262


10 Seiten

on a rainy day (teil 1)

Romane/Serien · Trauriges
© Tintentod
24 Mai 1998 – 13 August 1998

I’m leavin my family, leavin all my friends
my body’s at home but my heart’s in the wind
where the clouds are like headlines on a new front page sky
my tears are salt water and the moon’s full and high
And I know Martin Eden’s gonna be proud of me
and many before me who’ve been called by the sea
to be up in the crow’s nest, singin my say
shiver he timbers
cause I’m a-sailin away
And the fog’s liftin and the sand’s shiftin
I’m driftin on out
ol Captain Ahab, he ain’t not nothin on me, now.
So swallow me, don’t follow me, I’m travlin alone
blue water’s my daughter
n I’m gonna skip like a stone
So please call my missus, gotta tell her not to cry
cause my goodbye is written by the moon in the sky
hey and nobody knows me, I can’t fathom my stayin
shiver me timbers
cause I’m a-sailin away
And the fog’s liftin and the sand’s shiftin
I’m driftin on out
Ol Captain Ahab, he ain’t got nothin on me
so come on swollow me, follow me, I’m travlin alone
Blue water’s my daughter
n I’m gonna skip like a stone
And I’m leavin my family, leavin all my friends
my body’s at home but may heart’s in the wind
where the clouds are like headlines upon a new front page sky
and shiver me timbers
cause I’m a-sailin away

Shiver me timbers, Tom Waits



eins.
Corin Bootsen kam in Oktober zu uns, drei Wochen nach meinem zweiundvierzigsten Geburtstag. Ich hatte keine Party organisiert, aber ein paar schöne Geschenke bekommen. Tracey hatte einen teuren Bildband über Kalifornien gekauft, außerdem noch einen alten Bilderrahmen mit Leinwand. Das Bild war furchtbar, aber die Leinwand hatte eine wundervolle Struktur.
Corin kam wie ein streunender Hund nach Sweet Home, in unsere Kleinstadt. Die Tür des Diners ging auf, ging wieder zu und da stand er vor der Theke und fragte nach einem Bier. Seine Stimme war kaum zu hören. Als Nelee ihm sagte, dass sie am Vormittag keines ausschenken dürfe, nahm er eine Tasse Kaffee und blieb dort stehen, wo er war. Das Diner ist die einzige Einrichtung in unserer Gemeinde, die eine ewig brennende Leuchtreklame besitzt, also war es kein Wunder, dass ich ihn dort zum ersten Mal sah. Das Diner ist die erste Adresse im Ort, nicht, weil es dort das beste Essen gibt, sondern weil es das erste Gebäude ist, wenn man von der 20 in Richtung Lebanon fährt und dadurch durch Sweet Home kommt.
Ich nahm gerade mein übliches frühes Mittagessen zu mir. Wenn Tracey, meine Frau, über Mittags arbeitet, koche ich nicht, sondern gehe ins Diner. Wir wohnen praktisch um die Ecke und Nelee freut sich immer über mein Trinkgeld. Sie meckert nicht über farbbeschmierte Hände, wenn ich bei ihr esse.
Seit zwei Tagen hatte es ununterbrochen geregnet und das war erst der Anfang. In Oregon sind wir Regentage gewöhnt, aber ganz langsam machten sich alle Sorgen wegen dieser Fluten, die aus dem Himmel kamen. Noch schaffte es die alte Kanalisation, das Wasser aufzunehmen und abzuleiten, vorausgesetzt, man befreite die Gullys und Abflüsse von Laub und anderem Unrat, den das Wasser so mit sich brachte.
