Kapitel 44 – Der Drache
Es war stockfinster an diesem frühmorgendlichen Freitag und es regnete in Strömen. Es plätscherte, prasselte und rauschte permanent und manchmal, wenn ein Blitz aufzuckte, wurde die Waldlandschaft sekundenlang mit weißem Licht geflutet. Dann rumpelte es fühlbar durch die regenschweren Wolken, doch ein mächtiger Donnerschlag blieb aus.
Ike und Charles hockten auf dem Fuhrwagen nebeneinander und starrten vor sich hin. Beide waren mit dunklen Regenponchos bekleidet, diese vor Nässe glänzten. Sie hatten sich nicht einmal gegenseitig einen guten Morgen gewünscht. Gewöhnlich versuchte Ike den Morgenmuffel mit belanglosen Gesprächen oder Witzen etwas aufzuheitern, aber diesmal war ihm das gegenseitige Anschweigen nur recht.
In wenigen Stunden, noch bevor die Kirchturmglocken 12 Uhr Mittag schlagen werden, wird entweder sein Mörder oder er selbst in einem Leichensack von Queens Island weggetragen. Diese Tatsache war sehr beunruhigend, zumal Ike nicht den geringsten Verdacht hegte, wer ihn ermorden würde. Trotz dieser Gefahr, die ihm mit Gewissheit bevorsteht, dachte er aber hauptsächlich an Eloise. Denn schon am kommenden Mittwoch war sein Exit festgelegt worden, was ihn momentan sogar noch mehr beschäftigte, und falls nicht ein Wunder geschehen würde, müsste er sie für immer verlassen. Die Belfast Mission schien für Ike vorzeitig beendet zu sein, denn diesen Befehl hatte der Staatspräsident von United Europe, Hendrik Klaasen, bereits abgezeichnet und beglaubigt.
Der Regen prasselte unaufhörlich auf Ike und Charles nieder. Sie waren komplett eingeschnürt und ihre Gesichter blickten betrübt drein. Die Pferdehufen stampften auf dem matschigen Feldweg und zogen den Fuhrwagen unermüdlich hinterher.
Noch in derselben Nacht wurde das Trockendock geflutet und die Titanic wurde zum Ausrüstungskai bugsiert, damit die beschädigte Olympic im Trockendock repariert werden konnte. Die Schiffswerft Harland & Wolff konnte sich nicht nur damit brüsten, die größten Schiffe der Welt zu bauen, sondern zudem das größte Trockendock der Welt zu besitzen, welches schon im Jahre 1903 entworfen und rechtzeitig, speziell für die Olympic-Liner fertig gestellt wurde.
Die Titanic war zwar bereits mit kohlegefeuerten Doppelenderkesseln ausgestattet und die vier Schornsteine waren auch schon montiert worden, aber das Schiff befand sich teilweise noch in einem Rohbauzustand und konnte nicht eigenständig gesteuert werden. Die Schiffsschrauben sowie die monströsen Maschinenteile und die dazu nötige Elektrik fehlten, jedoch funktionierten seit einigen Tagen die aus Stahl gefertigten Schottentüren. Obwohl nun offiziell bekannt gegeben wurde, dass bei der Kollision neulich weder Wasser in den Frachtraum der R.M.S Olympic hineingeströmt war, noch Opfer zu beklagen waren, sollte der Funktionstest aller wasserdichten Schotten der Titanic trotzdem wie angeordnet durchgeführt werden. In der frühmorgendlichen Dunkelheit, noch bevor die Nachtschicht beendet war, hatte die Besatzung der Schlepperdampfer ihre Schiffe vorbereitet, um am Vormittag die Titanic mitten auf den Victoria Channel zu manövrieren.
Ike grübelte darüber nach, wie es den Saboteuren nur gelingen konnte, eine derartige Dienstanweisung durchzusetzen. Die bevorstehende Funktionsüberprüfung der wasserdichten Schotten war eindeutig das Resultat einer Zeitmanipulation, denn ursprünglich hatte diese gar nicht stattgefunden. Jedenfalls nicht mitten auf dem Victoria Channel.
