Kapitel 37 – Die Krähe
Belfast, Dezember 1910
Charles Owen war seit Tagen ungewöhnlich gut gelaunt und dies hatte seine Gründe. In zwei Wochen war das Probejahr verstrichen, dann würden er und seine Familie endlich in Freiheit leben, ohne Ike und Eloise. Eine letzte Rückreise in das 25. Jahrhundert bestünde ihnen jedoch noch bevor, dort würden dann einige Psychologen die Owens in einem Konferenzsaal empfangen. Letzte Gespräche werden sie erwarten und nachdem Ike sein Einverständnis erklärt, würde die automatische Deaktivierung ihrer ID-Mikrochips erfolgen, sobald sie die Schwelle des Zeitfensters am Checkpoint zum letzten Mal übertreten. Die Zeitreise zurück in das Jahr 1911 wäre dann unwiderruflich und ihre Existenz in United Europe endgültig gelöscht. Die Familie Owen würde lediglich im Logbuch der TTA verzeichnet sein, und zwar als zeitreisende Akteure, die in der vergangenen Welt nun sesshaft sind.
Ike hatte zuerst einige Bedenken, als er Charles auf Queens Island in die Toilettenräume zitierte. Nun war es soweit, ihm die unfrohe Botschaft zu verkünden, dass er ihm beim Installieren der Mikrokameras behilflich sein müsste und somit sein Probejahr auf unbestimmte Zeit verlängert werden würde. Jedem Werftarbeiter stand täglich exakt zehn Minuten zu, um seine Notdurft zu verrichten. Keine Minute länger – dies wurde akribisch protokoliert.
Lohnabzug oder gar die fristlose Kündigung wäre die Konsequenz, falls diese bezahlte Freizeitzeit überschritten wurde. Im Vorraum hockte ein Pförtner vor einem Schreibtisch, überwachte die Toilettengänge der Werftarbeiter peinlich genau mit einer Sanduhr und trug die Pausenzeit in die Namenslisten ein.
Es war ein schmuddeliger Toilettenraum, kaum ein Sonnenstrahl drang durch die schmalen Fenster hinein. Die gekachelten Wände waren verschmutzt, von der Decke hingen schlichte Glühbirnen herab und es stank dort fürchterlich nach Urin. Ike bückte sich und blickte unter den Kabinentüren, um sich zu vergewissern, dass sie nicht von jemand belauscht wurden, der grad eine Sitzung abhielt.
Er war felsenfest davon überzeugt, dass Charles ihm eine Szene machen würde, sobald er ihm beichtete, dass sich sein Probejahr gesetzlich verlängern würde. Charles müsste diese Anordnung normalerweise anstandslos akzeptieren, schließlich hatte er diese Klausel in seinem Emigrationsvertrag unterzeichnet. Trotzdem rechnete Ike mit einem lautstarken Protest.
Queens Island war aber Ikes Territorium, dort durfte Charles es sich nicht einmal erlauben, einen Vorarbeiter unwirsch anzublicken. Also entschied er, Charles diese unangenehme Neuigkeit zu verkünden, wenn sie sich auf dem Werftgelände aufhielten, somit müsste er sein schnell aufbrausendes Gemüt zügeln. Ike hatte eine Mission zu erfüllen und benötigte seine Hilfe. Es mussten mehr als 8.000 Miniaturkameras im Schiff installiert werden, die nicht viel größer als Stecknadeln waren. Kein Winkel der Titanic durfte unbeobachtet bleiben. Da nun Charles Owen ein Elektriker war, durfte er sogar den Funkraum auf der Brücke betreten, ohne dass irgendein Akteur sich fragen würde, was er dort zu suchen hätte. Sein Engagement war für den Geheimdienst demnach zwingend notwendig. Aber gegen seine Erwartung blieb Charles besonnen, ja, er schien gar über diese Hiobsbotschaft erfreut zu sein. Charles äußerte, dass es schon immer sein Kindheitstraum gewesen sei, einmal als ein Geheimagent dem Secret Service zu dienen. Er zeigte auf Anhieb euphorisches Interesse an seinen neuen Job und stellte neugierige Fragen, aber Ike blockte sofort ab und meinte, sobald die Zeit gekommen wäre, würde er ihn gänzlich einweihen.
Aus einem undichten Wasserhahn plätscherte permanent Wasser heraus und ihre Stimmen hallten im Toilettenraum.
„Prima Kumpel, jetzt sind wir ja praktisch Partner“, lachte Charles dümmlich und boxte ihm übermütig gegen seinen Oberarm. Ike schaute ihn mahnend an, hielt seinen Zeigefinger auf den Mund, tat extra geheimnisvoll und flüsterte ihm zu, dass insbesonders sein Job absolut top secret sei und nicht einmal Anne davon erfahren dürfte. Er ließ Charles glauben, dass er nun ebenfalls ein UE-Geheimagent sei und als der Pförtner gerade dabei war Charles Sanduhr abzulesen, drehte Ike diese einfach um, sodass der feine Sand zurückrieselte. Der Toilettenmann schaute ihn zwar verdutzt an, aber Ike war ein Vorarbeiter und was wollte er schon dagegen unternehmen?
Ike hatte seinem vermeintlichen Onkel soeben als Belohnung für seine Kompromissbereitschaft zehn Minuten Freizeit geschenkt, worüber dieser sich sehr freute. Charles nutzte nämlich täglich seine Pinkelpause eher dazu, um sich auf der Latrine zu verbarrikadieren und die Tageszeitung in aller Ruhe zu lesen. Der Gestank störte den notorischen Drückeberger dabei wenig und wenn er einmal tatsächlich musste, dann pinkelte er einfach heimlich in das Waschbecken der Umkleidekabine.
In der Stadt weihnachte es schon seit zwei Wochen. Die Schaufenster der Geschäfte waren weihnachtlich dekoriert; über den Hauptverkehrsstraßen hingen die Weihnachtsbeleuchtungen, die an den Fassaden befestigt waren und auf dem Marktplatz ragte eine riesige Tanne empor, die mit dutzenden Glühbirnen in ihrer voller Pracht erstrahlte. Rundherum waren etliche Holzhütten aufgestellt die kandierte Äpfel, Zuckerwatte, gebrannte Mandeln und weitere Süßigkeiten verkauften. Dort gab es sogar ein Kinderkarussell und der Duft von Bratwürsten schwebte in der Luft.
Es war wieder einer der üblich mausgrauen Dezembertage Irlands. Schneegraupel rieselte herab und benetzten die Klamotten der Leute. Die Dächer von Belfast waren mit weißem Schleier überzogen und die Passanten liefen mit hochgestellten Mantelkrägen und Regenschirmen umher.
Ike und Eloise waren mit ihrem Pferdegespann in die Stadt gefahren, wie jeden zweiten Samstag im Monat, wenn Ike nicht arbeiten musste. Er schäkerte mit Eloise, packte sie an ihrem Mantel und kitzelte sie kräftig durch, wobei ihr quiekendes Gelächter entwich.
Er hatte ihr erzählt, dass Charles momentan nicht zahlungsfähig sei und er die Abmachung nicht einhalten könne, somit würden sie erstmal weiterhin im Haus wohnen bleiben. Er machte ihr sogar die Hoffnung, dass sich diese Situation auch im neuen Jahr vorerst nicht ändern werde. Eloise war über diese Neuigkeit sehr glücklich und meinte, diese Botschaft wäre ihr schönstes Weihnachtsgeschenk.
Justin hockte auf der Ladefläche des Fuhrwagens zwischen verpackten Weihnachtsgeschenken, knabberte genüsslich an einem roten Apfel mit Stiel und beobachtete die Leute. Eine Postkutsche preschte an ihnen eilig vorbei und am Straßenrand parkten einige Automobile.
