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78 Seiten

On a Rainy Day - Komplett

Romane/Serien · Trauriges
© Tintentod
ON A RAINY DAY

24 Mai 1998 – 13 August 1998

I’m leavin my family, leavin all my friends
my body’s at home but my heart’s in the wind
where the clouds are like headlines on a new front page sky
my tears are salt water and the moon’s full and high
And I know Martin Eden’s gonna be proud of me
and many before me who’ve been called by the sea
to be up in the crow’s nest, singin my say
shiver he timbers
cause I’m a-sailin away
And the fog’s liftin and the sand’s shiftin
I’m driftin on out
ol Captain Ahab, he ain’t not nothin on me, now.
So swallow me, don’t follow me, I’m travlin alone
blue water’s my daughter
n I’m gonna skip like a stone
So please call my missus, gotta tell her not to cry
cause my goodbye is written by the moon in the sky
hey and nobody knows me, I can’t fathom my stayin
shiver me timbers
cause I’m a-sailin away
And the fog’s liftin and the sand’s shiftin
I’m driftin on out
Ol Captain Ahab, he ain’t got nothin on me
so come on swollow me, follow me, I’m travlin alone
Blue water’s my daughter
n I’m gonna skip like a stone
And I’m leavin my family, leavin all my friends
my body’s at home but may heart’s in the wind
where the clouds are like headlines upon a new front page sky
and shiver me timbers
cause I’m a-sailin away

Shiver me timbers, Tom Waits



eins.
Corin Bootsen kam in Oktober zu uns, drei Wochen nach meinem zweiundvierzigsten Geburtstag. Ich hatte keine Party organisiert, aber ein paar schöne Geschenke bekommen. Tracey hatte einen teuren Bildband über Kalifornien gekauft, außerdem noch einen alten Bilderrahmen mit Leinwand. Das Bild war furchtbar, aber die Leinwand hatte eine wundervolle Struktur.
Corin kam wie ein streunender Hund nach Sweet Home, in unsere Kleinstadt. Die Tür des Diners ging auf, ging wieder zu und da stand er vor der Theke und fragte nach einem Bier. Seine Stimme war kaum zu hören. Als Nelee ihm sagte, dass sie am Vormittag keines ausschenken dürfe, nahm er eine Tasse Kaffee und blieb dort stehen, wo er war. Das Diner ist die einzige Einrichtung in unserer Gemeinde, die eine ewig brennende Leuchtreklame besitzt, also war es kein Wunder, dass ich ihn dort zum ersten Mal sah. Das Diner ist die erste Adresse im Ort, nicht, weil es dort das beste Essen gibt, sondern weil es das erste Gebäude ist, wenn man von der 20 in Richtung Lebanon fährt und dadurch durch Sweet Home kommt.
Ich nahm gerade mein übliches frühes Mittagessen zu mir. Wenn Tracey, meine Frau, über Mittags arbeitet, koche ich nicht, sondern gehe ins Diner. Wir wohnen praktisch um die Ecke und Nelee freut sich immer über mein Trinkgeld. Sie meckert nicht über farbbeschmierte Hände, wenn ich bei ihr esse.
Seit zwei Tagen hatte es ununterbrochen geregnet und das war erst der Anfang. In Oregon sind wir Regentage gewöhnt, aber ganz langsam machten sich alle Sorgen wegen dieser Fluten, die aus dem Himmel kamen. Noch schaffte es die alte Kanalisation, das Wasser aufzunehmen und abzuleiten, vorausgesetzt, man befreite die Gullys und Abflüsse von Laub und anderem Unrat, den das Wasser so mit sich brachte.
Ich saß an meinem Stammplatz unter dem Portrait von JFK, das von Jahr zu Jahr mehr verblasste und sah zur Theke hinüber, um zu sehen, wen der Regen diesmal hereingespült hatte. Man konnte nicht viel von ihm sehen. Aber ich musste über diese rot-schwarz karierte Entenjägermütze grinsen, die er trug, um seinen Kopf trocken zu halten und ich dachte sofort an Elmer Fudd, den ich als Kind ständig nachgeahmt hatte, um meine Mutter damit in den Wahnsinn zu treiben. Die graue Wachsjacke tropfte nicht nur, es goss förmlich von ihr herunter und die Jeans und die groben Arbeitsschuhe waren ebenfalls alles andere als trocken. Er stand inmitten der größer werdenden Pfütze, trank seinen Kaffee und warf dabei einen vorsichtigen Blick durch das Diner, Nelee fragte ihn, ob er auch etwas essen wolle. Er hob nur die Schultern. Ich wand mich wieder meinem Essen zu, bevor es kalt werden konnte und als ich wieder aufsah, hatte er noch immer diese alberne Mütze auf, hustete und sah sich immer wieder um. Er schien zum umfallen müde und trotz des Kaffees zitterten seine Hände. Vielleicht nicht nur vor Kälte.
Ein Trucker, dachte ich. Und dann: Ein Trucker, der sich verfahren hat.
Wir haben keinen Truckerdurchgangsverkehr, denn sie alle benutzen den Highway Nummer fünf, um nach Eugene oder weiter nach Salem zu gelangen. Sweet Home ist nur eine kleine Gemeinde mit etwa siebentausend Einwohnern und wir leben sehr ruhig hier. Manche Fabrikanlage hat mehr Seelen als wir. Niemand kam mehr so einfach durch unser verschlafenes Nest.
Aber einen laut röhrenden Truck vor dem Diner hätten wir gehört, dachte ich als nächstes, und er ist viel zu nass, um in einem Wagen gefahren zu sein.
Das wiederum brachte mich irgendwie auf den Gedanken, dass er zu Fuß gekommen sein könnte. Ich aß meine Nudeln weiter, ich versuchte meine Zeitung weiterzulesen. Als ich den Kopf drehte, war er verschwunden, mitsamt der Elmer-Fudd-Entenjägermütze. Nelee kam an meinen Tisch, um abzuräumen und zu kassieren, bedankte sich für das Trinkgeld und ich fragte sie, wer denn der Typ gewesen sein könnte.
„Wer?“ erwiderte sie.
„Der mit der karierten Mütze“, sagte ich geduldig.
„Der hat nur seinen Kaffee getrunken und ist dann wieder gegangen. Den kannte ich nicht. Ich wollte ihm ein paar Pfannkuchen machen, aber er sagte, er habe keinen Hunger. Dir hat’s geschmeckt, Doc?“
Natürlich hatte es das und ich versprach ihr, morgen wieder hereinzusehen. Meinen Ford hatte ich draußen so nahe wie möglich am Ausgang geparkt, ich sprang hinein und verbrachte mehr Zeit damit, die verdammte Kiste zu starten, als das Mittagessen in Anspruch genommen hatte. Für die Werkstatt hatte ich noch immer kein Geld. Als der Ford endlich ein Einsehen hatte und die Straße hinuntertuckerte, machte ich die Scheibenwischer und das Radio an und wäre fast den Weg nach Hause abgebogen, um so schnell wie möglich wieder in mein Atelier zu kommen, aber ein ganzes Stück oben an der Straße, wo das monströs große Postamt auf der Ecke war, konnte ich durch die Regenschleier die rot-schwarz karierte Mütze sehen. Ohne zu überlegen fuhr ich gerade aus weiter. In Kleinstädten geht niemand verloren, man kümmert sich noch umeinander und wenn ein Fremder ziellos umherläuft und scheinbar irgendetwas sucht, dann bietet man seine Hilfe an. Wohlmöglich versuchte er zu telefonieren und dann musste ihm jemand sagen, dass das Postamt geschlossen war, denn trotz der Größe aus ruhmreich vergangenen Zeiten gab es nur eine Postangestellte und die war im achten Monat schwanger und hatte somit die beste Ausrede der Welt, zu Hause vor dem Fernseher zu sitzen. Der Mann mit der Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, die Hände in den Jackentaschen vergraben und die Schultern nach vorn gezogen, stand vor der geschlossenen Tür des Postamts, starrte auf das Schild mit den offiziellen Öffnungszeiten. Ich hielt den Ford direkt neben ihm. Ich machte das Radio leiser, beugte mich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster hinunter.
„Hallo“, rief ich, „das Postamt ist geschlossen, aber wenn sie irgendwas erledigen wollen...“
„Ich bleib nicht lange.“
Ich behielt mein freundliches Gesicht bei, auch wenn ich diese Antwort nicht gerade erwartet hatte. Er sah unter dem tropfenden Schirm der Mütze zu mir hinüber und bewegte sich nicht und wieder sah ich nicht sehr viel mehr als seine müden Augen. Solche ausgebrannten Lichter hatte ich schon häufig gesehen, aber die Saison der Wanderarbeiter war längst vorbei für dieses Jahr. Die Tagelöhner würden erst nächstes Jahr wiederkommen und auf den Feldern und im Wald bis zur Erschöpfung arbeiten.
