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4 Seiten

so ist das (L)eben

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
© MarySmith
Das energische Quiechen der Straßenbahntüren. Meine Haltestelle sowie die weiterer hunderter Personen. Ich steige aus, wechsle den Gehweg. Zu meiner Linken taucht der gewohnte Kindergarten auf, zu meiner Rechten erhebt sich ein schmaler Streifen unebener Wiese, dahinter die Gleise. Die Bahn fährt weiter.
Neben mir hastet ein Mann in den Vierzigern mit steifen Hut und altmodischen Hosen vorüber. Auch wenn er real ist, lebt er nicht in der Welt, in der ich lebe. Er ist da, und ich bin da, und dennoch sind wir es beide nicht. Oder doch? Egal. In diesem Moment rauschen die Gedanken in meinem Kopf und durchbluten ihn, dass ich sie gar nicht lang genug behalten kann, um sie zu ende zu denken. Nein, dass stimmt nicht. Ich könnte sie ordnen, könnte sie sorgfältig filtrieren, nachretuschieren und ausbessern, wenn ich wollte, doch ich will es nicht. Der Strom soll einfach weiter fließen, Altes abtreiben, Neues anschwemmen. Ohne viel Aufhebens, ohne die Angst etwas wichtiges verlieren zu können.
Der Wind frischt auf. Er übertönt das Schaben meiner weichen Turnschuhe auf dem harten Straßenstein. Er macht Flügel, die in alle Richtungen streben. Genauso wie mein Haar-unbändig- mal verfilzt, dann wieder glatt gekämmt. Heute türmt er die Wolkenberge aufeinander, statt sie auseinander zu treiben, fast als plane er ein Schloss oder ein riesiges Schiff zu bauen, doch wer weiß das schon.
Mich soll es nicht interessieren, ich bin geschützt unter den Kopfhörern, die ich trage, mit denen ich Tag und Nacht unterwegs bin, weil ich mich ohne sie einfach leer fühle. Manchmal ist die Musik in ihnen längst verklungen, nur noch ein kurzatmiger Widerhall in meinem Gehirn und ich behalte sie trotzdem auf, weil ich durch sie, alle Töne intensiver wahrnehme und sie mir ein immenses Gefühl an Stärke geben. Ich weiß nicht genau wieso das so ist, manche Dinge sind einfach nur. Ich glaube aber, dass meine Mutter Kopfhörer in ihrer Schwangerschaft getragen hat. Oft, so oft, dass ich es schon als Embryo mitbekommen habe und seit dem nicht mehr ohne kann. So ist das. Manchmal eben doch.
Aus der Ferne kann ich eine Frau mit grauer Schürze und einen ebenfalls grauen Hund erkennen, den sie –sichtbar mit zittriger Hand- an der Leine hält und der gerade auf drei Beinen steht, ein Viertes zur Seite gestreckt.
Plötzlich muss ich an ihn denken. Ihn, dem ich vor vier Tagen begegnet bin. Abends, vor einer Kneipe, im Regen. Auch wenn ich mich mit aller Macht dagegen wehre, schaut er mich wieder an und meine Fingerspitzen vibrieren, lechzen nach dieser fremden Haut, nach dem Wimpernschlag dieses sonderbaren Blicks. Etwas ist dabei aus mir herauszubrechen, ich schnüffle in der Luft wie ein wildes Tier, wittere den herankommenden frischen Atem und ziehe ihn tief durch meine Poren. Der Hund setzt das vierte Bein zu den anderen und drängt sein Frauchen weiter. Ich glühe. Meine Wangen sind leicht errötet. Die Frau sieht mich kurz an und auch wieder nicht, dann biegt sie mit ihrem Vierbeiner in die nächste Häusergasse ein. Ich habe das Gefühl, dass ich sie zum letzten Mal gesehen habe.
Was er wohl gerade macht? Vielleicht geht er auch gerade spazieren, irgendwo, da draußen.
Reiner Sex, den ich will, oder mehr? Schwer zu sagen, jedes meiner Körperteile scheint seinen eigenen Willen zu haben. Wer soll da noch unterscheiden können? Auch egal.
Ich krame mein Handy aus der Hosentasche, hole es aus der Versenkung herauf.
Ich weigere mich auch nur einen Augenwinkel daran zu verschwenden. Eine Sekunde später blicken meine Augen auf das hellleuchtende Display. Ein „Hush-Puppie“ - wie mein kleiner Bruder den Miniatur Hund mit den übergroßen Ohren nennt- schaut mir gemeinsam mit der Uhrzeit, dem Datum und einen leeren Mitteilungsfach entgegen. Ich habe große Lust das gesamte Teil in den nächsten Graben zu werfen, doch meine Hand lässt es sorgsam zurück an die bekleidete Stelle meines Oberschenkels rutschen. Gut verwahrt und mütterlich gewärmt.
Warten. Warten heißt stehen zu bleiben während die Welt sich weiter dreht und man sich auf den Kopfstehend befindet, so dass alles Blut in ihn hineinläuft und man früher oder später die Geduld verliert. So ist es mit allem, wirklich. Vertrauen. Auch so eine Sache. Am besten nie haben und nie vergeben, bringt meist nur Kummer. Wie so vieles.