Ich saß an meinem Stammplatz unter dem Portrait von JFK, das von Jahr zu Jahr mehr verblasste und sah zur Theke hinüber, um zu sehen, wen der Regen diesmal hereingespült hatte. Man konnte nicht viel von ihm sehen. Aber ich musste über diese rot-schwarz karierte Entenjägermütze grinsen, die er trug, um seinen Kopf trocken zu halten und ich dachte sofort an Elmer Fudd, den ich als Kind ständig nachgeahmt hatte, um meine Mutter damit in den Wahnsinn zu treiben. Die graue Wachsjacke tropfte nicht nur, es goss förmlich von ihr herunter und die Jeans und die groben Arbeitsschuhe waren ebenfalls alles andere als trocken. Er stand inmitten der größer werdenden Pfütze, trank seinen Kaffee und warf dabei einen vorsichtigen Blick durch das Diner, Nelee fragte ihn, ob er auch etwas essen wolle. Er hob nur die Schultern. Ich wand mich wieder meinem Essen zu, bevor es kalt werden konnte und als ich wieder aufsah, hatte er noch immer diese alberne Mütze auf, hustete und sah sich immer wieder um. Er schien zum umfallen müde und trotz des Kaffees zitterten seine Hände. Vielleicht nicht nur vor Kälte.
Ein Trucker, dachte ich. Und dann: Ein Trucker, der sich verfahren hat.
Wir haben keinen Truckerdurchgangsverkehr, denn sie alle benutzen den Highway Nummer fünf, um nach Eugene oder weiter nach Salem zu gelangen. Sweet Home ist nur eine kleine Gemeinde mit etwa siebentausend Einwohnern und wir leben sehr ruhig hier. Manche Fabrikanlage hat mehr Seelen als wir. Niemand kam mehr so einfach durch unser verschlafenes Nest.
Aber einen laut röhrenden Truck vor dem Diner hätten wir gehört, dachte ich als nächstes, und er ist viel zu nass, um in einem Wagen gefahren zu sein.
Das wiederum brachte mich irgendwie auf den Gedanken, dass er zu Fuß gekommen sein könnte. Ich aß meine Nudeln weiter, ich versuchte meine Zeitung weiterzulesen. Als ich den Kopf drehte, war er verschwunden, mitsamt der Elmer-Fudd-Entenjägermütze. Nelee kam an meinen Tisch, um abzuräumen und zu kassieren, bedankte sich für das Trinkgeld und ich fragte sie, wer denn der Typ gewesen sein könnte.
„Wer?“ erwiderte sie.
„Der mit der karierten Mütze“, sagte ich geduldig.
„Der hat nur seinen Kaffee getrunken und ist dann wieder gegangen. Den kannte ich nicht. Ich wollte ihm ein paar Pfannkuchen machen, aber er sagte, er habe keinen Hunger. Dir hat’s geschmeckt, Doc?“
Natürlich hatte es das und ich versprach ihr, morgen wieder hereinzusehen. Meinen Ford hatte ich draußen so nahe wie möglich am Ausgang geparkt, ich sprang hinein und verbrachte mehr Zeit damit, die verdammte Kiste zu starten, als das Mittagessen in Anspruch genommen hatte. Für die Werkstatt hatte ich noch immer kein Geld. Als der Ford endlich ein Einsehen hatte und die Straße hinuntertuckerte, machte ich die Scheibenwischer und das Radio an und wäre fast den Weg nach Hause abgebogen, um so schnell wie möglich wieder in mein Atelier zu kommen, aber ein ganzes Stück oben an der Straße, wo das monströs große Postamt auf der Ecke war, konnte ich durch die Regenschleier die rot-schwarz karierte Mütze sehen. Ohne zu überlegen fuhr ich gerade aus weiter. In Kleinstädten geht niemand verloren, man kümmert sich noch umeinander und wenn ein Fremder ziellos umherläuft und scheinbar irgendetwas sucht, dann bietet man seine Hilfe an. Wohlmöglich versuchte er zu telefonieren und dann musste ihm jemand sagen, dass das Postamt geschlossen war, denn trotz der Größe aus ruhmreich vergangenen Zeiten gab es nur eine Postangestellte und die war im achten Monat schwanger und hatte somit die beste Ausrede der Welt, zu Hause vor dem Fernseher zu sitzen. Der Mann mit der Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, die Hände in den Jackentaschen vergraben und die Schultern nach vorn gezogen, stand vor der geschlossenen Tür des Postamts, starrte auf das Schild mit den offiziellen Öffnungszeiten. Ich hielt den Ford direkt neben ihm. Ich machte das Radio leiser, beugte mich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster hinunter.