„Wenn sie jemanden suchen, bin ich ihnen gerne behilflich. Möchten sie nicht einsteigen? Ich kann sie hinfahren.“
Er schüttelte den Kopf, resignierend und abwehrend und ich begriff endlich, dass er keine Hilfe wollte. Er wollte keine Pfannkuchen und keine freundliche Unterstützung, also hob ich die Handfläche in seine Richtung und fuhr dann doch nach Hause, um noch ein wenig zu malen. Dieses Mal kam nichts Besonderes dabei herum, denn ich konnte mich nicht konzentrieren. Diese Begegnung, dieses kurze Zusammentreffen und die gewechselten Worte hätte ich schnell wieder vergessen, wenn ich von unserer Stadtchronistin Mrs. D. nicht erfahren hätte, dass Jacob einen Landstreicher festgenommen hatte. Jacob ist unser Gesetzeshüter und sieht bei jeder Gelegenheit das Böse über uns hereinbrechen. Er und seine Jungs sind in Ordnung, aber als ich vor zehn Jahren zugezogen war, hatte er ein wachsames Auge auf mich geworfen und sich nur schwer davon überzeugen lassen, dass ich harmlos war. Ansonsten konnte man sich immer auf ihn verlassen, ebenso wie auf die stets funktionierende Gerüchteküche von Mrs. D. Sie sieht aus wie die Parodie einer Klatschtante und ich bin davon überzeugt, dass sie der lebende Beweis von Reinkarnation ist. Ein einziges Leben konnte unmöglich ausreichen, um so viel Neugier und Schadenfreude in einer Person anzusammeln, die nicht einmal eins sechzig groß ist.
Sie rief mich an um zu sagen, dass meine bestellte weiße Farbe da sei und statt wie üblich zu fragen, wie viele Arten von weißer Farbe es geben konnte, gurrte sie, ohne den Tonfall zu ändern oder auch nur Luft zu holen: „Jacob hat einen Landstreicher geschnappt. Er hat ihn bei sich eingebunkert und wie ich gehört habe, soll er ihn nach einer Prügelei in einer Bar festgenommen haben. Und er wollte seinen Namen nicht nennen.“
„Jacob wollte seinen Namen nicht nennen?“ rief ich entsetzt in den Hörer und Mrs. D. kam vor Ungeduld fast nicht mehr auf den Boden zurück.
„Der Landstreicher, Jesus im Himmel, Doc – der Landstreicher wollte seinen Namen nicht nennen. Und jetzt überlegt Jacob, was er machen soll, er könnte ihn natürlich zum Haftrichter nach Eugene bringen, aber dann wäre er einen ganzen Tag fort.“
Ich grinste in mich hinein, aber die Fröhlichkeit verging mir, als mir in den Sinn kam, wer der Landstreicher sein könnte. Natürlich war er es.
Jacob ließ sich von mir auf einen Kaffee einladen und dann schob ich ihm den Vorschlag unter, mich mit dem Fremden unterhalten zu lassen. Ich gelte in der Gemeinde als Intellektueller; wenn einer der Farmer etwas seltsames auf seinem Feld findet, werde ich sofort dazu geholt, um es mir anzusehen, wenn in den Zeitungen etwas von einer neuen Seuche steht, muss ich allen erklären, dass die Chance, in Oregon an Ebola zu erkranken doch relativ gering ist. Selbst die Kinder bringen ihre Haustiere zu mir, denn der Viehdoktor im Ort hat nichts im Sinn mit der Behandlung von Viehzeugs, das nicht der Nahrungsbeschaffung dient. Manchmal komme ich mir vor wie der Dorfschamane, aber es hindert mich nicht daran, mich in meiner Wahlheimat richtig wohl zu fühlen. Und Tracey geht es genau so.
Jacob Overturf brachte mich also mit seinem Problem zusammen. Die Polizeistation in der 12th Avenue, direkt hinter der City Hall gelegen, war nichts weiter als ein einstöckiger Anbau, aber dort fand alles seinen Platz, was Jacob und seine Jungs so brauchten. Die Zelle war ein abgetrennter Raum im hinteren Bereich. Dort saß er auf der Holzpritsche, starrte auf den Fußboden und ohne Jacke sah er dünn und gebeugt aus. Es war warm dort, der Raum lag direkt neben dem bullernden Heizungsofen. Er trug nur T-Shirt und Jeans und das erste, was mir ins Auge fiel, waren die tätowierten Arme. Ich fand es seltsam, dass er diese Mütze nicht abgenommen hatte, aber die professionellen Tätowierungen zogen mich mehr in den Bann. Ich konnte ein klares Muster in dem Wirrwarr aus stilisierten Tieren, Mustern und Linien erkennen. Da ich mich als Maler versuche, lebe ich davon, Muster und Formen zu erkennen und aufzunehmen, mein Auge ist geschult und ich erfasste mein erstes klares Bild von ihm durch diese tätowierten Arme; wie er die Ellebogen auf den Knien abstützte, die Unterarme herunterhängen ließ. Diese Bilder mussten irgendetwas bedeuten, mussten in einem Verhältnis zueinander stehen, aber das war nicht das, worüber ich mit ihm sprechen wollte. Noch nicht.
„Hallo“, sagte ich wieder, wie bei unserer ersten Begegnung.
Mrs. D. musste mit der Schilderung der Schlägerei übertrieben haben, er war unrasiert und blass, aber er hatte keine Verletzungen im Gesicht. Wütende Barbesucher schlugen immer zuerst mit der Faust auf die Nase. Allerdings sprach er auch nicht mit mir. Jacob stand hinter mir und atmete mir in den Nacken. Ich behauptete, ich könne das allein schaffen und schickte ihn weg.
„Ich hab hier nichts zu sagen“, begann ich dann erneut, „aber vielleicht können wir uns trotzdem etwas unterhalten.“
Ich stellte mich vor. Darauf reagierte er nicht und er machte auch nicht die Anstalten, kontaktfreudiger zu werden. Unsere erste Begegnung stand wirklich unter keinem guten Stern und wenn ich nicht so neugierig gewesen wäre, hätte ich es abgebrochen und es wäre mir egal gewesen, wenn Jacob ihn nach Eugene verfrachtet hätte. Aber irgendwie wusste ich, dass ich nur etwas pieken und bohren musste, um etwas aus ihm herauszubekommen. Ich war im Vorteil – ich war kein Cop.
„Es interessiert mich nur, wie du dich in dieses Nest verlaufen hast. Und ob dein Wagen irgendwo an der Straße steht und vielleicht in die Werkstatt geschleppt werden sollte.“
„Ich hab keinen Wagen.“
Ich sah ihn fragend an und als er ein winziges Grinsen in seinem Gesicht aufblitzen ließ, sah er für diesen kurzen Moment jung und unbeschwert aus, dass ich dachte, er könnte als Anfang zwanzig durchgehen.
„Bin zu Fuß unterwegs.“
„Himmel und Hölle.“ Bei diesem Wetter musste er da draußen fast ertrunken sein. „Das ist schon ein wenig verrückt, oder?“
„Kann sein.“ Er sah zu Boden, bewegte vorsichtig die Schultern, als würde ihm etwas weh tun. Damit hatte ich nicht Unrecht, aber das habe ich erst Tage später erfahren. Danach erfuhr ich, wer ihn sich vorgenommen und dafür gesorgt hatte, dass sein Gesicht nichts abbekam.
„Hast du ein bestimmtes Ziel?“ fragte ich.
„Na“, sagte er.
„Wo kommst du her?“
„Hab ich vergessen.“
„Genauso wie deinen Namen?“
„Der Bulle braucht meinen Namen nicht zu wissen. Ich hab die Prügelei nicht angefangen.“
In unserer liebenswerten Gemeinde gab es ein halbes Duzend Typen, denen ich jeden Krawall zutraute und wohlmöglich sagte er ja die Wahrheit.
„Wenn du nicht angefangen hast, hast du aber keinen Grund, deinen Namen nicht zu nennen.“
Er ließ noch immer den Kopf hängen und wir beide wussten es besser – wir wussten, wie es ablief, wie man Sündenböcke suchte und fand und weshalb die Bedrohung immer von außen kam. Vermutlich hatte er es schon oft am eigenen Leib erfahren und weil er zu diesem Thema beharrlich schwieg, fand ich es an der Zeit, über etwas anderes zu sprechen. Ich überlegte und heraus kam gar nichts. Was hätte ich sagen sollen? Es gab in dieser Situation nichts zu sagen, was irgendeinen Sinn gemacht hätte. Ich konnte mich mit allen und jedem stundenlang unterhalten, selbst mit der armen Molly konnte ich ohne Probleme reden und lachen und Gemeinsamkeiten finden. Aber zu diesem Jungen gab es keinen Draht. Ich brauchte es gar nicht erst zu versuchen und bevor ich mich stotternd lächerlich machen konnte, machte ich ihm lieber einen Vorschlag, der ihn aufsehen ließ.