Eine Bankreihe kreuzt seitlich meinen Weg, dazwischen Mülleimer. Alles ist menschenleer, wie viele sich wohl hinter dem sicheren Fenster und den doppelten Gardinen ihrer Wohnung verbergen und mir gerade zu sehen? Im Schätzen bin ich nie sehr gut, aber ich kann mir vorstellen, dass es um diese Zeit nicht viele sein werden. Jetzt ist es fast Acht und alle, die zu Hause sind, schauen entweder fern oder essen, das tun jedenfalls die meisten.
Die erste Bank ist vorüber und ich habe es nicht einmal bemerkt. Sie ist noch nicht besprayt und besitzt noch alle Sitzstränge, wahrscheinlich deswegen.
Ich erinnere mich an eine sehr gute Freundin, die mir erst vor kurzem etwas über Parcour erzählte. Man springt von einem Gegenstand zum anderen, ohne dabei den Boden zu berühren. Klingt nett, genau das, was ich jetzt brauche. Ich jogge leicht an das Holz und springe, laufe mit drei Schritten über die Bank und steige auf den gleich daran anschließenden Papierkorbrand, schaukle etwas unsicher, richte mich kurz vollständig auf, balanciere zur anderen Seite, springe auf die nächste Bank und beginne das Spiel von vorn. An dem letzten Papierkorb baue ich eine kleine Pirouette ein und lasse mich dann unbekümmert auf den Boden fallen.
Einige Zeit liege ich auf dem schwarzen Asphalt und horche auf das harmonische Rasseln meiner Lungen. Einer meiner Kopfhörer ist mir aus dem Ohr gefallen und mein Handy summt, leuchtet hell unter dem Hosenstoff. Keines von beidem stört mich, keines beachte ich, denn der erste Tropfen Nass fällt auf meine Stirn. Der zweite kitzelt die Härchen an meinem rechten Arm. Dritter, Vierter und Fünfter versickern irgendwo in dem Gewebe meiner Kleidung, saugen sich daran fest. Der nächste berührt mit einem Platsch meine Nasenspitze und was leicht zu nieseln begonnen hat, setzt sich als Schauer fort. Es donnert. Ich sehe direkt in das Antlitz der schwarzen mit Regen geschwängerten Riesenwolke und schließe wie zum Schlafen die Augenlider. In wenigen Sekundenbruchteilen haben sich neben mir kleine Bäche gebildet, die allerhand trockne Blätter, kleine Steinchen und weiteres mit sich treiben. Werden nun meine Fußabdrücke –so unscheinbar wenig sie auch in den Weg gedrückt sein mögen- weiter getragen, stehe ich jetzt vielleicht schon einige Meter weiter vorn, mehr zu dem Graszipfel, der eine Schnecke beherbergt oder der, auf dessen Nachbarn sich gerade zwei Ameisen begegnen?
„ Stell doch nicht so viele Fragen!“, das haben mir früher meine Eltern gesagt, wenn ich nicht müde wurde immer mehr wissen zu wollen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass ich irgendwann klüger sein könnte als sie selbst, Furcht die Kontrolle- und sei sie noch so klein- zu verlieren. Sie haben mich mit Süßigkeiten und Spielzeug ruhig gestellt. Jetzt komme ich mir oft sehr dumm vor. Selbst wenn ich gelernt habe, wie man mit Messer und Gabel isst, wie man aufrecht geht und doch nicht umfällt, wie man den Fernseher und die Mikrowelle bedient, wann man das mit einem oder Doppel-Es schreibt und aus wie vielen Kontinenten dieser Planet besteht, habe ich doch das sichere Gefühl nichts von der Welt zu verstehen.
Das Wichtigste immer noch nicht zu wissen und das Wahrscheinlich nie. Viele Menschen können diese Erkenntnis verdrängen, wenn sie denn überhaupt eine solche ist. Ich auch, ich brauche nur wieder den herausgefallenen Kopfhörer zu nehmen und ihn mir in das Ohr zu stecken, mein Handy erneut aus der Tasche zu holen, aufzustehen und dann die restlichen Meter zum Haus zu laufen, gerade da, wo sich das Gleis der Straßenbahnschiene in eine andere Richtung begibt und es aufgehört hat zu regnen. So ist das (L)eben.
 
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Kommentare  

Hallo MarySmith,
beim Stöbern habe ich entdeckt, dass Dich seit 2006 gar kein Kommentar zu Deiner kleinen nachdenklichen Geschichte erreicht hat. Und, es hat mich neugierig gemacht, weshalb. Schade, denn ich empfinde sie als sehr nachdenklich und zu dem auch gut geschrieben. Deine Metaphern sind bilderreich und nachspürbar. Alles in allem erzählt sie zeigt mir wie Du Dich fühltest und mit welchen Augen Du die Welt, Deine Welt gesehen hattest, sehr gut gelungen.... Viele Grüße Doreen


Doreen Malinka (18.08.2008)

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