Plötzlich schrillte direkt hinter ihnen die Schelle einer Straßenbahn, woraufhin ihre Pferde erschrocken trampelten und wieherten. Die Pferdehufen klackerten auf dem Kopfsteinpflaster.
„Mensch, Leute! Könnt ihr da vorne nicht aufpassen, wohin ihr die Pferde lenkt? Hinter uns fährt eine Straßenbahn!“, motzte Justin und stöhnte sogleich genervt auf. „Immer müsst ihr Blödsinn machen. Ihr Erwachsene benehmt euch manchmal schlimmer als Erstklässler. Voll peinlich!“
Das kreischende Geräusch von schleifendem Stahl, weil die Straßenbahn abbremste, ließ sie aufschrecken. Ike und Eloise – sie hielten sich gekuschelt in ihren Armen – drehten sich hinter ihren Schultern und schauten erschrocken auf das Führerhaus der Straßenbahn, die direkt hinter ihrem Pferdewagen quietschend zum Stillstand gekommen war. Sie sahen genau in die wütenden Augen des Straßenbahnführers, der energisch mit seinen Händen wedelte, als wenn ihn ein Bienenschwarm attackieren würde.
„Macht, dass ihr von den Gleisen runterkommt! Seht ihr nicht die Bahnschienen, worauf eure dämlichen Gäule herumtrampeln?“, rief er ihnen verärgert zu und betätigte nochmals die aufdringliche Schelle.
Ike würdigte ihm keines weiteren Blickes mehr, hob nur seine Hand, als Zeichen seines Bedauerns, und lenkte den Fuhrwagen gemächlich von der Bahnschiene. Während die Straßenbahnwaggons an ihnen langsam vorbeizogen, beugte sich der Schaffner aus dem umgeklappten Seitenfenster und zeigte Ike erbost einen Stirnvogel.
„Mach deine Augen auf, du Armleuchter!“, brüllte er zornig.
Eloise streckte ihm daraufhin frech die Zunge heraus, woraufhin der Straßenbahnfahrer sie entrüstet anblickte. Was für ein unverschämtes Weib. Unbelehrbares Bauerngesindel, dachte sich der Fahrer. Bleibt gefälligst auf dem Land, wo ihr hingehört. Dann steht ihr wenigstens nur den Kühen und Ochsen im Weg.
Was kümmert einem schon der Missmut anderer Leute, wenn man frisch vermählt und somit neu verliebt war? Eloise schmiegte sich wieder an ihren Ehemann und machte sich gemeinsam mit ihm über den Straßenbahnführer lustig. Auf ihrem Kopftuch, wie auch auf Ikes Schirmmütze, hafteten Eiskörner.
Es war sehr frostig, ihre Atemhauche waren sichtbar wenn sie miteinander redeten. Sie waren dabei wieder ihren Heimweg anzutreten – raus aus der lauten, stressigen Stadt – aber als sie an einen Krämerladen vorbeikamen, bettelte Eloise darum, unverzüglich anzuhalten.
Die Schaufenster waren mit gebastelten Sternen und gehäkelten Nikolausmützen beklebt und unter dem Dachgesims stand die Aufschrift geschrieben: Goldsmith`s Home & Colonial Fruit Store, was mit grünen Tannenzweigen geschmückt war.
Vor dem Ladenfenster im Freien stapelten sich gefüllte Holzkisten mit Obst, Gemüse und teilweise mit exotischen Früchten wie Kiwis, Melonen und Bananen. Damals galten solche Früchte als exotisch und waren nur schwer zu erwerben.
In diesem Tante-Emma-Laden kaufte Eloise generell ein, wenn sie die Stadt besuchten. Der Kaufmann, Mr. Goldsmith, verkaufte zu fairen Preisen, zudem bürgte er für seine frische Ware und hatte immer günstige Angebote auf Lager. In seinen Regalen wurde man immer fündig. Überdies verkaufte Mr. Goldsmith auch Zeitschriften und Bücher und wenn Eloise nach einen Roman nachfragte, Mr. Goldsmith aber zurzeit leider keinen Schmöker ihres gewünschten Genres anzubieten hatte, tätschelte er auf ihre Hand und versprach, dass er sich darum kümmern werde.
Mr. Goldsmith bemühte sich stets, alle seine Kunden zufrieden zu stellen und bisher gelang es ihm immer wieder, die Ansprüche seiner leseverwöhnten Stammkundin gerecht zu werden.
„Ike, Ike, halt sofort an!“, forderte sie ihn fiebrig auf und zerrte sogleich an seinem Mantel.
„Hätte ich beinahe vergessen. Ich muss unbedingt zu Mister Goldsmith! Wir brauchen noch Karotten, Bohnen und Knoblauch“, zählte sie mit ihren Fingern und einem nachdenklichen Gesichtsausdruck auf. „Zudem brauchen wir noch Sellerie, Lauch, Kartoffeln, Butter, Käse, Zucker und Milch und Mehl und Kaffeebohnen und Teeblätter und … Quatsch, die Milch und Kartoffeln bekomme ich ja von Mister McEnrey für umsonst, ich Dummerchen. Aber Bananen. Ja, Bananen brauchen wir unbedingt! Die isst du doch so gerne“, sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln.
Ike schmunzelte.
„Und am aller nötigsten brauchen wir deiner Meinung nach etwas zum Vorlesen. Einen neuen Roman. Verstehe, es ist wieder zeitig dunkel und uns stehen wiedermal lange Abende vor dem Kamin bevor. Ist es nicht so, Liebes?“
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und seufzte.
„Ja, auch“, hauchte sie und es klang, als hätte er sie dabei ertappt, dass Möhrchen und Sellerie eigentlich nichtig und die Bananen nur ein Vorwand waren, Goldsmith`s Home & Colonial Fruit Store einen Besuch abzustatten. Sie stieg vom Fuhrwagen runter und lächelte ihm winkend aus dem Handgelenk zu, bevor sie den Krämerladen betrat.
Plötzlich griff Ike an seine Brusttasche. Sein modifizierter Füllfederhalter vibrierte und empfing soeben das gesendete Signal des Funkpeilsenders seiner vermissten Taschenuhr. Henry hatte diesen Funkpeilsender aktiviert, bevor er am selben Tag der Hochzeit wieder verschwand, um Ike die Suche danach zu erleichtern. Der Satellit überflog grad Europa. Die Wetterverhältnisse waren zurzeit für Funksignale aber ungünstig, also blieb ihm allerhöchsten fünfzehn Minuten, um seine Taschenuhr im Umkreis von 800 Meter wiederzubeschaffen, bevor das ohnehin schwache Signal völlig erlöschen würde.
„Justin, du bleibst hier und passt auf die Pferde auf! Sag Eloise, wenn sie rauskommt, dass ich gleich wieder da bin!“
Ike sprang vom Fuhrwagen, rannte über die Straße und noch bevor der Junge gegen seinen Entschluss protestieren konnte, war er schon in einer Gasse verschwunden.
„Hey, wo willst du denn hin? Lass mich hier nicht alleine!“, rief Justin ihm hinterher.
Justin warf seinen abgenagten kandierten Apfel mit Stiel frustriert auf die Straße, verschränkte seine Arme und schmollte. „Wie uncool ist das denn jetzt? Nun muss ich hier voll krass in der Kälte chillen, bis DIE da rauskommt und DER wieder hier ist“, moserte er verärgert.
Ike rannte als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her, wobei er das leuchtende Signal auf dem Füllfederhalter stets im Auge behielt. Die kleine Navigation zeigte ihm winzige Pfeile an, wohin er gehen musste und grenzte den Radius des Zielortes ein. Der Kopfsteinpflaster der engen Gasse war holprig, nass und rutschig zugleich, weshalb er sein Tempo verlangsamte. Direkt vor ihm flitzten aufgeschreckte Katzen davon.