zwei.
Alle nennen mich Doc, weil mein Name nicht ganz so einfach ist und manche ihn noch heute nicht aussprechen können und weil sie damit auch einen guten Teil des Respekts ausdrücken können, den sie jedem entgegenbringen, der die Urkunde eines Doktortitels in seinem Haus hängen hat. Ich male, versuche vergeblich, meinen Lebensunterhalt damit zu verdienen und muss immer wieder zu dem Schluss kommen, dass es doch nicht mehr als ein großes Hobby ist.
Tracey war begeistert von dem Gedanken, aufs Land zu ziehen und das grausame Leben in der Großstadt hinter sich zu lassen und wir beide haben kaum einen Monat gebraucht, um zu begreifen, dass das Leben in einer Kleinstadt auch nicht ohne ist. Man ging nicht gerade zimperlich mit Tier und Natur um in dieser Gegend, aber immerhin kannte man seinen Nachbarn beim Namen und man konnte bei geöffnetem Fenster schlafen – zumindest in unserer Ecke von Sweet Home. Tracey hält an ihrer Begeisterung stur fest, um sich nicht eingestehen zu müssen, sich das Ganze doch anders vorgestellt zu haben, während ich mich mit allem abfinde und es in einigen Bildern verarbeite. Neugierig war ich schon immer und ich habe auch schon immer an das gute im Menschen geglaubt – vielleicht waren Manson und Dahmer nur die Erfindung der modernen Medien, um Bücher zu verkaufen und sich Einschaltquoten zu sichern. Selbst jemand mit einem Doktortitel kann reichlich naiv sein und Tracey tischt mir diesen Vorwurf mindestens einmal pro Woche auf. Sie ist Sprachtherapeutin, wir hatten geglaubt, dass es auch in einer Kleinstadt eine feste Stelle in einer Schule für sie geben würde, aber diese feste Anstellung suchen wir noch heute. Trotzdem hängt sie hauptsächlich zu unserem Lebensunterhalt bei, indem sie in unserem Haus Privatunterricht gibt. Einige der Kinder, die zu uns kommen, haben nur leichte Probleme, sie lispeln oder stottern und die Übungen strengen sie nicht wirklich an, aber wir haben auch schwere Fälle bei uns im Haus. Einige besucht Tracey zu Hause.
Eines dieser halbwüchsigen Mädchen ist geistig zurückgeblieben, hat ein leichtes Handicap und ist als Kind von ihrer Mutter fast totgeschlagen worden. Molly ist sechzehn Jahre alt und hat nach endlosen Operationen wieder ein Gesicht, aber ihr Unterkiefer ist noch nicht kräftig genug und ihre Muskeln brauchen Training. Sie ist ein herzensgutes Mädchen, kommt pünktlich zu ihren Stunden, bleibt zum Kaffee und fährt dann mit dem Bus zurück zu ihrer Pflegefamilie. Dort ist sie ein Mädchen von vielen, wurde aufgenommen, um sie aus dem Heim zu holen, aber sie weiß immer, dass sie nicht das eigene Kind ist. Über ihre Mutter spricht sie nicht, obwohl Tracey meint, es würde dadurch eines Tages aus ihr herausexplodieren. Selbst einige Erwachsene kommen zu uns ins Haus, um Sprachfehler loszuwerden.
Die meisten können mit meinen Bildern nichts anfangen, aber es ist in Ordnung. Am besten kommen meine Produkte noch immer bei den Kindern an, wenn sie auch meist nur sagen, dass es ‚schön bunt’ sei. In diesem Oktober hatte ich nicht viel zustande gebracht, ich hatte versucht, ein neues Thema zu finden und tat mich schwer mit den Farben. Alles, was ich anfasste, ging schief. Also gönnte ich mir etwas Ruhe, nahm den Aushilfsjob als Kunstlehrer bei den Kleinen an und war genug beschäftigt, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, warum die Farben in meinen Bildern zu verlogen aussahen.
Tracey und ich hatten keine Kinder. Wir haben es versucht, aber es klappte nicht und so unterwarfen wir uns der Entscheidung von Mutter Natur. Trotzdem ist unser Haus immer voller Leben und es hätte auch so weiterlaufen können, wenn ich mich in jenem Oktober nicht in die Angelegenheit zwischen Jacob und dem Herumtreiber eingemischt hätte.

„Jacob“, rief ich auf dem Weg in den Büroraum, „ich muss mit dir sprechen.“
Jacob hatte die alte verkalkte Kaffeemaschine angemacht, bei der es fast eine halbe Stunde dauerte, bis der Kaffee durchgelaufen war und es kam immer nur die Hälfte von dem Wasser wieder heraus, was man oben reingeschüttet hatte. Trotzdem schmeckte er noch immer so gut, dass ich auf meine Tasse warten würde. Wir setzten uns an den Tisch, sahen nach draußen in den Regen und ich sagte: „Er hat mir erzählt, dass er den Streit nicht angefangen hat. Er hat sich nur verteidigt. Typen wie er ziehen den Ärger an. Als die Typen ihn in der Bar nicht in Ruhe lassen wollten, ist er nach draußen gegangen und sie sind ihm gefolgt. Ich kann dir natürlich nicht vorschreiben, was du zu tun hast.“
Jacob Overturf sah mich an, als würde ich genau das versuchen.
„Ich will nur wissen, wer er ist. Es laufen zu viele Irre frei herum. Man muss vorsichtig sein.“
Die Unterhaltung in der Zelle war mit einmal ins Rollen gekommen und ich hatte mir ein Bild von unserem unfreiwilligen Gast machen können. Aber schließlich war ich kein Cop und so habe ich Jacob nichts von meiner ganz persönlichen Einschätzung gesagt. Sollte er den Job machen, für den er von unseren Steuergeldern bezahlt wurde.
„Er hat gesagt, dass er jede deine Fragen beantworten wird, wenn du ihn nicht weiter in dem Loch festhältst.“
Jacob polterte: „Ich lass mich doch nicht erpressen!“ aber gleichzeitig grinste er, erhob sich, zog sich die Hose hoch, die ihm nie richtig zu passen schien und machte sich mit seinem Formular auf den Weg. Einer seiner Deputys kam herein, grüßte und verschwand wieder, nachdem er etwas aus seinem Schreibtisch geholt hatte.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Jacob fertig war und zurückkam. Inzwischen war der herrliche Kaffee durchgetröpfelt, ich hatte uns beiden eine Tasse eingegossen. Jacob benutzte große Bürotassen, auf denen für das ortsansässige Eisenwarengeschäft geworben wurde. Es war eine ziemlich schlechte Werbung, die mich immer etwas wütend machte, denn ich hätte dieses belanglose Gekritzel besser hinbekommen.
In Jacobs Schlepptau war unser Herumtreiber, seine Jacke unter den Arm geklemmt, sah uns an und seufzte. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte. Vielleicht ein ‚danke’ oder ein ‚ich werde sie nicht länger belästigen’, aber er sagte überhaupt nichts. Er wartete nur ganz geduldig, bis Jacob seinen Kaffee probiert, sein Formular irgendwo zum Verstauben abgeheftet hatte und sich endlich wieder an ihn wandte.
„Du kannst gehen, Bootsen, das wolltest du doch, oder? Es ist alles erledigt, also verschwinde. Am besten folgst du dem Weg, den du gekommen bist und wir alle vergessen das ganze.“
„Okay“.
Das war der karge Lohn für meine Bemühungen, zwei kurze gemurmelte Silben. Er zog seine Jacke an, drückte sich die Mütze tiefer über die Ohren und ging aus dem Büro. Hinter sich zog er die Tür ins Schloss. Jacob setzte sich zurück an den Tisch und wir tranken Kaffee. Für etwa vierzehn Stunden verschwand Corin aus meinem Leben, ich hatte wieder Zeit, mich um eigene Dinge zu kümmern. Ich machte mir wieder Gedanken um die Farben, die nicht stimmten und ich überlegte, was ich Tracey abends zu essen machen sollte. Ich musste noch einkaufen. Das Bluebell’s hatte immer geöffnet, egal, wann man dort vorbeikam und dort gab es alles, was man so brauchte. Im Moment liefen Regenschirme und Plastikkopftücher ganz gut. Ich besorgte ein paar Kleinigkeiten für das Abendessen und fuhr nach Hause.
