trug nagelneue Schuhe. Der Fremde glänzte wie ein Penny und passte augenscheinlich gar nicht in das Bildnis des frühen 20. Jahrhunderts. Er schätzte diesen Mann höchstens für Dreißig ein, wobei er berücksichtigte, dass die Menschen von damals gewöhnlich mindestens zehn Jahre älter wirkten und aussahen, als 100 Jahre später. Ike vermutete, dieser Mann sei kein Akteur, sondern würde aus United Europe stammen, aus der Zukunft. Aber er könnte sich auch genauso gut täuschen.
Als sich ihre Blicke kreuzten, lächelte der junge Mann. Seine Lippen bewegten sich und wünschten Ike offenbar einen schönen Abend, dann beobachtete der Fremde unbekümmert das Geschehen in der Kneipe weiter und schien den Lokalgästen interessiert zuzuhören.
Ike zog sofort seine Brille ab und schaute weg. Sein Herz raste. War er etwa einer dieser Zeitreisenden, dessen aktiviertes Zeitfenster den Felsen entzweit hatte? War dieser Kerl vielleicht nur ein Späher, der versuchte ihn ausfindig zu machen?
Plötzlich verstummte nach und nach die fröhliche Stimmung in der Hafenkneipe. Es wurde allmählich ruhiger im Nelson`s Pub. Ike vernahm das Treten von Stiefelabsätzen auf dem Dielenboden, die von der Eingangstüre langsam zum Tresen stampften. Ike und alle anderen Lokalgäste waren sichtlich erstaunt, als plötzlich Carl Clark hereintrat. Mr. Clark blickte, wie gewöhnlich, grinsend über die sitzende Meute, die ihn erschrocken anstarrten, als wäre der Teufel persönlich erschienen. Sein gezwirbelter Schnauzbart unterstrich dabei sein erhabenes Schmunzeln, welches vielen sowieso nie geheuer war. Dünne Haarsträhnen lagen auf seinen Schultern, aber als der schlaksige Mann zur Begrüßung seinen Bowler anhob, kam sein Kahlkopf zum Vorschein.
„Guten Abend, die Herren“, sagte Carl Clark freundlich lächelnd.

War es überheblicher Mut, provokative Dreistigkeit oder gar Größenwahn, dass er sich als ein bekennender Protestant wagte eine Wirtschaft zu betreten, in der es von angetrunkenen Katholiken nur so wimmelte? Das einzige, was ihn jetzt vor einer möglichen Dresche schützte war die Tatsache, dass Carl Clark ein angesehener Vorarbeiter von Harland & Wolff war und jedem die fristlose Kündigung drohen würde, falls sich irgendjemand wagen würde, ihn zu attackieren.
Mr. Carl Clark war bei keinen besonders beliebt und so mancher träumte von solch einem Augenblick, dass er plötzlich im Nelson`s Pub erscheinen würde, dann könnte man ihm nämlich kurzerhand das Genick brechen. Der Terror auf Queens Island hätte somit ein Ende und niemand würde den Täter verraten. Mindestens würde sich jetzt diese einmalige Gelegenheit anbieten, ihn kräftig zu vermöbeln und ihm somit einen Denkzettel zu verpassen.
Nun war Clark erschienen und was konnte er schon gegen zwanzig, vielleicht sogar dreißig Männer anrichten, die ihn – bis auf den anwesenden Charles – aufrichtig hassten? Besonders Ike, der ihn mit abstehenden Haarsträhnen einäugig anblickte und die ganze Mannschaft sowieso hinter ihm stand. Aber Carl Clark war ein groß gewachsener Mann, dessen Aura eine ausgeprägte Selbstsicherheit ausstrahlte und ihn unantastbar wirken ließ. Diesem Mann begegnete man unweigerlich respektvoll. Obendrein zeigte er allen anwesenden Werftarbeitern, dass er Mut hatte und sich überlegen fühlte.