Ike kletterte über einen Gartenzaun, eilte einfach quer über das fremde Grundstück, hechtete über eine Hecke und landete auf dem Rasen des Nachbarn, indem er sich geschickt abrollte und wieder aufstand. Sportlich war er immer noch.
Als er vom nassen Gras seine Schirmmütze aufhob, weitete er erschrocken seine Augen, weil ein fuchsteufelswild gewordener Rottweiler aus seiner Hundehütte direkt auf ihn zustürmte. Ike hatte keine Chance, zu entkommen. Der bullige Hund fletschte die Zähne und rannte unaufhörlich auf ihn zu – die Bestie hatte ihn fast erreicht –, aber Ike hatte Glück. Der Hund war angekettet und noch bevor er über ihn herfallen konnte, wurde der Hund ruppig zurückgerissen.
Ike blies die Backen auf und ein kurzes Lächeln husche über seinen Mund.
„Uff, das war echt verdammt knapp. Gegen diesen Mistköter hätte ich keine Chance.“
Während der Rottweiler aggressiv bellte und sich direkt vor ihm aufbäumte – die Hundekette war straff angezogen und man hätte befürchten können, dass dieses Biest die Kette zerreißen könnte –, stieg Ike über einen weiteren Holzzaun, zwängte sich durch eine Hecke und stand nun vor einer belebten Hauptstraße.
Er keuchte. Automobile fuhren gemächlich die Straße entlang und eine Pferdekutsche preschte an ihm vorbei. Hufen klackerten auf dem Kopfsteinpflaster. Und es rieselte weiterhin Schneegraupel vom grau bedeckten Himmel.
Eine Frau auf dem Gehweg, die einen Kinderwagen schob, erschrak sich und schrie kurz auf, als Ike plötzlich aus dem Gestrüpp stolperte. Ohne sie zu beachten, sah er auf seinen Füllfederhalter.
Das Signal wurde deutlicher. Zügig überquerte er die Straße. Wieder rannte er durch eine beengte Gasse und stieß plötzlich in der Abbiegung mit einem Mann zusammen, der daraufhin von seinem Fahrrad stürzte. Ike entschuldigte sich kurz und sprintete sogleich wieder los. „Du dämlicher Tölpel! Kannst du nicht aufpassen?!“, hörte er ihn brüllen. Der Mann saß auf seinen Hintern und fuchtelte wütend mit seiner Faust, während sein Fahrrad auf der Gasse lag.
Plötzlich befand sich Ike inmitten eines Hinterhofes. Keuchend blieb er gebeugt stehen und griff sich in seine Bauchseite. Sportlich war er zwar immer noch, aber seine Kondition war nicht mehr dieselbe, wie vor zwei Jahren im Centrum. Seitenstechen plagte ihn und als er die hohen Mauern rundherum erblickte realisierte er, dass es eine Sackgasse war. Direkt vor ihm, hinter der großen Mauer, waren die Backsteinfassaden einiger Hochhäuser zu sehen. Nach dem Signal zu urteilen, müsste sich seine Taschenuhr irgendwo in eines dieser Hochhäuserblöcke befinden. Aber als Ike die Kerle erblickte, die mitten auf dem Hinterhof um eine brennende Tonne standen und sich aufwärmten, ahnte er, dass ihm augenblicklich Ärger bevorstand. Besonders den Kerl mit der braunen Schirmmütze hatte er noch gut in seiner Erinnerung behalten, weil dieser ihn einmal hämisch grinsend an einen Laternenmast angekettet hatte.
Vor ihm standen einige Mitglieder der berüchtigten Straßengang The Dark Crows, die langsam aber bestimmend auf ihn zugingen. Bugsy jedoch war nicht unter ihnen. Der Kerl mit der braunen Schirmmütze schnickte seine Zigarette fort.
„Ja, da laust mich doch der Affe. Wen haben wir denn da?“, sprach der Kettenmann. Diesmal aber schwang er keine Eisenkette. „Der Holländer. Was für eine Überraschung“, grinste er hämisch.
Ike blickte starr zu ihnen rüber und trat der Bande selbstsicher entgegen. Mit langsamen Schritten umkreisten sie ihn, bis sie ihn umzingelt hatten. Jeglicher Fluchtversuch war nun nicht mehr möglich. Was die Gangmitglieder allerdings nicht ahnten war, dass Ike gar nicht im Geringsten vorhatte, zu flüchten. Er war sogar erfreut, sie anzutreffen. Ike lächelte und breitete seine Arme feierlich auseinander, als würde er alte Freunde treffen.
„Hallo Kinder. Tja, so sieht man sich wieder. Was für ein Zufall aber auch“, grinste er. „Sagt mir einfach nur wo Bugsy ist. Dann lasse ich euch alle auch am Leben.“
Das überhebliche Grinsen entschwand aus den Gesichtern der Straßengang. Offenbar schien es der Holländer drauf ankommen zu lassen. Einen Augenblick hielt die Stille, wie kurz vor einem Revolverduell. Die Dark Crows blickten Ike finster an. Dann holte der Mann mit der braunen Schirmmütze ein Springmesser hervor und ließ die Klinge aufschnellen.
„Das war gar nicht witzig, Holländer. Du sitzt nämlich ganz schön in der Patsche, mein Freund“, sprach er mit monotoner Stimme und blickte ihn dabei stechend an. „Scheinbar hast du nicht ganz kapiert, wer wir sind. Jetzt machen wir dich wirklich fertig!“
Ike griff blitzschnell in seine Innentasche, zog seine EM23 heraus und knipste einen nach dem anderen förmlich aus. Jeder Schuss war ein Treffer. Ein beinahe geräuschloses Zischen drang aus der Schalldämpfermündung, wobei ihre Körper augenblicklich taumelnd zu Boden fielen. Zuletzt ging er auf den Kettenmann zu, der diesmal aber stattdessen ein Springmesser in seiner Hand hielt, und hielt ihm den Pistolenlauf gegen seine Stirn. Völlig perplex ließ er das Messer aus seiner Hand gleiten und erstarrte. Das Springmesser fiel klirrend zu Boden.
„Du siehst, ich scherze nicht! Also, raus mit der Sprache! Wo ist Bugsy? Sage es … Sag es sofort!“, brüllte Ike ihn an und drückte ihm den Pistolenlauf fester gegen die Stirn.
Der Bursche schlotterte vor Angst und hob langsam seine Hände. Dass der Holländer dermaßen skrupellos war und am helllichten Tag einfach fünf Leute auf einmal erschießen würde, damit hätte er niemals gerechnet. Weshalb auch? Eine normale Schusswaffe macht schließlich einen lauten Knall und in kürzester Zeit wären Streifenpolizisten erschienen.
Der Schurke schluckte. Schielend blickte er auf den kalten Pistolenlauf, der gegen seine Stirn drückte. Ist es überhaupt eine Schusswaffe, fragte er sich. Gibt es etwa neuerdings Revolver ohne eine Munitionstrommel? Schüsse hatte er auch keine gehört und dennoch lagen seine Komplizen regungslos auf dem Boden. Er glaubte, dass seine Kumpane tot wären.