Als ich noch allein war, flüchteten sich meine Gedanken kurz zu Corin zurück und über was wir uns in der Zelle unterhalten hatten, aber als Tracey von einem Hausbesuch nach Hause kam, vergaß ich es. Ich erwähnte ihn noch nicht einmal ihr gegenüber.
Am frühen Abend kamen noch mal einige Schüler zu ihr und ich verbrachte die Zeit über meinen Skizzen. Ich begann mit schwarz und weiß zu experimentieren und plötzlich schien ich auf dem richtigen Weg zu sein. Ich konnte fühlen, dass sich etwas tat.


drei.
„Verrate mir deinen Namen und sei freundlich zu den Polizisten und als Gegenleistung lege ich ein gutes Wort für dich ein.“
„Weshalb sollten sie das für mich tun?“
„Vielleicht bin ich ein netter Kerl. Vielleicht will ich aber auch nur unnötigen Ärger vermeiden.“
„Corin Bootsen. Ich hab mich bei dieser Sache nur verteidigt. Die kamen zu dritt auf mich zu, haben ihre dummen Witze gerissen und mich angerempelt. Haben nicht mit meiner Faust gerechnet. Ich wollte nicht warten, bis einer n Messer zieht.“
„Ist dir so was schon passiert?“
Er zeigte seine Hände, spreizte die Finger etwas. Danach wusste ich, wie Abwehrverletzungen aussehen. Er drehte sich um, zog das T-Shirt hoch und zeigte mir auch seinen Rücken.
„Das war wohl mehr als nur ein kleiner Schubser.“
Sie hatten ihn mit dem Rücken auf die Bordsteinkante der Straße geworfen, nicht nur einmal, und bei weniger Glück im Unglück hätten sie ihm damit das Rückgrat brechen können.
„Ich warte nur, bis der Regen aufhört, dann bin ich weg. Ich bin lieber unterwegs, wenn’s trocken ist.“
„Per Anhalter fahren kann gefährlich sein.“
„’nen Anhalter mitnehmen auch. Die Chancen stehen also gleich.“
Ich konnte seinen Akzent nicht einordnen, er sprach wie jemand, dem alles gleichgültig ist, er verschluckte Endungen, machte keine langen Sätze. Er hatte kein Ziel für seine anstrengende Reise, er wollte nirgendwo ankommen, nur unterwegs sein. Niemand kümmerte sich um ihn und er kümmerte sich nicht um seine Mitmenschen, auch das nannte er fair und eine optimale Lösung. Er ging auf meinen kleinen Handel ein, für den ich keinen Dank bekam.
Am Morgen des nächsten Tages sah ich ihn wieder, wenn auch nur im vorbeifahren. Er trödelte über die Main Street, hielt eine Flasche Milch in der rechten Hand und war auf der Höhe des Eisenwarenladens, als ich den Ford an ihm vorbeisteuerte. Ich hupte ihn an und er hob die Hand in meine Richtung. Tracey wollte wissen, wer da gegrüßt habe.
„Das war Corin“, sagte ich.
„Er sieht aus wie ein Penner.“
„Er sieht nicht nur so aus, er treibt sich herum. Aber er ist freundlich, wenn man ihn wie einen Menschen behandelt.“
„Da ist er wieder.“
„Wer?“
„Dein Unterton.“ Tracey sah mich leutselig an. „Dein warum-können-nicht-alle-Menschen-Freunde-sein-Ton. Den du aus deinen wilden Zeiten herübergeschmuggelt hast.“
Tracey ist nur neun Jahre jünger als ich, aber mit der Love & Peace Ära hat sie schon nichts mehr mit am Hut. Wenn ich alte Fotos hervorkrame und in einer Nostalgiewelle versinke, dass ich förmlich die Haschzigaretten wieder riechen kann, macht sie sich vor Lachen fast in die Hosen.
„Du könntest Corin fragen, was er von den 80ern hält“, erwiderte ich, „die Jungs aus der Abschlussklasse hätten ihm fast den Rücken gebrochen.“
„Schon gut, ich sage nichts mehr.“
Wir waren auf dem Weg zur Schule, wo ich den ganzen Vormittag zu tun haben würde, hatte mal wieder Mühe, mich an den Lehrplan zu halten und hätte mir Gedanken über die Doppelstunde machen sollen, aber statt dessen grübelte ich darüber nach, wo Corin übernachtet haben könnte. Und wo er hin wollte so früh am Morgen. Sich irgendwo aufwärmen, etwas essen? Nelee mit ihrem guten Herzen würde ihm vermutlich einen Kaffee spendieren und noch einen Donut dazu. Hoffentlich war in der Milchflasche wirklich nur Milch gewesen, denn Alkohol auf offener Straße lief bei Overturf unter ‚Störung der öffentlichen Ruhe’ und er hatte eine weit gefächerte Strafmaßpalette für solche Fälle.
Im Gang des Schulgebäudes trennten sich Traceys und meine Wege, ich ging in meine Klasse und rief dem lärmenden Haufen zu, dass der Spaß jetzt vorbei sei. Ich ließ sie dann irgendein Motiv mit viel Wasser malen. Die meisten Kinder malten Boote auf dem Meer, eines der Vietnamesenkinder malte eine Badewanne mit Schaumbad und Quietscheente. Die Bilder sammelte ich während der Pause ein und schrieb ein paar Sätze auf die Rückseiten. Keine Noten, denn die Kunst von Kinderhand ließ sich nicht bewerten. Mein Vorgänger war da anderer Meinung, aber es stand nirgendwo geschrieben, dass man jede Dummheit eines Älteren übernehmen sollte. Die Jungs und Mädchen in der Klasse mochten mich, aber sie mochten wohl jeden Aushilfslehrer, weil die den Unterricht nie so scharf angingen und ich war zufrieden mit dem Job. Zeit zum malen hatte ich trotzdem.
Am Nachmittag war mir nach einem Stück Kuchen und Kaffee, also stattete ich dem Diner einen Besuch ab und traf dort George und Bruce, die zusammen an einem Tisch saßen und sich mal wieder über alles in die Haare bekamen. Ich war gezwungen, mir ihre Streitereien über Gott und die Welt anzuhören, konnte nicht mal in Ruhe meinen Kaffee trinken und mischte mich schließlich doch noch ein.
„Hört mal, Reagan liebt den kalten Krieg“, sagte ich an beide gewandt, „er hat das passende Feindbild und sieht immer gut aus als Vorkämpfer gegen den Kommunismus. Außerdem pusht er die Rüstungsindustrie und schafft Gründe, um unliebsame Gegner auszuspionieren. Erzählt mir bloß nicht, Reagan wollte das Beste für unser Land.“
„George“, sagte Bruce, „ich weiß bis heute nicht, wie du ihn wählen konntest.“
„Du hast ihn doch auch gewählt.“
„Ich? Nie im Leben.“
„Du hast es mir doch selbst erzählt.“
„Das verwechselst du mit irgendwas.“
„Ich werde doch noch wissen, was du mir erzählt hast.“
Ich glaube, die beiden Alten haben schon im zweiten Weltkrieg gemeinsam im Schützengraben gelegen und sich darüber gestritten, wer welchen Schuss abgegeben hat, aber das Leben hat sie zusammen geschweißt, was aber auch nicht hieß, dass sie sich deshalb innig liebten. Sie ergänzten sich einfach so perfekt wie ein altes Ehepaar. Bruces Frau ist vor zwanzig Jahren gestorben und man munkelte, dass Bruce nur geheiratet hatte, um den Schein zu wahren. George hatte man nie mit einer Frau gesehen. Aber was immer an den alten Gerüchten dran sein mochte – inzwischen waren die beiden zu alt, um noch lasterhafte Dinge unter Männern zu verrichten.
Gregory Zandt, der Besitzer des Diners und Nelees Boss, hatte einmal gesagt, dass George und Bruce schon so alt seien, dass sich die Würmer schon Lätzchen umbänden, wenn die beiden über den Friedhof gingen.
Nelee kam an meinen Tisch und goss mir den Kaffee nach und ich sah sie leicht verzweifelt an, worauf sie ihr Grinsen hinter der Hand verbarg. Da erst entdeckte ich, dass auch Corin in dem Diner Zuflucht gesucht hatte.
„Wie lange ist er schon hier?“ fragte ich und Nelee sagte: „Seit ich heute morgen aufgeschlossen habe.“
Er hatte eine Tasse Kaffee und einen leeren Kuchenteller vor sich stehen, spielte unablässig mit dem blanken Serviettenspender aus Edelstahl, als habe er so ein Ding noch nie gesehen.