„Meine Herren, lasst euch meinetwegen nicht stören. Bestimmt habt ihr wiedermal einen triftigen Grund zum Feiern. Wie üblich. Da nun der Saint Patrick`s Day um diese Jahreszeit nicht infrage kommt, nehme ich an, dass ein prächtiger Knabe geboren wurde, oder Mister van Broek hat wiedermal beim Skatspielen nebenbei eine Lohnerhöhung ausgesprochen.“
Der äußerst unbeliebte Protestant, Carl Clark, provozierte mit seinen Kommentaren angetrunkene Katholiken, die ihm verhasste Blicke entgegen brachten.
„Geht dich zwar absolut nichts an, Carl, aber weder noch. Wir trauern um Jeffersons Sohn. Vielleicht solltest du dich etwas pietätsvoller verhalten. Dies wäre jedenfalls ratsam“, meldete sich Ike sogleich spitz zu Wort. „Ansonsten gehst du besser. Ich meine es nur gut mit dir“, grinste ihm Ike gleichermaßen entgegen.
Der Vierundsechzigjährige erblickte Ikes Bowler, der direkt über ihn an einem Hacken hing. Die Atmosphäre war dermaßen bedrückend, dass das gleichmäßige Ticken der Kuckucksuhr deutlich hervorstach.
Ike mischte tatsächlich grad ein paar Skatkarten, aber das tat er immer. Ob nun gespielt wurde oder nicht. Vor ihm standen zwei abgestandene Gläser gefüllt mit Guinness, und der dazu gehörige Schluck Whiskey. Carl Clark nickte stetig und grinste.
„Trauern … Ich verstehe, meine Herren“, meldete sich seine Ironie zu Wort. Dann seufzte er auffällig und blickte den Schankwart an.
„Ik wil een kopje thee, alstublieft”, sagte er plötzlich in niederländischer Sprache, sogar akzentfrei, woraufhin Ike ihn sofort mit weit geöffneten Augen verwundert anblickte. Sein Adrenalin stieg, er fühlte sich augenblicklich nüchtern und nuschelte nicht mehr. Nelson schaute den fremden Gast mit runzelnder Stirn verwundert an, weil er kein Wort verstanden hatte.
Bob fasste ihn an der Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Das ist doch bestimmt holländisch, was der da faselt. Was Clark auch immer gesagt hat, lass dich von dem ja nicht provozieren. Ike, rühre ihn bloß nicht an, andernfalls kostet es dich deinen Job!“
Aber Ike schmunzelte bloß, petzte in Bobs fleischige Wange und rüttelte leicht daran.
„Keine Sorge, mein Freund. Alles ist gut. Nelson ..!“, rief Ike zur Theke hinüber, „Mister Clark hätte gerne eine heiße Tasse Tee. Denke, mit einem Stückchen Zitrone darin, aber ohne Zucker. Geht auf mich!“
Sachtes Gelächter erklang, was aber sogleich wieder verstummte. Carl Clark blickte den Schankwart an: „Bekomme ich meinen Tee pronto, so wie die Saufnasen hier ihr Bier bekommen, oder muss mein Tee vorerst noch aufgebrüht werden?“, fragte er und es schien, als ob er grinsen würde.
Nelson nickte. „Muss erst gebrüht werden“, antwortete er mürrisch, feuerte das nasse Handtuch auf die Ablage und schnappte sich ein frisches Tuch. Dann scheuchte er Sophia in die Küche.
„Ihr seid heute scheinbar alle etwas ballaballa!“, moserte Nelson miesepetrig, während er griesgrämig weiter Biergläser abtrocknete. „Zuerst wird ein Glas Wasser bestellt, jetzt sogar Tee mit Zitrone. Wünscht von euch Herren irgendjemand vielleicht Kaffee und Kuchen?!“
Die Mucksmäuschenstille hielt weiterhin an, nur das Klimpern von Porzellan erklang, wenn Carl Clark das Zitronenstückchen im Tee umrührte. Als der Kuckuck plötzlich heraussprang und 20 Uhr meldete, steckte Mr. Clark ein Monokel an sein Auge und verglich die Uhrzeit mit seiner Taschenuhr. Beide Utensilien waren mit Kettchen an der Brusttasche seiner schwarzen Oberweste befestigt.