„D-das wird dir nichts nützen, Holländer. I-ich muss dich zu ihm bringen. Nur-nur ich kann es tun. Ehrlich!“, stotterte er. „Bring mich nicht auch noch um!“
Ike nickte. „Na, dann los. Beweg deinen Arsch und führe mich zu Bugsy. Jetzt gleich, Freundchen!“
Der Bursche mit der braunen Schirmmütze begleitete Ike schließlich zu einem Gittertor, durch einen schmalen Gang hindurch, der hinter die Mauer zu einem weiteren Hinterhof führte, und zeigte widerwillig auf den Balkon in der vierte Etage des Hochhauses. Ein schwarzes Handtuch hing dort über der Balkonbrüstung. Dies wäre das Zeichen dafür, dass Bugsy Zuhause wäre, versicherte er. Aber er würde niemals die Tür öffnen, solange nicht das abgemachte Zeichen ertönen würde. Er steckte die Finger in seinen Mund und pfiff dreimal hintereinander.
„Jetzt denkt er, ich bin es, der hinauf kommt“, erklärte er kleinlaut.
Ike nickte, zog das Magazin der EM23 aus dem Haltegriff heraus, deaktivierte den Betäubungsschussmodus und tippte mit dem Daumen auf den Sensor, bis ein gelbes Lämpchen leuchtete. Er ließ das Magazin wieder einrasten und lud durch. Jetzt war die Schusswaffe wirklich mit tödlichen 9mm Geschossen geladen.
„Okay. Geh zu deinen Kumpels, die werden bald erwachen und tierische Kopfschmerzen haben. Die sind schließlich mit ihren Schädeln hart aufgeschlagen. Wagt es aber ja nicht, mir zu folgen, denn ab jetzt mache ich keinen Spaß mehr!“
Ike stopfte ihm die Pistolenmündung in seinen Rachen, stieß ihm die Schirmmütze vom Kopf, packte grob an seinen Haaren und zerrte seinen Kopf nach hinten. Der Kettenmann ohne Kette ging auf die Knie und röchelte, während Ike ihm den Pistolenlauf etwas tiefer in seinen Rachen schob.
„Ich warne dich! Ich könnte dir jetzt dein dummes Hirn aus deinen verdammten Schädel pusten, sodass es wie Hackfleisch über den Hof spritzt. Ich werde euch alle in Stücke reißen, falls ihr mir folgt! Und jetzt hau ab und kümmre dich um deine beschissenen Leute, hast du mich verstanden?!“, fauchte Ike bedrohlich.
Der Kerl blickte ihn völlig verängstigt und entsetzt zugleich an, während der Pistolenlauf der EM23 in seinem Mund steckte. Er konnte nur gurgelnde Geräusche von sich geben, wobei er mit weit geöffneten Augen panisch nickte. Dann ließ Ike ihn los und verpasste ihm noch einen kräftigen Arschtritt.
„Hau ab, du Milchbubi. Mach, dass du wegkommst, bevor ich`s mir anders überlege und doch noch Rache an dir verübe. Legt euch nie wieder mit dem Holländer und Bob McMurphy an, rate ich euch allen!“
Der Kerl wusste gar nicht, wie ihm geschah. Solch eine brutale Vorgehensweise hatte er noch nie erlebt. Er blickte Ike völlig entsetzt an. Was hatte er nur damit gemeint? Etwa, dass seine Kollegen noch leben und gar nicht tot waren? Aber er hatte es doch selbst gesehen, wie sie erschossen wurden und stumm umfielen. Ohne weiter darüber nachzudenken, schnappte er sich seine Schirmmütze vom Boden und sprintete einfach davon, wobei er sich aber mit regelmäßigen Schulterblicken vergewisserte, dass dieser wahnsinnige Holländer ihn nicht verfolgte. Ganz bestimmt würde er nicht mehr wiederkommen. Gewiss würde er sich nie wieder mit dem Holländer anlegen wollen. Jetzt musste Bugsy selber zusehen, wie er mit diesem wahnsinnigen Killer fertig werden würde, dachte er sich.
Ike musterte das Hochhausgebäude und überlegte. Eine Feuerwehrleiter führte mindestens 50 Meter hinauf auf das Flachdach, aber als eine alte Frau die Haustür öffnete und mit ihren hölzernen Krücken langsam heraushumpelte, schlüpfte er einfach grüßend hindurch.
Das Treppenhaus war düster und es roch modrig; die Treppenstufen knarrten bei jedem Schritt und der Putz war teilweise von den Wänden abgebrochen. Die Haustüren waren hellhörig, Stimmen drangen aus allen Wohnungstüren heraus. Als Ike den Hausflur der dritten Etage betrat, vernahm er das Geschrei einer Frau, die offensichtlich von ihrem Ehemann verprügelt wurde.
In jeder Etage befand sich am Ende des Hausflurs ein enger Raum, eine kleine Toilette für das gesamte Stockwerk. Dies wurde ihm klar, als er im 3. Stockwerk hinter solch einer Türe hörte, wie jemand die Toilettenspülung zog. Mit zügigen Schritten bezwang er die Treppenstufen, bis er schnaufend die vierte Etage erreichte. Wieder griff er sich in die Bauchseite. Verdammtes Seitenstechen.
Im vierten Stockwerk angekommen war es zuerst still, dann vernahm er das permanente Geplärre eines Säuglings und ein aggressives Hundegebell, als er an einer Wohnungstür vorbeiging. Er nahm seine Schirmmütze ab und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Ike sah auf den Knauf der dritten Haustüre. Das Schutzblech an der Türzarge war beschädigt, scheinbar hatte man hier einen Einbruch beabsichtigt. Nirgendwo waren Namensschilder angebracht, nur Hausnummern, aber Ike vermutete, dass dies die richtige Wohnung war. Hier könnte Bugsy eventuell hausen, weil seine Feinde bei ihm vielleicht einbrechen wollten, um mit ihm abzurechnen. Zudem leuchtete das Signal seines Füllfederhalters permanent rot was zugleich bedeutete, dass sich seine Taschenuhr genau hinter dieser Tür befand.
Nachdem Ike energisch gegen die Tür geklopft hatte, klackerte nach einer gewissen Zeit der Verschluss und es öffnete zaghaft eine dickliche Frau lediglich einen Spalt. Eine Türkette sicherte vor dem Eindringen. Ihr ergrautes Haar war zu einer Zopfschnecke gebunden, darüber hatte sie ein Haarnetz gespannt. Völlig verdutzt schaute sie ihn an.
„Wer-wer sind Sie? W-was wollen Sie von uns? Mein Mann ist nicht zu Hause. Ich glaube, der ist schon lange tot“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Verzeihen Sie, Ma'am, aber ich wollte eigentlich Mister Glover sprechen. Mister Benjamin Glover. Bin ich hier richtig?“, fragte Ike behutsam.
Er sah es der übergewichtigen Frau in ihrem runden Gesicht an, dass sie ängstlich war. Zudem machte die beleibte Frau einen verwirrten Eindruck auf ihn. Sogleich zweifelte Ike, dass er an der richtigen Tür geklopft hatte. Es müsste vielleicht die nächste Haustür sein, oder die gegenüberliegende Tür.
Ihre großen dunklen Augen musterten ihn durch den Türspalt bevor sie zögernd antwortete.
„W-was wollen Sie denn von ihm? Sind Sie etwa von der Polizeibehörde? Mein Sohn hat nichts Unrechtes getan! Er ist ein braver Junge!“, fuhr sie ihn empört an. Dann schlug sie die Tür zu.
Einen Moment tat sich gar nichts, doch dann entriegelte sie gegen seine Erwartung plötzlich die Türkette und öffnete. Nun stand diese dicke Frau genau vor ihm.
In diesem Moment erblickte Ike ihn … Bugsy. Er stand mitten in der Wohnküche, völlig überrascht, nur bekleidet mit einer braunen Cordhose, einem ärmellosen Unterhemd und Hosenträger. Er trug dieselbe grau karierte Schirmmütze, wie in jener Nacht. Ebenso blickte er finster drein und sein flaumiger Oberlippenbart ließ ihn eher jugendlich, anstatt männlich erscheinen.