„Hallo“, rief ich, „das Postamt ist geschlossen, aber wenn sie irgendwas erledigen wollen...“
„Ich bleib nicht lange.“
Ich behielt mein freundliches Gesicht bei, auch wenn ich diese Antwort nicht gerade erwartet hatte. Er sah unter dem tropfenden Schirm der Mütze zu mir hinüber und bewegte sich nicht und wieder sah ich nicht sehr viel mehr als seine müden Augen. Solche ausgebrannten Lichter hatte ich schon häufig gesehen, aber die Saison der Wanderarbeiter war längst vorbei für dieses Jahr. Die Tagelöhner würden erst nächstes Jahr wiederkommen und auf den Feldern und im Wald bis zur Erschöpfung arbeiten.
„Wenn sie jemanden suchen, bin ich ihnen gerne behilflich. Möchten sie nicht einsteigen? Ich kann sie hinfahren.“
Er schüttelte den Kopf, resignierend und abwehrend und ich begriff endlich, dass er keine Hilfe wollte. Er wollte keine Pfannkuchen und keine freundliche Unterstützung, also hob ich die Handfläche in seine Richtung und fuhr dann doch nach Hause, um noch ein wenig zu malen. Dieses Mal kam nichts Besonderes dabei herum, denn ich konnte mich nicht konzentrieren. Diese Begegnung, dieses kurze Zusammentreffen und die gewechselten Worte hätte ich schnell wieder vergessen, wenn ich von unserer Stadtchronistin Mrs. D. nicht erfahren hätte, dass Jacob einen Landstreicher festgenommen hatte. Jacob ist unser Gesetzeshüter und sieht bei jeder Gelegenheit das Böse über uns hereinbrechen. Er und seine Jungs sind in Ordnung, aber als ich vor zehn Jahren zugezogen war, hatte er ein wachsames Auge auf mich geworfen und sich nur schwer davon überzeugen lassen, dass ich harmlos war. Ansonsten konnte man sich immer auf ihn verlassen, ebenso wie auf die stets funktionierende Gerüchteküche von Mrs. D. Sie sieht aus wie die Parodie einer Klatschtante und ich bin davon überzeugt, dass sie der lebende Beweis von Reinkarnation ist. Ein einziges Leben konnte unmöglich ausreichen, um so viel Neugier und Schadenfreude in einer Person anzusammeln, die nicht einmal eins sechzig groß ist.
Sie rief mich an um zu sagen, dass meine bestellte weiße Farbe da sei und statt wie üblich zu fragen, wie viele Arten von weißer Farbe es geben konnte, gurrte sie, ohne den Tonfall zu ändern oder auch nur Luft zu holen: „Jacob hat einen Landstreicher geschnappt. Er hat ihn bei sich eingebunkert und wie ich gehört habe, soll er ihn nach einer Prügelei in einer Bar festgenommen haben. Und er wollte seinen Namen nicht nennen.“
„Jacob wollte seinen Namen nicht nennen?“ rief ich entsetzt in den Hörer und Mrs. D. kam vor Ungeduld fast nicht mehr auf den Boden zurück.
„Der Landstreicher, Jesus im Himmel, Doc – der Landstreicher wollte seinen Namen nicht nennen. Und jetzt überlegt Jacob, was er machen soll, er könnte ihn natürlich zum Haftrichter nach Eugene bringen, aber dann wäre er einen ganzen Tag fort.“
Ich grinste in mich hinein, aber die Fröhlichkeit verging mir, als mir in den Sinn kam, wer der Landstreicher sein könnte. Natürlich war er es.