George und Bruce, das Doppelpack Altersstarrsinn, hatten ihr Lieblingsthema angeschnitten und ich suchte das Weite. Mit monotoner Begeisterung versuchten sie sich gegenseitig mit ihren Krankheiten und Zipperlein zu übertrumpfen und was konnte mir besseres einfallen, als Corin Hallo zu sagen. Er sah mich unter der Mütze hervor an und hob nur die Schultern, als ich fragte, ob ich mich setzen dürfe. Diese Mütze hatte er in der ersten Zeit ständig auf und erst, als er sie abnahm, war es offensichtlich, warum. Obwohl ich ihn danach gefragt habe, hat er mir nie gesagt, was passiert war.
„Bist du irgendwo untergekommen?“
„So ähnlich“, sagte er. Was ‚so ähnlich’ hieß, war ihm anzusehen. Er schlief in den Klamotten, in denen er ständig nass wurde und er war offensichtlich krank. Sein Husten hörte sich an wie der eines dämpfigen Pferdes.
„Du hast dir wirklich ein ungünstiges Wetter ausgesucht, um unterwegs zu sein.“
„Ich bin immer unterwegs.“
Er gehörte zu den Typen, die sich in den Tankstellenwaschräumen rasierten und dort in den Waschbecken ihre Klamotten mit Seife und kaltem Wasser wuschen und ich wagte mir nicht vorzustellen, was ihn auf die Straße und in dieses Leben getrieben haben mochte. Ich versuchte den freundschaftlichen Ton.
„Es gibt Leute, die sind an so einem Husten gestorben. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag es bitte. Und wenn ich dir Hilfe anbiete, sei bitte nicht zu stolz, sie anzunehmen. Du bist nicht umsonst in unserer Stadt gelandet und hängen geblieben.“
Corin sah mich an, als müsse er über ein unanständiges Angebot nachdenken. Hinter uns gackerten die beiden Oldtimer und einer von ihnen rief nach mir.
„Doc, wer ist das bei dir am Tisch? Ein neuer Schüler deiner Frau?“
Ich zog es vor, nicht zu antworten, aber das hinderte Bruce nicht daran, das Thema auszubreiten und totzutrampeln.
„Hat er auch irgendeinen Dachschaden? Gibt’s bei ihm was zu reparieren? Jedenfalls würde keiner von unseren Jungs so eine bescheuerte Mütze tragen.“
Ihr Gegacker ging durch das ganze Diner. Ich sah in Corins Augen Resignation und dass er die Demütigungen nur wegsteckte, weil er nicht hinaus in den Regen wollte.
„Was macht ihre Frau?“ wollte er von mir wissen. Das fragte er wohl nur, um von den Oldtimern abzulenken.
„Sie ist Logopädin, Sprachtherapeutin. Das hat nichts mit behinderten Menschen zu tun. Sprachfehler kann jeder haben. Hauptsächlich arbeitet sie mit Kindern.“
Bis auf die Frozzeleien der beiden Alten war die Situation ruhig und entspannt, aber sie eskalierte, als Jacob hereinkam, um sich seine Thermoskanne mit Kaffee auffüllen zu lassen. Es musste einer der Tage gewesen sein, an denen er mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden war, oder wie Tracey stets vermutete, einer der Tage, an denen seine Frau ihn nicht rangelassen hatte. Er verbreitete jedenfalls keine positive Stimmung.
Ohne viel Federlesens und ohne überhaupt ein Wort zu verlieren, deutete er Corin, dass er sich vom Stuhl erheben solle und als er das tat, schob er ihn gegen die Wand, drehte ihn um und ließ ihn die Hände heben.
„Hey“, sagte ich, „Jacob?“
„Du hältst dich raus, Doc.“
Das Gegacker der alten Kerle war verstummt, so sehr waren sie mit Glotzen beschäftigt. Nelee kam aus der Küche, lief zurück und kam in Begleitung des Kochs wieder, um ihn auch sehen zu lassen, was sich dort abspielte.
Jacob trat Corin die Füße auseinander, klopfte und tastete ihn ab und nachdem er nichts gefunden hatte, ließ er ihn die Arme herunternehmen und legte ihm Handschellen an.
„Jetzt geht der Spaß aber zu weit“, sagte ich und Jacob erwiderte, dass es kein Spaß sei.
„Ich verhafte ihn wegen Landstreicherei. Ich will mir nicht sagen lassen müssen, ich hätte nichts unternommen, wenn irgendeine Scheune in Flammen steht, nur weil ein Penner darin geraucht hat. Ich hab in den Pensionen nachfragen lassen und dort wohnt er nirgends, also kommt er zum schlafen irgendwo unter. Los“, sagte er auffordernd und schob Corin vor sich her, „gehen wir.“
Corin wagte keinen Ton zu sagen. Ich überlegte nur ganz kurz, ob ich den Mund halten solle, aber meine Seite mit dem Engelchen bekam die Oberhand.
„Hast du in Erwägung gezogen, dass ihn jemand aufgenommen haben könnte, Jacob?“ sagte ich beiläufig. Sie sahen mich beide groß an.
„Warum sollte jemand so was tun?“
„Du weißt doch, dass ich seit Monaten versuche, meinen Schuppen und die Garage aufzuräumen und einfach nicht dazu komme. Sagen wir einfach, ich habe jemanden gefunden, der das für mich erledigt und dafür drei Mahlzeiten am Tag und das Gästebett bekommt.“
„Du bist verrückt, Doc“, sagte Jacob. Er stupste Corin unsanft in den Rücken, der vor Schmerz zusammenzuckte und fragte: „Stimmt das, was Doc hier erzählt?“
Manchmal wird man im Leben vor Entscheidungen gestellt, von denen man nicht absehen kann, wie sie alles nachfolgende verändern werden, was für Konsequenzen sich daraus ergeben. Ich denke, es ist nur gut, dass man es vorher nicht weiß, welchen Weg man gehen wird, denn ansonsten würde man so scheinbar einfache Entscheidungen gar nicht mehr treffen können.
Corin sah mich an und obwohl das Misstrauen groß zu sein schien, erklärte er: „Drei Mahlzeiten und das Gästebett.“
Jacob blieb gar nichts anderes übrig, als ihm die Handschellen abzunehmen und mit seiner Thermoskanne zu verschwinden.
„Vielen Dank“, sagte Corin. Er machte Anstalten zu gehen und ich rief hinter ihm her: „Wo willst du hin?“
Damit hatte er nicht gerechnet, dass ich den Vorschlag ernst gemeint haben könnte.
„Overturf wird in den nächsten Tagen ganz zufällig bei mir hereinschauen“, erklärte ich leise, „und wenn dann mein Schuppen noch immer so aussieht, als habe dort eine Bombe eingeschlagen, kommen wir beide in Teufels Küche. Du kommst am besten sofort mit und verdienst dir dein Abendessen.“
„Und wie lange sollen wir das durchziehen?“
„Solange, wie du hier bleibst und in Ruhe gelassen werden willst.“
„Ich bin kein guter Arbeiter.“
„Verlangt auch niemand. Wir wollen nur Jacob zufrieden stellen, Okay?“
„Okay.“
So kam Corin in unser Haus. Irgendwie musste ich Tracey den Gast erklären, inzwischen war sie aus der Schule zurück und erzählte, wie das Gespräch gelaufen war, sie bemühte sich noch immer um eine Anstellung. Natürlich hatte man sie wieder vertröstet.
„Irgendwann wird es schon klappen“, sagte ich, „ich habe übrigens einen Gast zum essen mitgebracht.“
„Warum lässt du Ned im Wagen sitzen?“
„Es ist nicht Ned.“
Ned Palafox war Vorarbeiter auf einer der umliegenden Farmen und ein guter Freund, ab und zu kam er auf seinem Westernpferd in die Stadt geritten und wir spielten Schach oder machten eine Flasche Wein auf. Ich kenne niemanden, der so sehr vom Klischee abweicht wie er.
„Wen hast du mitgebracht?“
„Erinnerst du dich an Corin?“
„Oh nein.“ Sie sah mich entgeistert an. „Du willst, dass ich für deinen Herumtreiber koche?“
In schnellen Worten erzählte ich ihr von der Sache, wie ich seine Verhaftung verhindert hatte.
„Verstehst du, er hat nichts getan, außer dass er keine Unterkunft hat. Ist das ein Grund, ihn einzubuchten?“
„Wo soll er schlafen? Zwischen uns in der Besucherritze?“
„Ich dachte, er geht in den Schuppen, wenn ich ihm dort das Klappbett hinstelle. Er kommt dann nur zu den Mahlzeiten ins Haus.“
„Schön“, meinte sie, „ich glaube, damit kann ich leben.“
Sie würde also für drei kochen und ich holte Corin aus dem Auto, in dem er geduldig gewartet hatte.
„Sie ist nicht begeistert“, sagte ich, „aber wenn du dich einigermaßen benimmst, wird es schon gut gehen. Sie heißt Tracey.“
Ich hatte ein Stück vor der Garage geparkt, weil dort ein solches Durcheinander und Chaos herrschte, dass ich den Ford schon nicht mehr hineinfahren konnte.