Irgendjemand hatte es ermöglicht, die Entscheidung der Geschäftsführung zu beeinflussen. Das konnte eigentlich nur der UE-Geheimdienst durchführen. Befand sich in den hohen Rängen von Harland & Wolff etwa ein Schleuser, welcher bereits seit Jahren neben dem Werfteigner Lord Pirrie agierte und dessen Entscheidungen beeinflusste? Dann müsste es in der Sicherheitszentrale einen Verräter geben, einen sogenannten Maulwurf, somit wäre auch die reibungslose Ermordung von Benjamin Glover zu erklären.
Die unfertige Titanic zu bewegen, wobei Ike persönlich an Bord sein würde, war eine perfekte Falle für ihn, denn ein Zeitsprung auf ein fahrendes, fliegendes oder schwimmendes Objekt war nicht möglich, beziehungsweise viel zu riskant. Die Gefahr würde bestehen, dass der Zeitreisende nicht am vorgesehenen Platz auftauchen würde sondern einige Koordinaten daneben, dahinter, wohlmöglich im Wasser oder vielleicht würde er irgendwo in einer Maschine landen, woraufhin das Energiefeld des Zeitfensters erheblichen Schaden anrichten würde. Falls also die Vereitlung seines Mordanschlags misslingt, könnte ihm kein Agent zur Hilfe eilen. Und Schleuser Simon Barnes hatte ihn im Brief ausdrücklich gewarnt, wenn er dann getötet wird, dass es keine Möglichkeit gebe, dieses Ereignis wieder rückgängig zu machen.
Ike schaltete den Nachtsichtmodus ein und fokussierte seine Nickelbrille. Die Landschaft sah er grün schimmernd. Jeder Ast und jedes Lebewesen war genau zu erkennen. Etwas entfernt vor ihm leuchteten, wie zwei Taschenlampen, aus einem Gebüsch die Augen eines Fuchses hervor, der sogleich über das weite Ackerfeld davon flitzte. Selbst den herabströmenden Regen und der Dunst über den Wäldern waren mithilfe seiner Brille deutlich in der Finsternis zu sehen. In der Ferne erblickte er die Birkenbaumreihe und Aaron O’Neill, der trotz des strömenden Regens wiedermal einige Dosen aufstellte und diese fortkickte.
Charles starrte in die Dunkelheit und erst als sie die Birkenbäume erreichten, sprach er die ersten Worte, nachdem Aaron seine Arbeitstasche auf die Ladefläche abgestellt und aufgesprungen war.
„Guten Morgen miteinander!“, krakeelte Aaron putzmunter und boxte Charles übermütig gegen seinen Oberarm. „Mensch Leute, was habt ihr denn für ein Mistwetter mitgebracht!“
„Hast du’n Knall, du rothaariger Lulatsch? Ich sollte dir dafür den Hintern versohlen! Geh mir doch nicht schon in aller Herrgottsfrühe auf die Nerven!“, motzte Charles sogleich und rieb sich dabei seinen Oberarm.
Gewöhnlich maulte Charles frühmorgens nur etwas, machte aber dann doch Aarons Späße mit. Aber diesmal schien er für Humor absolut unempfänglich zu sein. Selbst Ike war an diesem Morgen ungewöhnlich still und wortkarg, was man in seiner Situation verstehen konnte, aber der Lehrling war ja unwissend. Aaron streckte hinter ihren Rücken die Zunge raus und zog dabei Grimassen.
„Miesepeter, alle Beide“, murmelte er vor sich hin. „Ihre Frauen haben sie letzte Nacht scheinbar nicht rangelassen“, kicherte sich Aaron ins Fäustchen.
Er hockte sich auf die Ladefläche hin und drehte unter seinem Poncho zwei Zigaretten, klopfte Ike auf die Schulter und steckte ihm eine angezündete Kippe in den Mund. Mit seinen Händen schützte Aaron seine glimmende Zigarette und paffte, während er Ike unentwegt anstarrte. Aaron entging es zwar nicht, dass sein Lehrmeister ungewöhnlich schweigsam und in Gedanken versunken und er möglicherweise, ebenso wie Charles, nur mit Vorsicht zu genießen war, trotzdem wagte er es zu fragen. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen, im Unwissen zu bleiben. Immerhin quälte ihn sein Anliegen schon fast ein Jahr lang.