Jacob ließ sich von mir auf einen Kaffee einladen und dann schob ich ihm den Vorschlag unter, mich mit dem Fremden unterhalten zu lassen. Ich gelte in der Gemeinde als Intellektueller; wenn einer der Farmer etwas seltsames auf seinem Feld findet, werde ich sofort dazu geholt, um es mir anzusehen, wenn in den Zeitungen etwas von einer neuen Seuche steht, muss ich allen erklären, dass die Chance, in Oregon an Ebola zu erkranken doch relativ gering ist. Selbst die Kinder bringen ihre Haustiere zu mir, denn der Viehdoktor im Ort hat nichts im Sinn mit der Behandlung von Viehzeugs, das nicht der Nahrungsbeschaffung dient. Manchmal komme ich mir vor wie der Dorfschamane, aber es hindert mich nicht daran, mich in meiner Wahlheimat richtig wohl zu fühlen. Und Tracey geht es genau so.
Jacob Overturf brachte mich also mit seinem Problem zusammen. Die Polizeistation in der 12th Avenue, direkt hinter der City Hall gelegen, war nichts weiter als ein einstöckiger Anbau, aber dort fand alles seinen Platz, was Jacob und seine Jungs so brauchten. Die Zelle war ein abgetrennter Raum im hinteren Bereich. Dort saß er auf der Holzpritsche, starrte auf den Fußboden und ohne Jacke sah er dünn und gebeugt aus. Es war warm dort, der Raum lag direkt neben dem bullernden Heizungsofen. Er trug nur T-Shirt und Jeans und das erste, was mir ins Auge fiel, waren die tätowierten Arme. Ich fand es seltsam, dass er diese Mütze nicht abgenommen hatte, aber die professionellen Tätowierungen zogen mich mehr in den Bann. Ich konnte ein klares Muster in dem Wirrwarr aus stilisierten Tieren, Mustern und Linien erkennen. Da ich mich als Maler versuche, lebe ich davon, Muster und Formen zu erkennen und aufzunehmen, mein Auge ist geschult und ich erfasste mein erstes klares Bild von ihm durch diese tätowierten Arme; wie er die Ellebogen auf den Knien abstützte, die Unterarme herunterhängen ließ. Diese Bilder mussten irgendetwas bedeuten, mussten in einem Verhältnis zueinander stehen, aber das war nicht das, worüber ich mit ihm sprechen wollte. Noch nicht.
„Hallo“, sagte ich wieder, wie bei unserer ersten Begegnung.
Mrs. D. musste mit der Schilderung der Schlägerei übertrieben haben, er war unrasiert und blass, aber er hatte keine Verletzungen im Gesicht. Wütende Barbesucher schlugen immer zuerst mit der Faust auf die Nase. Allerdings sprach er auch nicht mit mir. Jacob stand hinter mir und atmete mir in den Nacken. Ich behauptete, ich könne das allein schaffen und schickte ihn weg.
„Ich hab hier nichts zu sagen“, begann ich dann erneut, „aber vielleicht können wir uns trotzdem etwas unterhalten.“
Ich stellte mich vor. Darauf reagierte er nicht und er machte auch nicht die Anstalten, kontaktfreudiger zu werden. Unsere erste Begegnung stand wirklich unter keinem guten Stern und wenn ich nicht so neugierig gewesen wäre, hätte ich es abgebrochen und es wäre mir egal gewesen, wenn Jacob ihn nach Eugene verfrachtet hätte. Aber irgendwie wusste ich, dass ich nur etwas pieken und bohren musste, um etwas aus ihm herauszubekommen. Ich war im Vorteil – ich war kein Cop.