Er schritt gemächlich durch die Tischreihen – ähnlich wie er es in seiner Werkstatt tat. Manche Männer starrten ihn ängstlich an, andere dagegen hasserfüllt oder mieden gar seinen Blick. Carl Clark jedoch schlürfte seinen Tee und wanderte unbekümmert von Tisch zu Tisch. Diesen waghalsigen Mut beeindruckten die Kneipengäste, sodass niemand sich wagte, diesen verhassten Vormann das Bein zu stellen, um eine Schlägerei zu provozieren. Denn wenn man einen Vorarbeiter selbst nach Feierabend nicht angemessen behandeln würde, würde es die fristlose Kündigung bedeuten.

„Hier sitzt sie also, die Elite von Harland & Wolff und macht sich gegenseitig einen weis, was für tolle Kerle sie doch sind und wie hart man gearbeitet hat. Verstehe, hier werden tiefgründige Konversationen über Politik abgehalten und über die Zukunft philosophiert, während literweise Bier und Schnaps vertilgt werden, obwohl nicht einer von euch nur einen müden Penny einstecken hat. Und zu Hause, bei Weib und Kinder, gibt es nur Bohnen mit Speck aus der Dose. Schämen solltet ihr euch. Brave irische Väter gehen nach getaner Arbeit stets zu ihren Familien, aber ihr sauft euch nach Feierabend die Köpfe voll. Und sonntags geht man scheinheilig in die Kirche, um sich von seinen Sünden zu entledigen. Gelobt sei der HERR Jesus Christus, der für eure Sünden qualvoll am Kreuz gestorben ist“, spottete er.
Sophia war die einzige, die ihren Kopf sank, sich bekreuzigte und Amen sagte.
„Sie haben gut Reden, Mister Clark. Sie müssen sich Ihre Hände ja nicht schmutzig machen und wissen gar nicht, was harte Arbeit bedeutet. Man muss sich selbst auch irgendwie entspannen können!“, ertönte es wütend aus einer Ecke. „Jawohl, so ist es doch!“, brüllte jemand aus dem Nebenraum, die sich mittlerweile wutschäumend vor dem Türrahmen versammelt hatten.
„Tja, dann hättet ihr in der Schule besser aufpassen müssen, geehrte Herrschaften. Aber stattdessen habt ihr euch auf der Schulbank alle lieber eine Mütze voll Schlaf gegönnt und im Unterricht nicht aufgepasst, worauf es im Leben ankommt!“, konterte er bestimmend.
Die verhassten und ängstlichen Augen, die ihn unentwegt angestarrt hatten, blickten plötzlich verschämt zu Boden. Das Bedürfnis, dem verhassten Vorarbeiter die Faust aufs Auge zu schlagen, entschwand allmählich, weil alle Männer das schlechte Gewissen plagte. Stille herrschte in der Kneipe.
„Na, dann empfehle ich dir doch, spute dich geschwind zu deinem Weib und Kind, Carl. Verschwende bloß keinen einzigen Penny, um mal abzuschalten. Meine Männer sind tüchtige Männer und achten stets darauf, dass ihre Familien überleben. Geh am besten sofort nach Hause, du unbescholtener Familienvater“, spottete Ike, woraufhin wieder leises Gelächter ertönte.
Carl stellte seinen Tee einfach auf einen Tisch ab und stampfte langsam dem Stammtisch entgegen.