„Du … Ike. Ich ähm, ich wollte nur mal nachfragen, wann du deine Entscheidung endlich kundgibst, ob du mich für die Garantie-Gruppe vorschlägst oder nicht. Siehe doch mal Ike, alle anderen Vorarbeiter haben ihre Auserwählten längst bekannt gegeben. Sogar die Mistsau Clark …Verzeihung, ich meinte Mister Clark, hatte einen Lehrling für die Garantiegruppe längst vorgeschlagen und es wird erzählt, dass Sean Ryan hundertprozentig dabei sein wird, weil sein Halbjahreszeugnis überragend war.“ Aaron schüttelte verständnislos mit dem Kopf. „Das finde ich dann voll ungerecht, wenn ich nicht dabei sein darf. Sean Ryan ist grad mal im ersten Lehrjahr und hat praktisch noch gar nichts geleistet. Trotzdem wurde der dreizehnjährige Hosenkacker auserwählt. Ich dagegen bin schon von Anfang an dabei und meine Abschlusszeugnisse sind tadellos. Ab nächsten Sommer bin ich sogar ein Schreinergeselle. Ike, ich hatte mich doch angestrengt und hatte seit dem letzten Jahr nicht ein einziges Mal die Schule geschwänzt! In vier Fächern habe ich sogar …“
Ike zog die Zügel an woraufhin die Pferde sofort stehen blieben, und Aaron hielt augenblicklich seinen Mund. Er hielt die Luft an und befürchtete, dass ihm jetzt wiedermal ein Satz heiße Ohren blühen würde. Oder gar schlimmer, dass er ihn vom Fuhrwagen werfen und er die weite Strecke im strömenden Regen laufen müsste, was schon mal vorgekommen war. Aber Ike starrte nur vor sich hin, zog an seiner Zigarette und schnickte sie fort, weil der Glimmstängel ohnehin durchnässt war.
„Na schön, Aaron. Diesmal gebe ich dir sogar recht. Die Zeit der Entscheidung ist gekommen. Nach dem Funktionstest heute Vormittag werde ich unverzüglich ins Hauptquartier marschieren und im Sekretariat deinen Namen auf die Liste setzen.“ Er atmete einmal kräftig durch, so, als wäre ihm eine schwere Last genommen worden. „Deine Chancen in die Garantiegruppe aufgenommen zu werden, stehen sogar ausgezeichnet“, fügte Ike niedergeschlagen bei.
Einen Moment herrschte absolutes Schweigen. Allein das Prasseln des Dauerregens auf der Ladefläche war zu hören. Aaron hatte die Ponchokappe fest um sein Kinn verschnürt; sein rundes Sommersprossengesicht glänzte vor Nässe und seine blauen Kulleraugen schauten ihn fassungslos an.
„Was? Echt jetzt?“, fragte Aaron ungläubig. „Du wirst mich in der Tat vorschlagen? Kein anderen Schreinerlehrling sondern wirklich mich?“
Ike nickte. „Und wenn Mister Andrews mit meiner Entscheidung einverstanden ist, wovon ich eigentlich überzeugt bin, wirst auch du bei der Garantiegruppe dabei sein.“
Ike schaute hinter seiner Schulter, blickte genau in seine Augen und lächelte gezwungen. „Verdient hast du es dir allemal, mein Junge.“
„Potzblitz, Himmel Arsch und Zwirn und dreimal Donnerschlag“, platzte es aus Aaron überrascht heraus und schaute ihn dabei mit weit geöffneten Augen an, als wenn er soeben ein Piratenschatz gefunden hätte. „Das muss ich sofort jedem erzählen: ICH BIN DABEI, ICH BIN DABEI, ICH BIN DABEI … JUCHUUU!“, schrie er seine Freude heraus.
Aaron tanzte übermütig auf der Ladefläche im Kreis herum und hielt dabei seine Fäuste in die Luft – frühmorgens um kurz vor 5 Uhr –, wobei es aus Eimern goss und die Pferde aufgrund des Jubelschreies und Rumgehampel nervös trampelten.
Ein ganzes Jahr musste Aaron auf diese frohe Botschaft warten und täglich hatte er gehofft aber auch gebibbert. Nun war es gewiss, dass er bei der Garantie-Gruppe, die Mr. Andrews persönlich anführen wird, dabei sein würde.
„Sachte mein Freund, ganz sachte und setzt dich sofort wieder hin, bevor du mit deiner Hampelei die Kutsche umwirfst. Du wirst es keiner Menschenseele erzählen. Hörst du mich? Los, versprich es mir!“, lenkte Ike sogleich streng ein, worauf Aaron seinen Freudentanz abrupt abbrach.