„Mutter, bist du denn total bescheuert, schon wieder einfach so die Tür aufzumachen?! Das ist doch gar nicht Freddy!“, brüllte er wutentbrannt.
Beide Männer rannten zugleich los. Bugsy flüchtete in ein Zimmer und Ike stürmte hinterher. Er erwischte ihn in letzter Sekunde, wie der Ganove vor seinem Schlafzimmerschrank kniete und in der Schublade nach einem Revolver griff. Ike packte seine Arme und warf sich mit ihm auf das Bett. Sie rangelten miteinander.
Mit kraftverzerrtem Gesicht versuchte Bugsy den geladenen Revolver entgegen zu halten, ihm genau auf den Kopf zu zielen, aber es war zwecklos. Ike war diesmal nicht betrunken, stattdessen ihm kraftmäßig weit überlegen. Ike quetsche seine Hand gegen die Bettkante – Bugsy ächzte und ließ den Revolver fallen.
„Beruhige dich, Junge. Beruhige dich endlich! Ich werde dir nichts tun!“, schrie Ike ihn in der Hektik des Gerangels an. „Ich werde dir nichts tun! Hör jetzt verdammt noch mal auf, dich zu wehren!“
Bugsy wehrte sich trotzdem zähnefletschend – Er wollte keineswegs aufgeben –, aber Ike konnte ihn letztendlich überwältigen.
„Benjamin … Um Himmels willen!“, rief die beleibte Frau entsetzt. „Was ist denn hier los?“
Die Mutter war sogleich erschienen und hielt erschrocken ihre Hand vor dem Mund, als sie diesen Fremden auf ihren Sohn hocken und den Revolver auf dem Boden liegen sah. Zudem lagen von Beiden ihre Schirmmützen auf dem Boden.
„Benjamin, mein lieber Junge. Soll ich die Polizei rufen? Ich glaube, dass ich die Polizei rufen sollte.“
„NEIN, KEINE BULLEN!“, brüllte Bugsy energisch, aber lächelte sogleich gekünstelt und schnaufte einmal durch, während er gefechtslos mit ausgebreiteten Armen auf seinem Bett lag, während Ike auf ihm hockte.
„Nein“, wiederholte er mit lieblicher Stimme, wobei er seine entsetzte Mutter schelmisch anlächelte. „Wirklich nicht nötig, Mutter, die Polizei zu rufen. Das ist doch nur Mister, ähm ... Wir sind gute alte Freunde und balgen nur ein wenig, weil wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben. Verstehst du? Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Wir-wir machen nur Spaß miteinander“, lächelte er. „Geh und mach irgendwas in der Küche. Ich hab dich doch ganz lieb, das weiß du doch.“
Die dicke Frau blickte ihn sekundenlang entsetzt an.
„Wirklich?“, entgegnete sie ihm mit großen Augen entsetzt. „Ja aber … Der Mann will dich doch verhaften“, sagte die Mutter verwundert.
Bugsy blickte Ike mit seinem charmanten Ganovenblick lächelnd an, woraufhin Ike nickte.
„Nein, Misses Glover. Ich bin nicht von der Polizei. Wie Ihr Sohn es schon sagte … Wir sind nur alte Bekannte. Sobald ihr Sohn mir meine Taschenuhr wieder zurückgegeben hat, bin ich auch schon wieder verschwunden.“
Mrs. Glover machte einen äußerst verwirrten Eindruck auf ihn. Sie runzelte die Stirn, wandte sich wortlos ab und verschloss die Zimmertür hinter sich.
Bugsy versuchte selbstverständlich zu lügen und erzählte einfach, dass er die Taschenuhr gar nicht mehr besitzen würde. Diese sei längst verhökert worden und er wisse auch nicht mehr an wen, behauptete er schulterzuckend und lächelte dabei mit einem unschuldigen Blick.
„Tut mir leid, Holländer. Was weiß ich, an wen ich sie verkauft habe. Ich verscherbele ständig irgendwelche Dinge an Leute.“
Aber Ike erklärte ihm unmissverständlich, wenn er seine Taschenuhr nicht augenblicklich freiwillig herausrückt, dass er es bitter bereuen wird. Ike betonte, er wisse es hundertprozentig, dass sich seine Taschenuhr hier in dieser Wohnung befindet. Es wäre also seine Entscheidung; entweder übergibt er seine Uhr freiwillig, oder er würde ihn und seine Mutter fesseln und knebeln, die Wohnung komplett auf den Kopf stellen und seine Taschenuhr letztendlich sowieso finden. Daraufhin spitzte der Ganove nachdenklich seinen Mund und nickte dabei stetig, weil Ike äußerst überzeugend wirkte. Bugsy war schließlich ein Schurke und wusste genau, wer die Wahrheit sagte oder nur bluffte. Lug und Betrug bestimmte sein bislang junges Leben und damit verdiente er seinen Lebensunterhalt.
Von einem Muskelmann gefesselt und geknebelt zu werden, dieses Argument überzeugte Bugsy schließlich. Aber insgeheim grübelte er, wie es sein kann, dass der Holländer sich offenbar absolut sicher war, dass sich diese verdammte Taschenuhr tatsächlich in seiner Wohnung befand? Bugsy kramte widerwillig in der Schublade seines Nachtschränkchens herum und überreichte ihm anstandslos seine Taschenuhr. Dann saßen sie stumm nebeneinander auf seinem Bett und starrten sich gegenseitig feindselig an.
Der Holzofen knisterte. In seinem kleinen Zimmer herrschte eine Bullenhitze und durch die beschlagene, verglaste Balkontüre erblickte Ike das schwarze Handtuch auf der Balkonbrüstung.
Ike sah kurz rundherum. Auf seinem Nachttisch stand eine eingerahmte Sepia-Fotografie, darauf ein Herr mit Zylinderhut und einem buschigen Walrossbart, gemeinsam mit einem Jungen in kurzer Hose und Hosenträger zu sehen war. Vater und Sohn, schlussfolgerte Ike. Daneben lag eine Bibel und ein Kruzifix hing direkt über seinem Bett.
„Und jetzt?“, fragte Bugsy frech. „War das etwa alles? Ich dachte du verlangst nach Rache und willst mich erledigen. Nur wegen dieser beschissenen Uhr hast du so einen Zinnober veranstaltet? Du hast sie doch wohl nicht mehr alle. Ich will ehrlich zu dir sein, Holländer, und sage es dir mitten ins Gesicht. Für diese Scheiße hier wirst du mir bitter büßen!“
Bugsy schnieft und rieb sich mit dem Handgelenk seine Nase, während er ihm stechend in die Augen schaute. Er schien ein knallharter Ganove zu sein, ohne Furcht und Gewissen und der Tod schien ihn ebenso nicht sonderlich zu beindrucken.
Ike blickte ihn einen Moment verblüfft an, dann prustete er.
Was für ein unverfrorener Bursche er doch war und zudem war er der Erste, der ihn umgehauen hatte und ihm jetzt obendrein sogar dreist drohte, obwohl Ike ihm körperlich überlegen war. Diesen Mut respektierte Ike. Bugsy war ein schmächtiges Kerlchen mit einer großen Klappe, aber er war charismatisch und offensichtlich klug. Schließlich war er ein Bandenchef, den jeder im Stadtviertel kannte und vor dessen Name sich in Belfast jedermann fürchtete.
Ike musterte ihn. Auf seinem rechten Oberarm entdeckte er eine verschwommene Tätowierung. Eine Krähe, die ihre Flügel ausbreitete und dabei war, davon zu fliegen. Ihre Klauen rissen dabei ein Kreuz aus einem Grab, darauf geschrieben stand: Warrior of Belfast.