„Es interessiert mich nur, wie du dich in dieses Nest verlaufen hast. Und ob dein Wagen irgendwo an der Straße steht und vielleicht in die Werkstatt geschleppt werden sollte.“
„Ich hab keinen Wagen.“
Ich sah ihn fragend an und als er ein winziges Grinsen in seinem Gesicht aufblitzen ließ, sah er für diesen kurzen Moment jung und unbeschwert aus, dass ich dachte, er könnte als Anfang zwanzig durchgehen.
„Bin zu Fuß unterwegs.“
„Himmel und Hölle.“ Bei diesem Wetter musste er da draußen fast ertrunken sein. „Das ist schon ein wenig verrückt, oder?“
„Kann sein.“ Er sah zu Boden, bewegte vorsichtig die Schultern, als würde ihm etwas weh tun. Damit hatte ich nicht Unrecht, aber das habe ich erst Tage später erfahren. Danach erfuhr ich, wer ihn sich vorgenommen und dafür gesorgt hatte, dass sein Gesicht nichts abbekam.
„Hast du ein bestimmtes Ziel?“ fragte ich.
„Na“, sagte er.
„Wo kommst du her?“
„Hab ich vergessen.“
„Genauso wie deinen Namen?“
„Der Bulle braucht meinen Namen nicht zu wissen. Ich hab die Prügelei nicht angefangen.“
In unserer liebenswerten Gemeinde gab es ein halbes Duzend Typen, denen ich jeden Krawall zutraute und wohlmöglich sagte er ja die Wahrheit.
„Wenn du nicht angefangen hast, hast du aber keinen Grund, deinen Namen nicht zu nennen.“
Er ließ noch immer den Kopf hängen und wir beide wussten es besser – wir wussten, wie es ablief, wie man Sündenböcke suchte und fand und weshalb die Bedrohung immer von außen kam. Vermutlich hatte er es schon oft am eigenen Leib erfahren und weil er zu diesem Thema beharrlich schwieg, fand ich es an der Zeit, über etwas anderes zu sprechen. Ich überlegte und heraus kam gar nichts. Was hätte ich sagen sollen? Es gab in dieser Situation nichts zu sagen, was irgendeinen Sinn gemacht hätte. Ich konnte mich mit allen und jedem stundenlang unterhalten, selbst mit der armen Molly konnte ich ohne Probleme reden und lachen und Gemeinsamkeiten finden. Aber zu diesem Jungen gab es keinen Draht. Ich brauchte es gar nicht erst zu versuchen und bevor ich mich stotternd lächerlich machen konnte, machte ich ihm lieber einen Vorschlag, der ihn aufsehen ließ.


zwei.
Alle nennen mich Doc, weil mein Name nicht ganz so einfach ist und manche ihn noch heute nicht aussprechen können und weil sie damit auch einen guten Teil des Respekts ausdrücken können, den sie jedem entgegenbringen, der die Urkunde eines Doktortitels in seinem Haus hängen hat. Ich male, versuche vergeblich, meinen Lebensunterhalt damit zu verdienen und muss immer wieder zu dem Schluss kommen, dass es doch nicht mehr als ein großes Hobby ist.
Tracey war begeistert von dem Gedanken, aufs Land zu ziehen und das grausame Leben in der Großstadt hinter sich zu lassen und wir beide haben kaum einen Monat gebraucht, um zu begreifen, dass das Leben in einer Kleinstadt auch nicht ohne ist. Man ging nicht gerade zimperlich mit Tier und Natur um in dieser Gegend, aber immerhin kannte man seinen Nachbarn beim Namen und man konnte bei geöffnetem Fenster schlafen – zumindest in unserer Ecke von Sweet Home. Tracey hält an ihrer Begeisterung stur fest, um sich nicht eingestehen zu müssen, sich das Ganze doch anders vorgestellt zu haben, während ich mich mit allem abfinde und es in einigen Bildern verarbeite. Neugierig war ich schon immer und ich habe auch schon immer an das gute im Menschen geglaubt – vielleicht waren Manson und Dahmer nur die Erfindung der modernen Medien, um Bücher zu verkaufen und sich Einschaltquoten zu sichern. Selbst jemand mit einem Doktortitel kann reichlich naiv sein und Tracey tischt mir diesen Vorwurf mindestens einmal pro Woche auf. Sie ist Sprachtherapeutin, wir hatten geglaubt, dass es auch in einer Kleinstadt eine feste Stelle in einer Schule für sie geben würde, aber diese feste Anstellung suchen wir noch heute. Trotzdem hängt sie hauptsächlich zu unserem Lebensunterhalt bei, indem sie in unserem Haus Privatunterricht gibt. Einige der Kinder, die zu uns kommen, haben nur leichte Probleme, sie lispeln oder stottern und die Übungen strengen sie nicht wirklich an, aber wir haben auch schwere Fälle bei uns im Haus. Einige besucht Tracey zu Hause.