„Ja aber, aber wieso denn nicht?“, maulte er enttäuscht. „Die Baptisten-Schweine Luke und Arnie hatten mich wochenlang geärgert, weil beide während des Stapellaufs auf dem Bootsdeck der Titanic dabei sein durften, während ich in der Werkstatt blöde Holzkeile sägen musste. Und nun darf ich niemanden erzählen, dass ich für die Garantiegruppe ausgewählt wurde? Das verstehe ich jetzt aber ganz und gar nicht!“, erwiderte Aaron sichtlich verärgert.
Ike senkte seinen Kopf und wischte sich das Regennass aus seinem Gesicht.
„Weil meine Entscheidung zugleich bedeutet, dass Bob nicht dabei sein wird und er es von mir persönlich erfahren muss, und nicht von anderen. Also Aaron, halte deinen Mund, bis ich es ihm gebeichtet habe. Ich bitte dich darum. Versuche mich zu verstehen!“
Aaron hockte sich in die hinterste Ecke der Ladefläche, verschränkte die Arme um seine Knie und schmollte. Er begriff die Situation, die Ike quälte und versprach ihm zerknirscht, dass er diese Neuigkeit vorerst geheim halten wird. „Meinetwegen“, murrte er. „Und wann wirst du es Bob endlich sagen?“, quengelte er sogleich missmutig.
„Bald“, antwortete Ike patzig, peitschte die Zügel auf die Pferde und die Fahrt ging weiter. In der Ferne sahen sie zwischen unzähligen Waldbäumen bereits die Lichter von Belfast.
Kaum hatte Ike die Schreinerwerkstatt betreten, erlebte er eine böse Überraschung. Vor dem weit geöffneten Tor stand ein Zugpferdegespann in der Halle bereit und der Fuhrwagen war mit Boden- und Deckendielen sowie mit Werkzeugkisten beladen. Einige Lehrlinge waren gerade emsig dabei beschäftigt, die Ladung mit alten Segelleinen zu überspannen, damit das unbehandelte Holz vorm Regen geschützt bleibt. Immerhin beanspruchte der Weg bis zum Ausrüstungskai samt der Ladung mindestens einen zwanzigminütigen Fußmarsch.
Der erste Eindruck war eigentlich lobenswert, sein Team war in der Nachtschicht fleißig gewesen und die Arbeiten auf dem C-Deck der Titanic konnten offenbar sofort angegangen werden. Genauso wie es der Dienstplan vorschrieb würde Ikes Schreinerteam ihre zugeteilte Kabine termingerecht am nächsten Tag den Elektrikern übergeben können. Jedoch musste Ike während seiner Kontrolle verbittert feststellen, dass seine Mannschaft am gestrigen Tag die Holzdielen für die falsche Kabine maßgerecht zugeschnitten hatten.
Er steckte die Finger in seinen Mund und pfiff sein gesamtes Team herbei. Die Männer, sowie auch die Lehrlinge, standen nebeneinander angereiht, zogen ihre Schirmmützen ab und wagten es nicht, ihren wutschäumenden Vorarbeiter anzublicken.
Ike brüllte wütend wie noch nie zuvor. Er feuerte sogar seinen Bowler zornig auf den Boden. Er fluchte und beschimpfte seine Mannschaft, nannte sie gehirnamputierte Vollidioten, analphabetische Nichtskönner, die nicht einmal einen Auftragsbericht vernünftig lesen könnten und warf ihnen hochgradige Inkompetenz vor. Insbesondere schämte sich Bob McMurphy, weil er der eigentliche Übeltäter war, wiedermal die Führung übernommen und versehentlich die Auftragsberichte vertauscht und somit die falschen Schnittmaße an der Kreissäge angeordnet hatte. Dies war ihm nur passiert, weil ihn die Ungewissheit geplagt hatte und er, genauso wie Aaron, nur über Ikes Entscheidung gegrübelt hatte. Und ausgerechnet heute, an diesem Tag, wollte Bob Ike um eine endgültige Entscheidung bitten, ob er ihn für die Garantiegruppe empfehlen würde oder nicht. McMurphy konnte und wollte ebenso nicht weiter im Unwissen bleiben.