„Was ist? Was glotzt du mich denn so an, Holländer? Entweder erledigst du mich jetzt, oder verschwindest einfach mit deiner beschissenen Uhr und lässt mich in Ruhe. Aber sei dir gewiss, dass ich dich irgendwann auf der Straße erwische. Und dann mach ich dich aber richtig fertig und nicht nur so halbherzig, wie beim letzten Mal!“, drohte er überheblich.
Ike begriff, wenn er dieses Kaliber handzahm machen wollte, musste er es clever angehen. Rache würde nur Gegengewalt auslösen, aber trotzdem musste er ihm klar machen, dass er der Stärkere, der Mächtigere war.
„Hör mir genau zu, Freundchen. Ich nehme es dir nicht mehr für übel, dass du mich und Bob überfallen hast. Du hattest nur einen Auftrag erledigt und diesen sehr gut ausgeführt“, nickte Ike anerkennend. „Aber jetzt will ich, dass du für mich arbeitest und mir diese Schweinehunde aushändigst, die dich beauftragt haben. Kapiert?“
Bugsy lachte dreckig, aber verstummte augenblicklich und blickte sogleich wieder finster drein. „Du hast überhaupt keine Ahnung, Holländer. Ich verrat dir mal was. Die sind noch lange nicht mit dir fertig! Die haben mir schon den nächsten Auftrag erteilt, dich fertig zu machen, und haben sogar bereits gezahlt“, grinste er.
„Wie viele sind sie?“, fragte Ike nachdrücklich. „Und, wer sind die überhaupt?“
Bugsy verzog seinen Mund, zuckte mit der Schulter und meinte, dass nur ein untersetzter dicklicher Typ, mit einem Schnurbart mit ihm verhandeln würde, im Beisein eines weiteren Dicken. Immer seien sie fein angezogen und sehen souverän aus, sagte er. Im Hintergrund aber habe er weitere zwei solche feine Pinkel beobachtet, von denen er vermutete, dass sie dazu gehören. Diese Aussage half Ike nicht unbedingt weiter, denn solch eine Beschreibung traf auf vielen männlichen Akteur zu, jedoch nicht auf Menschen aus der Zukunft und schon gar nicht auf Eric. Aber er glaubte ihm.
Ike hielt Bugsy keineswegs für dumm oder zu ängstlich, weil er bereitwillig aussagte. Sondern Ike hielt ihn für dreist genug, dass er die Wahrheit sagte. Dieses Kerlchen zeigte keinerlei Anzeichen von Angst. Dies war ein junger Mann nach seinem Geschmack; er war mutig und vor allem käuflich, er war das Oberhaupt einer gefürchteten Straßengang und hatte somit Connection zur Unterwelt. Die Dark Crows hatten offensichtlich Kontakte mit dem gesuchten TT geknüpft, davon war Ike überzeugt. Bugsy war also der einzige Mensch in diesem Jahrhundert, der ihn zu ihnen führen konnte.
Doch Vincenzo hatte ihm berichtet, dass Benjamin Glover in der Silvesternacht des Jahres 1910 sterben würde. Also in knapp zwei Wochen. Die Umstände und zu welchem genauen Zeitpunkt dies geschehen würde, war jedoch nicht zu recherchieren. Nur, das Glover von seiner Mutter auf dem Belfaster Milltown Friedhof sogar in einem kostspieligen Mausoleum beerdigt wurde, und knapp eine Woche später würde sie selbst sterben. Wie, konnte Vincenzo ebenso nicht herausfinden.
Diese Tatsache ergab für Ike aber wenig Sinn und klang widersprüchlich. Schließlich wurde er von Inspector Gardner aufgeklärt, dass man eine Grabstätte auf dem katholischen Friedhof in Belfast nur zugesichert bekommen würde, wenn das nötige Kleingeld auch vorhanden wäre. Aber weder war Bugsy vermögend noch traute er seiner verwirrten Mutter es zu, dass sie eine derartige Bestattung bezahlen, beziehungsweise organisieren könnte, die gewisse Behördengänge abverlangten. Die Dark Crows waren doch nur Kleinganoven, die nachts in dunklen Gassen auf besoffene Herren lauerten, um sie schließlich zusammenzuschlagen und dann zu rupfen, wie sie es nannten.
Um ein Treffen mit den Saboteuren der Weltgeschichte zu arrangieren, blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn es Ike gelingen würde, diese unbekannten TT`s auf einen Schlag zu eliminieren, wäre die Belfast Mission so gut wie erfolgreich abgeschlossen.
Bugsys erster Auftrag sollte ihm lediglich einen Denkzettel verpassen und ihm zum Aufgeben zwingen, aber nun trachteten die Unbekannten offensichtlich ernsthaft nach seinem Leben. Doch wie könnte Ike bloß diesen skrupellosen Kerl dazu bringen, dass er ab sofort für ihn und somit gegen seinen Auftraggeber arbeiten sollte?
Ike öffnete sein Portemonnaie und blätterte wortlos 50 englische Pfund auf seine Matratze, wobei er überzeugt war, dass Bugsy dieser Betrag überzeugen würde. Aus Bugsys gespitzten Mund entwich zwar ein anerkennender Pfiff, wobei er wiedermal frech grinste, aber Ike überkam sogleich das merkwürdige Gefühl, dass der Ganove ihn mit seinem Gehabe nur auf die Schippe nehmen wollte.
„Fünfzig verdammte englische Pfund … Mein lieber Scholli. Nicht schlecht“, grinste Bugsy schelmisch. „Aber meine Arbeitgeber waren doch etwas großzügiger als du.“
Nachdem Bugsy unter seinem Bett eine Ledertasche herausgeholt und ein beachtliches Bündel Geldscheine auf das Bett gelegt hatte, blickte Ike auf 20.000 amerikanische Dollars.
Bugsy hatte das Geld dafür einkassiert, weil er seinem Arbeitgeber zehn Schrotflinten besorgt hatte und dieser behauptete, dies wäre nur die Anzahlung und er würde weitere 20.000 Dollar erhalten, wenn er genügend Munition beschaffen könnte. Der Termin für die Übergabe stünde aber noch nicht fest.
„Weshalb also sollte ich für dich arbeiten, Holländer? Die Herrschaften zahlen doch anständig. Keine Ahnung, was die mit den vielen Ballermännern vorhaben. Vielleicht einen Bürgerkrieg, wegen diesem beschissenen Home Rule Bill? Die bescheuerte Politik schert mich einen Dreck! Ich kümmere mich nur um mich selbst!“, fauchte der Ganove wütend. „Falls sie aber mit diesen Knarren nur dich beseitigen wollen … Junge, Junge, dann würde ich an deiner Stelle aber ganz schnell das Weite suchen“, meinte er vorwitzig. „Auf alle Fälle sind die mächtig sauer auf dich, so viel steht fest. Also, weshalb sollte ich die Fronten wechseln und ab sofort für dich arbeiten? So viel Schotter kannst du sowieso niemals beschaffen“, sagte er abfällig.
„Weil ich dein Leben retten und dir zur Flucht verhelfen kann, du verdammter Narr“, erwiderte Ike sogleich. Bugsy begriff nicht sofort, was er meinte.
„Wie meinst du das, dass du mich retten könntest? Ich bin auf der mächtigeren Seite, Holländer. DU bist derjenige, der gründlich Hilfe benötigt! DU bist derjenige, den sie am Arsch kriegen wollen!“, konterte er verbissen.
Ike schmunzelte und blickt ihn einen Moment nur wortlos an, bevor er antwortete.