Eines dieser halbwüchsigen Mädchen ist geistig zurückgeblieben, hat ein leichtes Handicap und ist als Kind von ihrer Mutter fast totgeschlagen worden. Molly ist sechzehn Jahre alt und hat nach endlosen Operationen wieder ein Gesicht, aber ihr Unterkiefer ist noch nicht kräftig genug und ihre Muskeln brauchen Training. Sie ist ein herzensgutes Mädchen, kommt pünktlich zu ihren Stunden, bleibt zum Kaffee und fährt dann mit dem Bus zurück zu ihrer Pflegefamilie. Dort ist sie ein Mädchen von vielen, wurde aufgenommen, um sie aus dem Heim zu holen, aber sie weiß immer, dass sie nicht das eigene Kind ist. Über ihre Mutter spricht sie nicht, obwohl Tracey meint, es würde dadurch eines Tages aus ihr herausexplodieren. Selbst einige Erwachsene kommen zu uns ins Haus, um Sprachfehler loszuwerden.
Die meisten können mit meinen Bildern nichts anfangen, aber es ist in Ordnung. Am besten kommen meine Produkte noch immer bei den Kindern an, wenn sie auch meist nur sagen, dass es ‚schön bunt’ sei. In diesem Oktober hatte ich nicht viel zustande gebracht, ich hatte versucht, ein neues Thema zu finden und tat mich schwer mit den Farben. Alles, was ich anfasste, ging schief. Also gönnte ich mir etwas Ruhe, nahm den Aushilfsjob als Kunstlehrer bei den Kleinen an und war genug beschäftigt, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, warum die Farben in meinen Bildern zu verlogen aussahen.
Tracey und ich hatten keine Kinder. Wir haben es versucht, aber es klappte nicht und so unterwarfen wir uns der Entscheidung von Mutter Natur. Trotzdem ist unser Haus immer voller Leben und es hätte auch so weiterlaufen können, wenn ich mich in jenem Oktober nicht in die Angelegenheit zwischen Jacob und dem Herumtreiber eingemischt hätte.

„Jacob“, rief ich auf dem Weg in den Büroraum, „ich muss mit dir sprechen.“
Jacob hatte die alte verkalkte Kaffeemaschine angemacht, bei der es fast eine halbe Stunde dauerte, bis der Kaffee durchgelaufen war und es kam immer nur die Hälfte von dem Wasser wieder heraus, was man oben reingeschüttet hatte. Trotzdem schmeckte er noch immer so gut, dass ich auf meine Tasse warten würde. Wir setzten uns an den Tisch, sahen nach draußen in den Regen und ich sagte: „Er hat mir erzählt, dass er den Streit nicht angefangen hat. Er hat sich nur verteidigt. Typen wie er ziehen den Ärger an. Als die Typen ihn in der Bar nicht in Ruhe lassen wollten, ist er nach draußen gegangen und sie sind ihm gefolgt. Ich kann dir natürlich nicht vorschreiben, was du zu tun hast.“
Jacob Overturf sah mich an, als würde ich genau das versuchen.