Während Bob seine Schirmmütze nervös knetete, reumütig zum Boden blickte und sich Ikes Donnerwetter anhörte, entschied er sein Anliegen vorerst zu vertagen. Nach diesem Missgeschick würde sein Vorarbeiter ihn sicherlich keineswegs nominieren, dachte er sich. Das war kein guter Zeitpunkt, seinen Boss abermals mit derselben Frage zu konfrontieren.
Denn Ike wusste ganz genau, dass Bob eigentlich der Schuldige war, weil er ihm in seiner Abwesenheit ständig die Vollmacht überließ. Trotzdem schrie er alle anderen an, nur nicht ihn. Seinen Kumpel Bob strafte er vielmehr damit, indem er ihn keines Blickes würdigte und stattdessen die Kollegen für seinen fatalen Fehler zurechtwies.
Am Stammtisch von Nelson`s Pub müsste Bob schließlich vor seinen Kumpanen kleinlaut Rede und Antwort stehen, und diese Schmach würde ihm nicht nur einige Guinness kosten, sondern müsste sich zudem wochenlang ihre bissigen Kommentare gefallen lassen. Diese Strafe war für einen Bob McMurphy wesentlich wirkungsvoller.
Als der Wortschatz seiner Schimpfwörter endlich erschöpft war, nahm Ike seinen Bowler vom Boden auf, strich sich mit seiner Hand durchs Haar und setzte die Melone wieder auf. Er zog sein Jackett aus, legte es auf den Pferdewagen ab und ging durch sein aufgereihtes Schreinerteam. Schließlich sollte jeder sehen und es ihnen wieder erinnern, dass er muskulös und stark ist. Ein Anführer muss Stärke sowie Sicherheit ausstrahlen und gleichzeitig wie ein Drache gefürchtet sein, um respektiert zu werden. Ike wurde es in dem Moment bewusst, dass er für dieses Jahrhundert scheinbar viel zu kumpelhaft wirkte, genauso wie es Carl Clark ihm immer wieder vorgeworfen hatte. Mit einem stechenden Blick schaute er jeden seiner Arbeiter in die Augen, bis auf Bob. Ihn ignorierte er weiterhin.
„Meine Herren, das sind die verdammten Bretter für die Kabine C-25, anstatt für die gegenüberliegende Kabine C-22“, sprach Ike gefasst. „In C-25 sind heute aber die Elektriker beschäftigt, was bedeutet, dass wir dort eigentlich nicht verplanken können. Euretwegen darf ich jetzt zu Clark gehen und ihn auf Knien bitten, dass er uns gnädiger Weise heute C-25 überlässt, damit wir im Zeitplan liegen. Sollte Clark aber nicht zustimmen, haben wir ein echtes Problem, Leute.“
Das Verhältnis zwischen dem Vorarbeiter der Elektriker Carl Clark und Ike war bislang unterkühlt bis feindselig geblieben. Zudem war Mr. Clark dafür bekannt, dass er äußerst unkooperativ und stur reagierte, wenn einem Vorarbeiter ein organisatorischer oder anderweitiger Fehler unterlaufen war. Carl Clark fackelte nie lange und schwärzte jeden Arbeiter bei Mr. Andrews an. Absolute Loyalität zum Unternehmen und Kompetenz sowie Präzision war seine unerschütterliche Meinung. Der konservative Protestant war nicht einmal unter seinesgleichen beliebt und jeden Katholiken verabscheute er ohnehin bis aufs Blut.
Der schlaksige Vierundsechzigjährige mit dem buschigen, gezwirbelten Schnauzbart stand loyal hinter dem Unternehmen Harland & Wolff und führte sein Team stets unbarmherzig und mit voller Strenge voran, dies wiederum sein Erfolg ausmachte. Selbst bei nichtigen Patzern seiner Untertanen sah er niemals drüber hinweg, sondern strafte dies kompromisslos mit Lohnabzug oder sprach gar die fristlose Kündigung aus. Egal welche Konfession der Missetäter hatte.
Ein Grollen und Rumpeln wälzte wiedermal durch den wolkenbehangenen Himmel, während Ike im strömenden Regen zum Ausrüstungskai rannte. Es war schon beinahe 9 Uhr, trotzdem wollte dieser mausgraue Tag einfach nicht wirklich hell werden. Die Straßenlaternen zu den Hellingen waren immer noch beleuchtet.