„Versuch mir doch nicht weiszumachen, du beabsichtigst in der Tat die 20.000 Dollar unter deiner Matratze mit deinen dämlichen Kollegen fifty-fifty zu teilen. Die noch ausstehenden Zwanzigtausend sind dir im Grunde scheißegal. Du willst dich mit den zwanzig Riesen jetzt aus dem Staub machen und ich kann es für dich arrangieren.“
Bugsy war über seine Schlussfolgerung sehr überrascht und gab schließlich zu, dass er tatsächlich mit all dem Geld unter seiner Matratze klammheimlich nach Amerika abhauen und sich ein neues Leben aufbauen wollte. Sobald er Fuß gefasst hätte, wollte er sogar seine kranke Mutter nachholen, beteuerte er.
Während Bugsy zwei Zigaretten drehte, schwelgte Ike in Erinnerung und dachte dabei an seine eigene Mutter. Die Tatsache, dass dieser Kleinganove letztendlich nicht nur an sich, sondern auch an seine Mutter dachte, daraufhin empfand Ike eine gewisse Sympathie für ihn.
Bugsy war im Grunde nur ein gerissenes Schlitzohr, der seinen eigenen Weg kompromisslos durch das harte Leben schlug. Er arbeitete für jeden der gut bezahlte, und sei es ein Politiker oder Gesetzeshüter oder für einen Staatsanwalt, der ein Geständnis erzwingen wollte. Nichtsdestotrotz war Bugsy ein Verbrecher, dem man vorerst nicht trauen konnte. Ike appellierte dennoch an seinen Verstand und versuchte ihn zu überzeugen, dass er ihm helfen könnte.
Trotzdem lehnte Bugsy seinen Vorschlag entschieden zurück, denn er sah sich durchaus in der Lage, auch ohne seine Hilfe auszukommen. Bugsy besaß zurzeit 20.000 Dollar, für ihn war es ein wahres Vermögen. Er traute dem Holländer nicht, der ihm angeblich zur Flucht verhelfen könnte, zumal Bugsy ihn brutal zusammengeschlagen hatte und er immer noch dachte, dass Ike sich an ihn rächen wöllte, indem er ihn irgendwie ausliefern würde. Vielleicht arbeitete der Holländer ja für die Polizei und sei ein Spitzel, dachte Bugsy.
Während beide rauchten und sich entspannt unterhielten, schien Bugsy langsam ein gewisses Vertrauen ihm entgegen zu bringen.
Bugsy schwärmte vom gelobten Amerika und meinte, dass er es nicht abwarten könne, dem verfluchten Irland Lebewohl zu sagen. Die Aufträge würden in absehbarer Zeit sowieso zurückgehen, schuld daran wäre nur die Politik, dieser beschissene Home Rule Bill, meinte er. Dann schlagen sich nämlich alle gegenseitig die Köpfe ein und die Herrschaft der Straßen würde dann dem Mob gehören. Niemand würde dann seine Dienste noch in Anspruch nehmen wollen, weil dann ein Bürgerkrieg und die pure Anarchie herrschen würde. Zudem offenbarte der Zwanzigjährige ihm offenherzig seinen ausgetüftelten Fluchtplan, wobei Ike aber verbissen sein Schmunzeln zu verbergen versuchte.
„Holländer, ich beabsichtige noch ein bisschen abzukassieren, bis dieser neue Kahn fertig ist: Die Titanic. Dann kaufe ich mir ein Ticket und fahre mit der Ersten-Klasse stilvoll nach Amerika. Und mal schauen, wen ich auf diesem Schiff dann geschickt rupfen kann. Ich bin nämlich ein sehr talentierter Taschendieb, der die reichen Arschlinge ohne dass ich sie verhauen muss, ausrauben kann. Verstehst du? Dort werden nämlich die vermögendsten Leute an Bord gehen. Irgendeinen bekloppten reichen Heini werde ich schon die Hosen runterziehen können, ohne dass er es überhaupt merkt“, bekundete er zuversichtlich.
Ike aber lachte laut auf.
„Du bist ein Narr! Bis die Titanic erst vom Stapel läuft, wirst du schon längst unter der Erde liegen. Glaubst du etwa, deine Freunde ahnen nicht, was du im Schilde führst? Sie beobachten dich längst, schließlich besitzt du ihren Lohn, und sie werden hier einbrechen, dich dann umbringen, deiner Mutter den Schädel einschlagen und das Vermögen unter deiner Matratze werden sie sich untereinander aufteilen. Zudem hast du deine Auftraggeber auf den Fersen, die äußerst skrupellos sind. Du bist so gut wie tot, mein Freund! Abgesehen davon würden deine lächerlichen zwanzigtausend Dollar nicht annähernd für eine First-Class-Ambiente ausreichen, so wie du es dir vorstellst. Jedenfalls nicht auf der Titanic. Ich arbeite dort, wie dir mittlerweile bekannt ist. Ich weiß Bescheid.“
„Vierzigtausend Dollar“, verbesserte ihn Bugsy sogleich mit funkelnden Augen. „Vierzig Riesen wären es, die ich einsacken werde, mein Lieber. Sobald ich die Munition übergeben habe. Und das reicht dicke für ein First Class Ticket. Selbst für die verdammte Titanic. Verscheißern lasse ich mich noch lange nicht von dir. Ich glaube dir kein Wort. Du versuchst mich doch nur einzuschüchtern!“
Ike schmunzelte und schüttelte mit dem Kopf. „Wenn du mit den Reichen auf der Titanic mit deinen lächerlichen 40.000 Dollars gemeinsam pissen willst, wirst du in New York mit heruntergelassenen Hosen bettelarm das Schiff wieder verlassen. Garantiert. Und dann wirst du wieder ein Habenichts sein.“
40.000 Dollar, wie fantastisch sich dies für Bugsy anhörte. Unglaublich, er fühlte sich wie ein Millionär. Obwohl dieser Deal noch gar nicht vollzogen war und Bugsy das restliche Geld noch nicht erhalten hatte, fühlte er sich wie der Größte. Und Ikes Vermutung stimmte. Bugsy beabsichtigte seine Straßengang abzuzocken und aus Irland mit dem Vermögen abzuhauen.
„Du willst diesen Deal also tatsächlich durchziehen und dabei riskieren, dass man dich vorher abmurkst, obwohl bereits 20.000 Dollar unter deiner Matratze schlummern? So dumm hätte ich dich jetzt nicht gehalten“, sagte Ike. „Aber wie auch immer, du kleiner Klugscheißer. Du beabsichtigst also, deinem Arbeitgeber die Munition zu übergeben, weitere Zwanzigtausend einzukassieren und dann mit dem gesamten Schotter durchzubrennen?“, fragte Ike, woraufhin Bugsy entschlossen nickte, während er seine Zigarette rauchte.
„So ist es, Holländer. Ich will vierzigtausend Dollar, und nicht nur die Hälfte, denn ich kann die Munition besorgen. Meine Kollegen sind sowieso allesamt nur Idioten, die ich hinhalten kann, denn sie vertrauen mir.“
„Also gut. Dann muss deine List aber unbedingt vorab organisiert werden, das heißt, deine Koffer müssen bereits gepackt sein und dein Ticket hast du schon sicher in der Tasche. Nach dem Deal mit der Munition musst du dann sofort verschwinden. Sofort! Hast du das kapiert? Ich besorge dir ein Ticket zweiter Klasse auf der Mauretania oder Lusitania. Diese Schiffe überqueren von Queenstown regelmäßig den Nordatlantik und …“
„Nein, nur Erste Klasse!“, lenkte Bugsy nachdrücklich ein. „Ich reise im großen Stil oder gar nicht. Alles andere ist meiner unwürdig“, meinte Benjamin Glover großkoztig.