„Ich will nur wissen, wer er ist. Es laufen zu viele Irre frei herum. Man muss vorsichtig sein.“
Die Unterhaltung in der Zelle war mit einmal ins Rollen gekommen und ich hatte mir ein Bild von unserem unfreiwilligen Gast machen können. Aber schließlich war ich kein Cop und so habe ich Jacob nichts von meiner ganz persönlichen Einschätzung gesagt. Sollte er den Job machen, für den er von unseren Steuergeldern bezahlt wurde.
„Er hat gesagt, dass er jede deine Fragen beantworten wird, wenn du ihn nicht weiter in dem Loch festhältst.“
Jacob polterte: „Ich lass mich doch nicht erpressen!“ aber gleichzeitig grinste er, erhob sich, zog sich die Hose hoch, die ihm nie richtig zu passen schien und machte sich mit seinem Formular auf den Weg. Einer seiner Deputys kam herein, grüßte und verschwand wieder, nachdem er etwas aus seinem Schreibtisch geholt hatte.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Jacob fertig war und zurückkam. Inzwischen war der herrliche Kaffee durchgetröpfelt, ich hatte uns beiden eine Tasse eingegossen. Jacob benutzte große Bürotassen, auf denen für das ortsansässige Eisenwarengeschäft geworben wurde. Es war eine ziemlich schlechte Werbung, die mich immer etwas wütend machte, denn ich hätte dieses belanglose Gekritzel besser hinbekommen.
In Jacobs Schlepptau war unser Herumtreiber, seine Jacke unter den Arm geklemmt, sah uns an und seufzte. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte. Vielleicht ein ‚danke’ oder ein ‚ich werde sie nicht länger belästigen’, aber er sagte überhaupt nichts. Er wartete nur ganz geduldig, bis Jacob seinen Kaffee probiert, sein Formular irgendwo zum Verstauben abgeheftet hatte und sich endlich wieder an ihn wandte.
„Du kannst gehen, Bootsen, das wolltest du doch, oder? Es ist alles erledigt, also verschwinde. Am besten folgst du dem Weg, den du gekommen bist und wir alle vergessen das ganze.“
„Okay“.
Das war der karge Lohn für meine Bemühungen, zwei kurze gemurmelte Silben. Er zog seine Jacke an, drückte sich die Mütze tiefer über die Ohren und ging aus dem Büro. Hinter sich zog er die Tür ins Schloss. Jacob setzte sich zurück an den Tisch und wir tranken Kaffee. Für etwa vierzehn Stunden verschwand Corin aus meinem Leben, ich hatte wieder Zeit, mich um eigene Dinge zu kümmern. Ich machte mir wieder Gedanken um die Farben, die nicht stimmten und ich überlegte, was ich Tracey abends zu essen machen sollte. Ich musste noch einkaufen. Das Bluebell’s hatte immer geöffnet, egal, wann man dort vorbeikam und dort gab es alles, was man so brauchte. Im Moment liefen Regenschirme und Plastikkopftücher ganz gut. Ich besorgte ein paar Kleinigkeiten für das Abendessen und fuhr nach Hause.
Als ich noch allein war, flüchteten sich meine Gedanken kurz zu Corin zurück und über was wir uns in der Zelle unterhalten hatten, aber als Tracey von einem Hausbesuch nach Hause kam, vergaß ich es. Ich erwähnte ihn noch nicht einmal ihr gegenüber.
Am frühen Abend kamen noch mal einige Schüler zu ihr und ich verbrachte die Zeit über meinen Skizzen. Ich begann mit schwarz und weiß zu experimentieren und plötzlich schien ich auf dem richtigen Weg zu sein. Ich konnte fühlen, dass sich etwas tat.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Noch keine Kommentare.

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
On a Rainy Day - Inhaltsangabe  
Give Blood - Inhaltsangabe  
Open All Nite - Inhaltsangabe  
Ouray, Colorado - Inhaltsangabe  
Broken Fingers - Inhaltsangabe  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De