Dutzende Werftarbeiter standen triefnass hintereinander in einer Warteschlange vor den Gangways, die an den Hauptluken des Schiffsrumpfs der Titanic angedockt waren. Der Funktionstest der wasserdichten Schotten stand bevor, weshalb ungewöhnlich viele Vorarbeiter anwesend waren.
Neuerdings wurde jeder Werftarbeiter vorerst nach Waffen durchsucht – außer die Vormänner, sie genossen Immunität –, bevor sie das Schiff betreten durften, denn die Unruhen zwischen Protestanten und Katholiken hatte sich bedrohlich zugespitzt. Ihr gegenseitiger Hass war nahezu erschreckend und mancher zögerte nun auch nicht mehr, seinen Kontrahenten ernsthaft zu verletzen oder dessen Tod einzukalkulieren.
Der dritte Home Rule Bill stand in Belfast unmittelbar bevor und unter den katholischen Arbeitern waren einige gute Redner dabei, diese die Protestanten auszuschalten versuchten, und umgekehrt genauso. Im Inneren des riesigen Schiffes war eine völlige Kontrolle einfach ausgeschlossen. Dort waren genügend dunkle Ecken und Räume, wo man auf einen Rivalen auflauern konnte und wie schnell war doch ein Arbeitsunfall passiert. Ein sogenannter Arbeitsunfall musste nicht unbedingt tödlich enden, es reichte schon, wenn der Gegner langzeitig arbeitsunfähig wurde. Denn dies bedeutete oftmals ein zukünftiges Leben in absoluter Armut, weil der Arbeitsunfähige daraufhin nicht mehr seine Familie ernähren konnte. Das war damals die größte Angst unter der Arbeitergesellschaft.
Zugpferde stampften durch die schlammigen Wege zu den Hellingen und zogen die beladenen Fuhrwägen hinterher, darauf die neuen Lehrlinge triefnass hockten und verängstigt drein schauten. Für die jungen Burschen – manche von ihnen waren nicht einmal 13 Jahre alt – war nun die Kindheit vorbei. Einige von ihnen mussten jetzt ihre Väter finanziell unterstützen oder sogar eine komplette Familie ernähren, weil ihr Vater nicht mehr lebte.
Jeder von ihnen hielt einen Besen und Schaufel in ihren Händen. Ein Werftarbeiter trat hervor, zeigte mit dem Daumen hinter sich auf das gigantische Schiff und brüllte die blutjungen Kerlchen sogleich an: „Na los, ihr verdammten Bengels! Bewegt eure faulen Hintern gefälligst! Rein da und sauber machen oder muss ich euch erst die Hammelbeine lang ziehen?! Lehrjahre sind verdammt nochmal keine Herrenjahre!“
Die Lehrburschen sprangen gehorsam und ängstlich vom Wagen; der Matsch spritzte ihnen dabei bis in ihre Gesichter, dann reihten sie sich wie befohlen hintereinander an und folgten dem strengen Aufseher im Gänsemarsch in den dunklen Schiffsrumpf der Titanic.
Als Ike das Ausrüstungskai erreichte, erblickte er Carl Clark vor dem Schwimmkran. In vierzig Meter Höhe flatterte immer noch die schwarz-weiß-rote Flagge des deutschen Kaiserreichs. An dem Krangestänge war ein Metallschild montiert, worauf in altdeutscher Schrift geschrieben stand: DEMAG Duisburg.
Mr. Clark hielt als Einziger von allen einen schwarzen Regenschirm in seiner Hand und erteilte grade einigen Vorarbeitern mit vorgehaltenem Zeigefinger irgendwelche Anweisungen, obwohl die Vormänner es eigentlich selber wissen müssten, was sie zu tun haben. Aber sein Charisma und die Selbstsicherheit, die dieser Mann ausstrahlte, ließen so manchen erfahrenen Vorarbeiter dazu verleiten, ihm jegliche Verantwortung zu überlassen und ihm zu gehorchen.
Carl Clark war wie ein Drache, den man zwar fürchtete, sich aber zugleich unter seinen Fittichen sicher und geborgen fühlte, weil er scheinbar alle Verantwortung auf sich nahm und genau wusste, was zu tun war.