„Und wenn wir reinkommen“, sagte ich und drehte mich halb zu Corin um, „nimmst du besser diese Mütze ab.“
Ich hätte sehen müssen, dass er verlegen wurde und es hätte mir etwas sagen müssen, dass er die Mütze auch in der heißen Zelle nicht abgenommen hatte, als wir uns das erste Mal unterhalten hatten. Ich führte ihn durch das Erdgeschoss unseres Hauses, durch den kurzen Flur in das Wohnzimmer mit der großen Fensterfront mit Blick auf den Wald, nebenan lag die Küche, nur abgetrennt durch eine brusthohe Theke, an der ein paar Barhocker standen. Hinter mir bekam Corin einen Hustanfall, der ihn fast ersticken ließ und ihm das Wasser in die Augen trieb, er rang um Fassung und als Tracey sich zu uns herumdrehte, erinnerte er sich an meine Mahnung und zog sich die Entenjägermütze vom Schädel. Tracey zog scharf die Luft ein.
„Hallo“, sagte sie dann sehr gefasst, „ich bin Tracey. Doc wollte, dass sie in unserer Scheune unterkommen, aber er hat vergessen mir zu sagen, dass sie krank sind. Sie schlafen natürlich im Haus.“ Sie wurde etwas leiser und fragte: „Haben sie das behandeln lassen?“
Später am Abend, als wir allein waren, sagte sie zu mir: „Mein Gott, er sieht aus wie der arme alte Barney.“
Barney war ein alter grauer Beagle, der einem Kind in der Nachbarschaft gehört hatte. Sls eines Tages die Scheune der Farm abfackelte, fielen brennende Trümmer auf seine Hundehütte und setzte auch sie in Brand. Das entsetzte Mädchen hatte ihren leblosen Hund auf dem Arm die Straße hinunter bis zu unserem Haus getragen und um Hilfe geweint. Auf dem Küchentisch hatte Barney bei uns gelegen, verbrannt und verkohlt, kaum noch als Hund erkennbar und fürchterlich riechend.
„Bitte helfen sie ihm“, hatte das Mädchen geweint, „bitte machen sie ihn wieder gesund.“
Barney war so verbrannt, dass ich ihm nicht hätte helfen können, so gern ich es auch getan hätte, und es war ein Glück, dass er schon tot gewesen war, denn ich hatte nichts im Haus außer einem Hammer, um ihn von diesem Leid zu erlösen. Das Mädchen hatte sich nur schwer trösten lassen, aber sie war zufrieden, als ich ihr sagte, dass Barney ganz friedlich eingeschlafen sei.
Corin Bootsens Kopf sah genauso aus wie damals der tote Beagle. Sein ganzer Hinterkopf war verbrannt, angefangen im Nacken und hinter den Ohren, bis hinauf über die Stelle, wo der Wirbel beginnt. Die Haare waren fort, die nackte Haut rosa und dünn, überall waren noch Spuren des Feuers, nicht verheilte offene Stellen und schwarzes getrocknetes Blut, Teile abgestorbener Haut. Die Stellen, an denen die Haut sich erholt hatte, wuchsen weiche schüchterne Haarbüschel. Sein Haar war kurz geschnitten, an den Schläfen und über der Stirn wuchs es normal, als wenn die Verletzungen dort nicht so stark gewesen wären. Corin war ängstlich, das erste Mal, dass ich ihn so sah. Er fuhr sich mit der flachen Hand über den Schädel, was bei mir einen wahren Entsetzensschauer auslöste, und sagte: „Es ist schon Okay. Ich hab ’ne Salbe bekommen dafür.“
„Nur mit einer Salbe ist es aber nicht getan.“
Tracey dachte nicht daran, sich nach diesem Anblick noch um das profane Essen zu kümmern, das überließ sie mir; statt dessen bemutterte sie Corin, als sei er ein aus dem Nest gefallenes Küken. Als die beiden aus dem Badezimmer wiederkamen, hatte ich das Essen fertig, den Tisch gedeckt und den Wein aufgemacht. Die beiden waren inzwischen bei den Vornamen und einem freundschaftlichen Ton gelandet und Tracey schien alle Vorbehalte wegen des Herumtreibers in unserem Haus über Bord geworfen zu haben. Die Atmosphäre zwischen uns war locker und gelöst und Tracey machte Scherze darüber, wie sie ihm den halben Kopf desinfiziert hatte, während er mit dem Oberkörper über der Badewanne mit dem Gesicht nach unten gehangen hatte, aber ich konnte ihr das versteckte Entsetzen und das Mitleid ansehen. Und wir beide haben nie erfahren, wer ihm das angetan hatte, er sagte nur, dass es kein Unfall gewesen sei und nein, bitte, er wolle darüber nicht sprechen.
Er trank nur ein Glas von dem guten Wein, den es zum Essen gab und schlief uns fast an dem Tisch ein, entschuldigte sich und fragte, wo er sich hinlegen dürfe. Er sei mit allem zufrieden.
„Darf ich dich fragen, wo du die letzten Tage übernachtet hast?“ fragte ich.
„Hinter der Tankstelle, da ist so’n kleiner Schuppen, wo das Klopapier und Kanister mit flüssiger Seife gelagert sind. Da hab ich geschlafen.“
„Ich richte unser Gästezimmer her.“ Tracey verschwand nach oben und rief noch einmal zurück: „Zeig ihm doch das Haus, Liebling.“
„Wir nennen es auch unsere Holzhütte“, erklärte ich scherzhaft, „wir haben für die Inneneinrichtung soviel Holz benutzt wie möglich. Hier unten ist die Wohnfläche und oben ist mein Atelier und das Gästezimmer. Wir haben noch zwei Kinderzimmer, aber die stehen leider leer.“
„Was macht man in einem Atelier?“
„Ich male und zeichne ein wenig“, sagte ich und versuchte dabei, mich bescheiden anzuhören. Oben hatte ich einige meiner Bilder aufgehängt, die mir aus persönlichen Gründen viel bedeuten und die ich nie verkaufen würde. Das Portrait meiner Eltern gehört ebenso dazu wie einige abstrakte Werke, die Zeugnis dafür ablegen, dass ich versuche, mich weiterzuentwickeln.
Ich schaltete das Licht ein, führte Corin herum, der die Hände in die Hosentaschen geschoben hatte, sich umsah und vor meinem Mosaik stehen blieb. Die meisten Gäste bleiben vor diesem Bild hängen, weil es eine halbe Wand bis unter die Decke einnimmt. Die Leinwand ist auf einem riesigen Rahmen gespannt und wenn ich das Mosaik jemals aus dem Haus bringen müsste, würde mir nichts anderes übrig bleiben, als es herauszuschneiden.
Corin stand davor, legte den Kopf in den Nacken und ich dachte, ich müsse ihm das Bild erklären, müsse ihm vom Rad der Zeit erzählen und vom Schicksal und der Sinnlosigkeit, auch nur zu versuchen die Dinge zu ändern, die man nicht ändern konnte.
„Hast du das gemalt?“ fragte er und ich bejahte.
„Ich weiß, wie sich das Bild anfühlt“, sagte er ernst, „aber es wird besser, wenn ich unterwegs bin. Das hier tut richtig weh, wenn ich es anseh.“
Die meisten meiner Freunde und Bekannte können mit dem Mosaik nicht besonders viel anfangen, sie stehen meist fragend davor und warten darauf, dass ich die einzelnen Fragmente erkläre. Ich bin niemandem böse deswegen, sie verstehen einfach die Sprache des Bildes nicht, auf die man sich einlassen muss, aber Corin stand mit großen Augen und offenem Mund davor, den Kopf in den Nacken gelegt, starrte es so lange an, dass ich schon dachte, ihm würden die Augäpfel austrocknen. Ich erklärte: „Das Mosaik ist das Ventil gewesen, um eine schlimme Erfahrung verarbeiten zu können. Was siehst du darin?“
„Tut weh“, wiederholte er. Seine Stimme wurde leiser. „Schmerz, Wut und Verzweiflung. Ich kenne das, Doc, aber ich würde mir das alles nicht meterhoch an die Wand malen.“
„Es sollte auch weh tun“, sagte ich, fragte mich gleichzeitig, wie ein Herumtreiber wie er ein solches Gespür entwickelt haben konnte. Aber danach fragte ich ihn nicht.
„Ja?“ erwiderte Corin und wandte sich von dem Bild ab, mit einem sehr konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht.