„Oh, ich vergaß. Mister van Broek kann sich gewiss ohne weiteres diesen Spaß erlauben. Er ist sich nie zu schade dafür, gemeinsam mit seinen Sklaven in einem Boot zu rudern, damit man ihn auch hier in dieser Ambiente als einen Kapitän akzeptiert.“ Carl blickte mit gekniffenen Augen demonstrativ auf sein abgestandenes Bier. „Jeder von uns darf selbst entscheiden, was er tut.“ – Er hob seine Hände – „Das ist Gottes Wille. Der HERR hat uns eigene Entscheidungen überlassen. Doch wird erzählt, die Titanic sei gar kein englisches Schiff, sondern in Wahrheit ein Irisches, weil es von irischen Händen erschaffen wird. Letztendlich bestimmt aber die englische Banknote über das Eigentum der Titanic. Das sollten einige Herrschaften in diesem Raum endlich begreifen und akzeptieren. Aber relevant ist nur, dass unser Goldfisch eines Tages auf dem Wasser schwimmt. Ist es nicht so, Mister van Broek?“

Ike zwinkerte nervös mit seinen Augenlidern. Das erhabene Lächeln entschwand aus seinem Gesicht. Einen Augenblick wirkte er konfus, versuchte es aber zu verbergen. Die Botschaft, die ihm der Elektrikervorarbeiter zu übermitteln versuchte, spielte möglicherweise auf seinen Alkoholkonsum an. Was Ike aber wirklich irritierte war, dass Mr. Clark dabei zufällig Goldfisch erwähnte. Das Wort Goldfisch wirkte auf ihn wie ein Zauberwort, dass sein Gemüt augenblicklich wachrüttelte.
Jedem Geheimagenten, der eine Mission zu erfüllen hatte, wurde zuvor ein geheimes Passwort übermittelt, welches nur ihm persönlich bekannt war. Wurde dieses Passwort von einer anderen Person, von einem anderen Geheimagenten erwähnt bedeutete dies, einen sofortigen Abbruch der Mission, beziehungsweise würde der Übermittler die Mission unverzüglich weiterführen. Diese Passwörter wurden hauptsächlich verwendet, wenn der Geheimagent beispielsweise in Gefahr laufen würde, unwissend ein Zeitparadox hervorzurufen. Aber es musste einem Agenten eindeutig klar gemacht werden, indem man ihn beispielsweise hart an die Schulter packte, ihm stechend in die Augen schaute und unmissverständlich das Passwort übermittelte.

Ike kratzte sich die Stirn. Dass Carl Clark ein Akteur war, davon war er absolut überzeugt. Ein waschechter Ire, der sogar die niederländische Sprache ohne Akzent beherrschte, empfand er zwar als außergewöhnlich, nichtsdestotrotz war dies möglich. Clark war immerhin ein gebildeter Mann und er traute es ihm zu, dass er nur niederländisch gesprochen hatte, um ihn aus der Reserve zu locken. Soweit konnte er Carl Clark mittlerweile einschätzen. Ausgerechnet niederländisch, das war Centrums inoffizielle Hauptsprache. Alles nur ein Zufall, redete er sich ein. Jedoch war es ein denkwürdiger Zufall, war seine Meinung.
Plötzlich zerriss ein mächtig lauter Rülpser die Stille, welchen Bob absichtlich losgelassen hatte. Ike, sowie alle am Stammtisch prusteten amüsiert und hielten sich die Hand vor dem Mund, um bloß nicht laut loszulachen. Es wäre ansonsten unhöflich einem Vormann zugegen.
Der Vorarbeiter der Elektriker runzelte die Stirn und blickte Bob verdutzt an. Welch rüpelhaftes Benehmen, aber was konnte er von einer Ambiente wie dieser schon erwarten? Bob McMurphy erwiderte seinen Blick mit einem schelmischen Grinsen.
„RÜÜÜLPS!“, ertönte es sogleich nochmal mächtig aus seinem Rachen, wobei Bob ihn unbeirrt lächelnd anstarrte. Nun machten es ihm die anderen nach und jeder rülpste abwechselnd.
Carl Clark nickte stetig weil er begriff, dass man ihn nun verschaukelte. Er verließ grußlos das Nelson`s Pub. Als Carl in der dunklen Gasse verschwand, vernahm er weiterhin röhrende Magengeräusche, gefolgt von grölendem Gelächter. Die Gemüter in der Hafenkneipe waren endlich wieder heiter gestimmt. Während man freudig das rülpsende Konzert weiterführte bemerkte Ike erschrocken, dass der geheimnisvolle Fremde, der mit den nagelneuen Klamotten, auch soeben die Kneipe verlassen hatte. Ike blickte über seine Schulter und beobachtete aus dem Fenster, wie dieser pfeifend die Hafenkneipe verließ und die Straße entlang schlenderte.
 
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