Ike kapierte, dass Bugsy zwar bereitwillig war ihm zu dienen, aber er hatte gewisse Ansprüche und versuchte so hoch wie möglich zu pokern.
„Na schön, hör zu. Ich biete dir an, diesen Deal durchzuziehen, um die Vierzig Riesen einzukassieren, wobei du mit meinen Personenschutz rechnen kannst. Aber wie gedenkst du dich für die Erste Klasse zu kleiden, Mister Großkotz?“, fragte Ike spöttisch.
Bugsy blickte ihn verdutzt an.
„Wow, du würdest mir die ganze Kohle überlassen und keinen Penny verlangen? Das nenne ich großzügig. Der HERR wird dich für deine Bescheidenheit segnen, Holländer“, grinste er frech.
Bugsy breitete leicht seine Arme aus, demonstrierte somit seine Kleidung, damit er reisen würde und lächelte dabei wie ein Spitzbube. Er blinzelte, weil der Zigarettenrauch in seinen Augen biss.
„So etwa? Nur mit einer schmuddeligen Bekleidung denkst du, in der Ersten Klasse einchecken zu können? So gedenkst du, dich auf einem Luxusdampfer der Gesellschaft zu präsentieren?“, fragte Ike hohnlachend. „Ich bitte dich, Freundchen. Mit dieser schlampigen Aufmache lassen sie dich allerhöchstens auf einem Fischkutter einchecken. Pass auf, ich habe einen Plan“, sagte Ike.
„Nachdem du abkassiert hast, schicke ich dich auf die Mauretania. Die Mauretania ist zurzeit das luxusseriöseste und zudem schnellste Schiff der Welt. Meinetwegen First Class. Ich organisiere dir das Ticket und bezahle es sogar. Und ich verspreche dir, dass ich deine Mutter zwischenzeitlich beschützen werde. Ihr wird nichts geschehen, das schwöre ich dir bei meinem Leben. Was sagst du dazu?“
Ike versicherte ihm, seine Flucht professionell zu managen. Als Gegenleistung verlangte er nur, dass Bugsy ein Treffen mit seinen Auftraggebern an einem bestimmten Ort am Hafen vereinbaren sollte, damit er sie aus dem Hinterhalt erwischen könnte. Bugsy zog seine Schirmmütze ab und kratzte sich am Kopf. Der Holländer war offensichtlich nicht an dem Geld unter der Matratze interessiert, vielmehr hatte er ihm versprochen, dass er ihn auf einen Luxusdampfer bringen und obendrein neu einkleiden würde, bis er wie ein wahrer Gentleman aussehe und der First Class Gesellschaft würdig sein würde.
Bugsy kniff seine Lippen zusammen, nickte stetig und grübelte. Dies war ein äußerst verlockendes Angebot. Was hatte er schon großartiges zu verlieren? Sein Traum von der angepriesenen Titanic war zwar geplatzt, aber die Erste Klasse auf dem Schiff Mauretania bedeutete ebenfalls der feinen Gesellschaft zuzugehören. Dies war für den jungen Burschen schließlich akzeptabel. Bugsy erwachte sowieso jeden Morgen ohne zu wissen, ob er am selben Abend noch atmen und lebendig sein würde. Plötzlich öffnete seine Mutter die Zimmertür und platzte herein.
„Benjamin, mein lieber Junge. Was möchtest du zu Mittag essen?“, lächelte sie.
Im Hintergrund brutzelte es und der appetitliche Duft von Rührei mit Speck drang herein. Das Mittagessen war bereits angerichtet. Bugsy verdrehte die Augen und schüttelte mit dem Kopf. Er fasste an ihren Schultern und drückte sie wieder hinaus.
„Mutter, weißt du es nicht mehr? Wir hatten bereits zu Mittag gegessen. Vorhin! Ich bin satt. Wir beide sind satt, weil wir schon gegessen haben!“, schnauzte er.
Seine Mutter blickte ihn nur verdutzt an.
Dann schmiss er die Tür hinter sich zu, lehnte seinen Kopf dagegen und starrte zur Decke hinauf. Er seufzte und wirkte nachdenklich.
„Weißt du, Holländer“, sprach Bugsy kraftlos während er apathisch dreinschaute: „Meine Mutter tickt nicht mehr ganz richtig. Sie ist krank oder so was. Keine Ahnung, was mit ihr los ist. Früher war sie nie so. Früher war sie eine angesehene Frau, die von allen Nachbarn respektiert wurde. Jeder kam mit ihren Sorgen zu ihr, weil sie immerzu Trost spenden konnte und einen klugen Rat parat hatte.“ Er lächelte kurz und schwelgte in Erinnerung. „Früher war sie der Chef im Haus, hatte alles unter Kontrolle. Selbst meinen Vater, der gerne mal einen Schnaps trank. Aber er liebte sie abgöttisch. Nun aber vergisst sie ständig Dinge, die sie kürzlich erst gemacht hat. Ebenso erkennt sie meine Freunde nicht mehr wieder, die beinahe täglich bei mir vorbeikommen. Manchmal verwechselt sie mich sogar mit meinem Vater, obwohl der schon längst tot ist. Ist manchmal richtig unheimlich.“
Bugsy neigte seinen Kopf, blickte zum Boden und wirkte bekümmert. Dann richtete er sich wieder auf, schaute Ike an und lächelte verschmitzt. Seine Augen glänzten wieder. Nun war er wieder der Ganove, der ein gutes Geschäft witterte.
„Hey, Holländer. Dein Plan gefällt mir. Ich glaube, wir werden uns einig.“
Ike nickte. „Gut so, Benjamin. Das ist eine weise Entscheidung, mir zu vertrauen. Es wird dir und deiner Mutter das Leben retten.“
Plötzlich bauschte sich der schmächtige Bursche vor ihm wutschnaubend auf. Zorn verzerrte sein Gesicht.
„Hör zu, Holländer! Für dich bin ich immer noch der Bugsy! Merk dir das gefälligst!“, brüllte er aufgebracht.
Ike zuckte mit seinen Augenbrauen und nickte. Das war akzeptabel, damit konnte er leben.
„In Ordnung … Bugsy. Und ich heiße Mister van Broek. Merk dir das genauso.“
Bugsy blickte kurz zum Boden und starrte ihm sogleich wieder durchdringend in die Augen. „Dann wäre dies ja wohl geklärt, Mister van Broek.“
Wieder öffnete sich die Zimmertür. Mrs. Glover blickte ihren Sohn mit großen Augen apathisch an.
„Dein Rührei mit Speck wird doch kalt, mein Junge. Du hast heute den ganzen Tag noch nichts gegessen. Du musst doch hungrig sein“, sagte sie erregt.
Ohne eine Antwort von ihm zu erwarten, schloss die Mutter die Tür. Bugsy senkte kapitulierend seinen Kopf, setzte sich auf sein Bett nieder und seufzte.
„Ich will dir mal ein Geheimnis verraten, Mister van Broek. Meine Mutter ist harmlos, dies wissen meine Kameraden. Ihr würden sie niemals etwas antun, oder sie zu erpressen versuchen, weil es absolut sinnlos wäre, wie du siehst.“
Er nahm seinen Revolver und betrachtete diesen nachdenklich.
„Manchmal, ja manchmal denke ich … Ja, oftmals hatte ich daran gedacht, sie mit einer Kugel zu erlösen.“
Bugsy hielt einen Augenblick inne. Dann schaute er ihn an und grinste schelmisch. Ikes Fluchtplan gefiel ihm sehr. 40.000 amerikanische Dollars nur für sich alleine, zuzüglich neue Klamotten und eine Schiffsreise mit der Mauretania Erster Klasse nach Amerika. Bugsy lächelte verschmitzt, wie ein wahrer Ganove. Verfluchtes Irland lebe wohl.