„Ich musste diese Gefühle einfach loswerden“, sagte ich, „deshalb habe ich sie in dieses Bild gepackt. Es entstand, als Tracey die zweite Fehlgeburt hatte und uns der Arzt im Krankenhaus sagte, dass sie nie Kinder bekommen würde. Wir haben uns nichts mehr gewünscht als ein Kind. Und die Verzweiflung darüber musste ich verarbeiten. Es ist ein sehr persönliches Bild.“
Corin machte nicht den Eindruck, als würde er es verstehen; er begriff wohl die Bildsprache, die ich benutzt hatte, aber nicht die Beweggründe, so etwas überhaupt zu erschaffen.
„Das hier ist jedenfalls mein Atelier“, fuhr ich fort. Ich hob die Arme und drehte ich einmal um die eigene Achse. „Ich habe einen Doktortitel der Naturwissenschaften, aber ich habe mich schon seid fünfzehn Jahren der Malerei verschrieben. Dort drüben hängt mein Diplom. Als einer der hiesigen Handwerker es zum ersten Mal gesehen hat, hatte ich meinen Spitznamen weg.“
Mein Doktor scientiarum naturalium hinter Glas schien Corin weniger Kopfschmerzen zu bereiten, er grinste vorsichtig.
Martin Zivcovic, das ist der Name, den mein Vater mir vermacht hat und ich habe mich immer geweigert, ihn zu naturalisieren und ihm die Spitzen und Kanten zu nehmen, was natürlich bedeutet, dass ihn beim ersten Mal so gut wie niemand flüssig aussprechen kann. Doc ist da doch sehr viel einfacher und geläufiger.
„Was macht ein Doktor, der Bilder malt?“ fragte Corin, bei ihm klang diese Frage, als wäre sie der erste Teil eines Witzes.
„Ich genieße mein Altenteil und verkaufe ab und zu ein Bild“, erklärte ich.
Corin grinste noch immer und in diesem Moment dachte ich, dass er mit seinem halb verbrannten Kopf eigentlich keinen Grund zum Fröhlichsein hatte, dazu noch in einer Situation, in der er ohne jeden Schutz und Rückhalt durch die Weltgeschichte schlich, ohne Heim, ohne Familie und ohne Freunde. In diesem Moment tat er mir so leid, das ich glaubte, etwas von dem zu fühlen, was er fühlte.


vier.
Jacob war misstrauisch, denn er kam einige Tage später, als Corin schon fleißig dabei war, den Schuppen zu entrümpeln, mit seinem Dienstwagen vorgefahren, stieg aus und kam unter die schützende Veranda getrabt.
„Wie geht’s?“ rief ich ihm aus der Tür entgegen, er machte nur eine Kopfbewegung zum Schuppen hinüber und erwiderte: „Wie läuft es mit ihm?“
„Keine Probleme. Wir kommen gut miteinander aus.“
Kurz bevor der Polizeiwagen die Auffahrt heraufgekommen war, hatte Corin noch neben mir gestanden und eine Zigarette geraucht, auf dem Kopf eine meiner alten Baseballkappen gegen den Regen; ohne ersichtlichen Grund hatte er sich umgedreht und war wieder an die Arbeit gegangen.
Sieh an, dachte ich, hat er wohl irgendwie geahnt, dass Jacob vorbeikommen würde.
Jacob Overturf zeigte ein reichlich stures Gesicht, als ich ihn auf einen Kaffee hereinbat und das verhieß nichts Gutes. An seinem Gesicht konnte man immer ablesen, was er vorhatte – er war ein miserabler Kartenspieler.
„Ich muss mit dir sprechen“, sagte er, „aber nicht hier draußen.“
Wir setzten uns in den Erker, von wo aus wir die kontinuierliche Arbeit vor dem Schuppen sehen konnten und dann holte ich Jacob doch noch einen Kaffee, damit er sich die kalten Finger an der Tasse wärmen konnte.
„Es ist so“, begann er, unsicher darüber, wo er beginnen sollte, „Corin Bootsen hat mir keine Ruhe gelassen, also habe ich jemanden angerufen, der seine Daten in den Computer eingegeben hat. Und das Ergebnis habe ich dann mit der Post heute morgen bekommen.“
Er legte einen großen gelben Umschlag auf den Tisch und ich sagte sofort: „Das will ich gar nicht sehen, Jay.“
„Das solltest du aber.“
Der Umschlag lag unberührt zwischen uns, ich hielt den Blick auf Jacob gerichtet und seufzte.
„Ich gebe ihm hier eine Chance, sein Leben etwas in den Griff zu kriegen, etwas zu tun, was Arbeit nahe kommt und dafür etwas zu bekommen. Er hat mir erzählt, dass er unterwegs ist, ich weiß auch, dass so jemand immer irgendwo aneckt und Ärger macht. Ich will nicht wissen, was er getan hat, Jacob, ich denke, ich kann ihm soweit vertrauen, dass er uns nicht das Haus über den Köpfen anzündet.“
„Ich lasse dir die Kopien hier“, erwidert Jacob. Er klang sehr beleidigt. Trotz allem trank er noch seinen Kaffee, fragte nach Tracey und beobachtete immer wieder, wie da draußen Corin im strömenden Regen alte Kartons, Kisten, Wäscheständer, Fahrräder, Farbeimer und vermoderte Holzteile nach draußen schleppte. Er arbeitete langsam und achtete stets darauf, dass seine Zigarette nicht ausging, aber er legte keine Pause ein und hatte ein erkennbares System bei dem, was er tat; wie auf einem ordentlichen Schrottplatz hatte er einen Haufen mit Metall, einen mit Holz und einen mit Plastik in der Einfahrt aufgetürmt. Die Ecke mit den Glasflaschen war erstaunlich groß, dass ich mich fragte, wo sich das alles angesammelt haben könnte.
„Da tauchen bestimmt noch einige Schätze auf“, sagte ich scherzhaft, „den Schuppen haben wir schon halb voll vom Vorbesitzer übernommen.“
„Ich hoffe, der Regen lässt bald nach“, antwortete Jacob.
Der nahe liegende Fluss hatte sich längst in einen braunen breiten Strom verwandelt, der sich über das umliegende Land ausbreitete und langsam die Farmer in Bedrängnis brachte. Einige Straßen waren unterspült und gesperrt, ein paar Rinder ertrunken und es regnete immer noch. Ich dachte nur daran, dass Corin uns bei trockenem Wetter verlassen würde und vermutlich würden wir nie wieder etwas von ihm hören, also war mein eigennütziger Gedanke, dass es ruhig noch etwas länger regnen könne – einige Tage, einige Wochen.
Jacob verabschiedete sich, ließ den Umschlag zurück und verschwand. Ich holte mir einen frischen Kaffee und setzte mich zurück in den Erker. Der Umschlag, der dort auf dem Tisch lag, machte mich neugierig, aber ich widerstand. In einer Hand den Kaffee, in der anderen den Umschlag, schob ich die Fliegengittertür auf und rief zu Corin hinaus: „Soll ich uns was zu essen machen?“
Er sah auf und deutete mit dem Daumen nach oben. Ich machte uns zwei dieser Mikrowellengerichte und ließ den Umschlag auf der Mikrowelle liegen, vergaß ihn dort. Das Essen war heiß, ich packte es auf zwei Teller und wartete. Corin kam nicht, also rannte ich in den Schuppen hinunter, um nachzusehen, was ihn aufgehalten haben mochte.
Er hatte eine schmale Schneise in den Unrat des Schuppens gearbeitet, rechts und links stapelte sich noch immer das Zeug, ineinander verkeilt, hoffnungslos verstaubt. Unter dem blinden Fenster kniete Corin, hatte die Einzelteile eines Schrankes beiseite gezogen und dahinter etwas gefunden, wovon auch ich keine Ahnung gehabt hatte. Er war so vertieft, an den Metallteilen herumzureiben und den Zustand zu überprüfen, dass er zusammenzuckte und aufsprang, als ich ihn ansprach.
„Ein Motorrad?“
Er zuckte hoch und stieß dabei an die Bretter, die krachend neben ihm umfielen, eine Staubwolke aufwirbelten, aber keinen Schaden anrichteten.
„Ist das deins?“
„Ich hab das noch nie gesehen, muss eines der Dinge sein, die noch vom Vorbesitzer des Hauses übrig waren. Kannst du was damit anfangen?“
„Ich muss sehen, wie gut sie erhalten ist.“
„Sie?“ grinste ich und Corin erwiderte: „Die Maschine. Die Indian.“
„Erzähl mir nicht, das wäre eine Indian.“
Corin benutzte ein Stück seines nassen Ärmels, um ein blaues Metallteil zu säubern und blank zu reiben, der Lack war unbeschädigt und es kam ein aufgemalter Schriftzug zum Vorschein.
„Wouh“, machte ich.