Ike ging zielstrebig auf ihn zu und beabsichtigte ihn ohne Höflichkeitsfloskeln mit seiner Situation zu konfrontieren. Jedoch war es nicht ratsam, den Elektrikervorarbeiter in einem Befehlston zu begrüßen. Schließlich benötigte Ike sein Einverständnis, dass der Dienstplan kurzfristig umgeändert werden müsste. Ike versuchte Mr. Clark mit seiner bestimmenden Art und etwas Charme einfach zu überrumpeln, genauso wie er es mit allen anderen Akteuren ständig tat, wenn er ihre Hilfe benötigte. Ike drängte sich einfach zwischen den Vormännern, unterbrach rücksichtslos deren Gespräche und schaute Mr. Clark direkt in seine gekniffenen Augen.
„Guten Morgen, Carl. Du musst mir einen Gefallen tun.“ Ike atmete einmal durch, bevor er fortfuhr. „Es geht um die Kabine C-25. Ich muss mit meiner Mannschaft heute da unbedingt rein, wir müssen tauschen. Du bekommst dafür …“
„Hört, hört! Mister van Broek sagt, ich MUSS ihm eine Gefälligkeit erweisen. Na, da bin ich aber mal ganz Ohr“, unterbrach ihn Clark sogleich, wobei ihm ein überheblicher Lacher entwich.
Auf Ike wirkte Mr. Clark wiedermal äußerst arrogant, zumal er sein übliches Grinsen an den Tag legte, als hätte er wiedermal ein Ass im Ärmel. Es regnete immer noch unaufhörlich, der Regenguss prasselte auf Clarks Regenschirm nieder.
„Die Sache ist die“, fuhr Ike fort, nachdem er nochmals tief durchatmete. „Meine Männer haben irrtümlicherweise die Boden- und Deckendielen für C-25 zugeschnitten und nun müssen wir diese heute auch verplanken, ansonsten liegen wir nicht mehr im Zeitplan. Ich überlasse dir dafür C-24, dort würden deine Männer sowieso morgen ihre Kabel ziehen. Wir tauschen also nur. Weder für dich noch für mich würde diese Option eine Verzögerung bedeuten. Jeder kann arbeiten und unser Problem wäre somit gelöst“, unterrichtete ihn Ike im sachlichen Ton.
Ein abfälliges Schnaufen entwich Mr. Clark, während er fortan schmunzelte.
„Du meinst wohl eher, DEIN Problem wäre damit gelöst. Das kommt gar nicht in Frage, Mister van Broek. Meine Leute hatten gestern nach Dienstschluss bereits brav ihr Werkzeug in C-25 eingeräumt und so manches vorbereitet, damit sie heute Morgen pünktlich um sechs Uhr mit ihrer Arbeit anfangen können, während deine Arbeiter um diese Uhrzeit noch mit ihren Händen in den Hosentaschen in der Werkstatt rumgegammelt hatten. Und weißt du weshalb meine Männer täglich, nach Dienstschluss wohlbemerkt, ihr Werkzeug und Material für den morgigen Tag vorbereiten? Weil ich es von ihnen abverlange! Denk mal drüber nach, Mister van Broek.“
Der Regenguss prasselte gegen seinen Regenschirm, Ike dagegen stand pudelnass im Freien. Ein kleines Rinnsal lief von seinem durchnässten Bowler herab.
Ike blickte dem großgewachsenen Mann finster in die Augen, zumal er seine ständig altklugen Zurechtweisungen hasste. Innerlich brodelte sein Gemüt, dennoch bemühte sich Ike, sachlich zu bleiben und versuchte den sturen Vorarbeiter weiterhin geduldig zu überzeugen.
„Carl, ich bitte dich höflichst darum. Lass uns doch endlich diesen unsinnigen Zwist zwischen uns beenden. Ich habe für meine Gesellen ansonsten keine Arbeit für heute, was bedeutet, ich müsste Familienväter nach Hause schicken. Ich müsste ihnen einen kompletten Tageslohn streichen. Da wäre zwar noch das Treppenhaus im A-Deck, aber …“
„Du verlangst also in der Tat von mir“, erwiderte Clark, „dass ich meine tüchtigen Männer, die ihre Arbeit schon gestern nach Feierabend gewissenhaft vorbereitet hatten, einfach wieder von ihrem Arbeitsplatz verscheuchen soll, nur weil deine Leute zu blöd waren, deine Anweisungen zu befolgen und hatten die Holzdielen falsch zugeschnitten?“
Mr. Clark packte ihm an die Schulter, blickte ihn mit seinen gekniffenen Augen scharf an und mahnte mit dem Zeigefinger direkt vor seinem Gesicht, während der Regen unaufhörlich niederströmte.
„Vergiss es, mein Freund! Meine Leute haben alles richtig gemacht, deine wiederum nicht! Ich sage dir jetzt, was du tun wirst, damit es tatsächlich keine Verzögerung gibt, worunter letztendlich auch mein Team leiden würde. Deine Männer werden auf der Stelle die verdammten Bretter für C-22 schneiden und diese im Eiltempo aber ganz fix verplanken. Ich will das der Dienstplan unverändert eingehalten wird, ansonsten haben wir morgen Früh nämlich das gleiche Dilemma wie jetzt. Erst nach Dienstschluss, wenn meine Männer fertig sind, darf dein trotteliges Team in die Bude C-25 hinein. Hast du das kapiert?!“, sagte er im Befehlston. „Lass deine dämliche Bande gefälligst zur Strafe zusätzlich in der Nachtschicht arbeiten!“, fauchte Clark einschüchternd.
Ike zeigte ihm empört einen Stirnvogel.
„Du hast sie wohl nicht mehr alle! Ich kann meine Männer doch nicht vierundzwanzig Stunden lang arbeiten lassen!“, empörte sich Ike. Aber Carl Clark lächelte nur.
„Selbstverständlich kannst du das, du bist schließlich ihr Boss. An deiner Stelle würde ich diese nichtsnutzigen Halunken noch nicht einmal dafür bezahlen und den Schuldigen hochkantig rauswerfen. Schlafmützen haben in unserem Unternehmen nichts zu suchen! Lerne endlich deine Mannschaft anständig zu führen, dann passiert solch ein Bockmist auch nicht!“, maßregelte Carl Clark mit erhobenem Finger vor seiner Nase. „Andernfalls kehr wieder nach Amsterdam zurück und bau wieder Segelschiffe.“
Kurze Funkstille herrschte, bevor Mr. Clark fortfuhr.
„Selbstverständlich steht es dir frei, dich bei Mister Andrews über meine Verhaltensweise und Endscheidung zu beschweren. Nur zu, erkläre ihm doch, weshalb der Dienstplan deiner Meinung nach unbedingt geändert werden müsste. Mal sehen, wie verzückt er es aufnehmen wird wenn er erfährt, dass dein Team stümperhaft arbeitet und grad jetzt nur Schafscheiße fabriziert.“
Ike schnaubte zwar innerlich vor Wut, unterdrückte aber seinen Zorn und erwiderte stattdessen mit einem ausdruckslosen Blick. Triefnass stand er mit seinem Herrenanzug im Regen und blickte Carl Clark stechend an. Wassertropfen perlten von seiner Nase.
Die anwesenden Vorarbeiter hatten sich derweil diskret abgewandt. Insgeheim stimmten sie dem Holländer zwar zu, schließlich befand man sich sprichwörtlich in einem Boot und musste doch zusammenhalten, trotzdem traute sich niemand Partei für Ike zu ergreifen. Dafür fürchteten sie Mr. Clark zu sehr. Denn ein Drache kann auch Feuer speien und somit einigen Leuten ihre Zukunft in Schutt und Asche legen.
„Clark, du bist ein unbeschreiblicher Bastard, weißt du das eigentlich?“, sprach Ike im ruhigen Ton. „Du bist unkollegial und verhältst dich wie ein Tyrann, denk mal darüber nach.“
Mr. Carl Clark kümmerte sich aber nicht um seine Beschimpfung, klemmte ein Monokel an sein Auge und schaute auf seine Taschenuhr.
„Entschuldigen Sie mich, Mister van Broek, ich habe noch zu tun. Ich muss die Funktionstüchtigkeit der Schottentüren im Kesselraum 5 überprüfen. Wie mir bekannt ist, hat man Ihnen Kesselraum 6 zugeordnet. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, Mister van Broek.“
Carl Clark wandte sich von ihm einfach ab und folgte, wie die anderen Vorarbeiter, dem Schiffsbaupolier über die Gangway in die Titanic. Ike blieb einen Moment alleine im Regen stehen und schaute ihm finster hinterher. Dann packte er einen Lehrling am Kragen, rüttelte ihn und befahl, dass er sich sofort in die Schreinerwerkstatt sputen und dem Gesellen Bob McMurphy ausrichten solle, dass es heute ein sehr langer Tag werden wird.