Das Essen hatten wir beide längst vergessen. Wir befreiten das Motorrad vom herumliegenden Schrott und schoben es auf platten Reifen nach draußen. Auf dem ersten Blick war nicht viel von der Indian übrig, das Gummi war brüchig, Lederteiler waren von Ratten zernagt und überall blühte der Rost, aber Corin benahm sich, als habe er den Hauptgewinn gezogen. Er bockte die Maschine ohne Mühe auf, kroch um sie herum und murmelte vor sich hin. Ich stand einfach nur dabei, wurde nass bis auf die Haut und beobachtete ihn.
Als ich mich an das wartende Essen erinnerte, ging ich ins Haus, warf die beiden Teile in den Mülleimer. Durch das Erkerfenster rief ich Corin zu, er solle reinkommen und sich etwas trockenes anziehen. Ich wollte ins Diner.
Wir fuhren die paar Meter durch den Regen und Corin verfiel wieder in sein brütendes Schweigen, sah kaum nach rechts und nach links und hatte den Schirm der Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Nelee McElroy begrüßte uns, schenkte uns Kaffee ein und nahm die Bestellungen entgegen. Mir entging nicht, dass Corin sie nicht ansah, als wäre ihm irgendetwas peinlich oder unangenehm. Während unseres Essens sprach er kein Wort, brummte nur, um meine Fragen zu beantworten oder um meine Bemerkungen zu kommentieren; er aß so vorsichtig und langsam, als habe er Zahnschmerzen und sah aus, als habe er sich vollkommen in seine eigene Welt zurückgezogen. Trotz allem war sein Schweigen nicht unangenehm, ich dachte bei mir, dass er einfach nur den Mund hielt, wenn er nichts wichtiges zu sagen wusste. Nelee kam immer wieder an unseren Tisch, um den Kaffee nachzuschenken und uns einen Nachtisch anzubieten, sie gab sich immer Mühe, freundlich zu sein, aber darauf reagierte Corin überhaupt nicht. Es kam erst wieder Leben in ihn, als er im Regen an der Indian herummachen konnte. Es war der Nachmittag, an dem Molly zu ihrem Unterricht zu uns kam. Tracey erwartete sie bereits, machte Kakao in der Küche heiß und rief zu mir hinüber: „Was ist das hier?“
„Was ist was?“
Sie kam aus der Küche, wedelte mit dem gelben Umschlag herum und ich erklärte: „Das sind ein paar Unterlagen, die Jacob vorbeigebracht hat.“
Tracey sah auf den Umschlag, zuckte mit den Schultern und legte ihn zu der anderen Post auf ihren Schreibtisch. Ich sah Molly mit ihrem Regenschirm in der Einfahrt stehen und begriff reichlich spät, weshalb sie nicht bis vors Haus und hereinkam – Corin fuhrwerkte dort herum, vermutlich ohne sie zu bemerken und ohne zu ahnen, dass er ihr Angst machte. Molly erschreckte sich vor allem Neuen und traute keinem Fremden über den Weg, erst recht keinen Männern. Ich trat auf die Veranda, wo Molly mich sehen konnte und rief: „Hallo Molly! Komm rein, bevor du noch weg schwimmst.“
In diesem Moment muss ich der armen verzweifelten Molly wie ein Leuchtturm in der stürmischen See vorgekommen sein, sie hielt schnurstracks auf mich zu und schien nicht einmal zu atmen. Ohne eine Begrüßung hastete sie an mir vorbei ins Haus, stach mir mit ihrem Regenschirm fast die Augen aus. Corin schien sie nicht einmal bemerkt zu haben, die Indian hatte ihn vollkommen gefangen genommen.
„Er wird sich da draußen den Tod holen“, sagte Tracey, als sie einen Blick über meine Schulter warf.
Molly kam mehrmals die Woche zu Tracey, sie war ein gern gesehener Gast in unserem Haus und wenn sie an ihren üblichen Tagen nicht kommen konnte, fehlte etwas bei uns. Tracey erklärte ihr, wer Corin war und was er bei uns machte, das schien sie zu beruhigen und Tracey konnte ihren Unterricht mit ihr fortfahren. Auch als Corin hereinkam, sich an der Tür die Schuhe auszog und auf dem Weg ins Gästezimmer eine nasse Spur hinterließ, verfolgte sie ihn nur mit den Augen. Der gelbe Umschlag brannte mir unter den Nägeln. Augen starrten aus ihm hervor und beobachteten mich die ganze Zeit, warteten darauf, dass ich endlich nachgab.
Mit einem Ohr konnte ich Mollys Sprachübungen hören, sie las etwas aus einem Buch. Ihre Stimme war leise und schüchtern, dass man sich nicht vorstellen konnte, was dieses Mädchen getan haben mochte, um ihre Mutter immer wieder so in Rage zu bringen.
„Tu Hause, in der Nähe von Mi-ter Beutlins Höhle, gab es keine Wölfe. Aber Bilbo kannte das Heulen. Er hatte es oft genug in Ge-hiten behrieben gefunden. Einer seiner älteren Vettern (einer von der Tuk-Seite), der ein großer Weltreisender war, ahmte es tuweilen na-, um ihn tu er-recken.“ las sie, bemühte sich, es korrekt auszusprechen, aber es gelang ihr nicht immer. Tracey lobte sie, wo sie nur konnte und spornte sie noch etwas an, die Seite bis zum Ende zu lesen.
Der gelbe Umschlag schrie förmlich nach mir. Corin war im Gästezimmer, zog sich trockene Sachen über und so ergriff ich endlich die Gelegenheit, einen Blick in die Akte zu werfen, die Jacob dazu gebracht hatten, mich vor Corin zu warnen.

fünf.
Es war eine Übersicht, eine chronologische Auflistung der Straftaten, die Corin begangen hatte. Hier zählten nur die Fakten, die Jahreszahlen, die Tat, Ort des Verbrechens und sonst nichts. Es machte mich wütend und ich spürte die Ohnmacht, die in mir aufstieg. Fakten sprachen ihre eigene Sprache, aber wer hinterfragte, warum es zu diesen Dingen gekommen war? Immerhin, Jacob hatte einige Protokolle dazugelegt, gefaxte Fotos von schlechter Qualität, und als ich einmal mit lesen angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.
Die kurzen nüchternen Protokolle erzählten mir einen Teil von Corins Geschichte. Er wurde nach einem missglückten Überfall verhaftet und verurteilt, in eine Straßenbaukolonne gesteckt, wo er über Monate schuftete, bis er halbtot auf der Straße zusammenbrach. Die Wachposten hatten ihm bei sengender Hitze das Trinken verweigert und er fiel für Tage ins Koma. Irgendjemand wollte nicht, dass diese Sache an die große Glocke gehängt wurde und nach seiner Genesung wurde er entlassen, mit der Auflage, sich in der Gegend nicht mehr blicken zu lassen.
Ein halbes Jahr später fand er laut Bericht einen Aushilfsjob in einer Autowerkstatt, wo er zufrieden seine Arbeit machte, ihm aber am Ende des Monats der Lohn verweigert wurde. Anstatt sich zu wehren, zog Corin einfach weiter. Die Sache kam zur Anklage, weil der Besitzer der Werkstatt behauptete, Corin habe teures Werkzeug mitgehen lassen. Das war nur ein Teil der Geschichten hinter den Anklagen wegen schweren Diebstahls, Körperverletzung, Landstreicherei, Raubes. Es lastete auf meiner Seele, davon zu lesen.

sechs.
Zunächst sagte ich Tracey nichts davon und ich bemühte mich, Corin es nicht merken zu lassen, dass ich etwas von ihm wusste. Ich bestand darauf, dass er auch weiterhin den Schuppen aufräumte, obwohl er lieber den ganzen Tag mit der Indian verbracht hätte, aber er beugte sich meiner Bedingung. Wenn Molly zum Unterricht kam, sah er kurz auf und rief „Hi, Mol“ und arbeitete weiter. Obwohl ich diese Dinge von ihm wusste, brachte ich ihn irgendwie nicht mit all dem in Verbindung, denn er benahm sich ruhig und freundlich und bis auf ein paar Kleinigkeiten war er ein angenehmer Hausgast. Tracey sagte ihm mehr als einmal, dass er seine Sachen nicht überall herumliegen lassen solle und er sagte „Okay“ und vergaß es wieder. Was er in die Finger nahm, fand man später an den unmöglichsten Orten wieder. Alles stellte er da wieder ab, wo er es nicht mehr gebrauchen konnte, er räumte nichts wieder dahin, wo es hingehörte. Kaffeetassen fand Tracey auf der Umrandung der Badewanne, Teile der Zeitung, in der er die Comicseiten gesucht hatte, lagen auf der Treppe verstreut. Er ließ überall das Licht brennen und wenn Türen nicht selbst ins Schloss fielen, ließ er auch sie offen stehen. Trotzdem hielt er sich meist draußen auf, war mitunter stundenlang verschwunden und dann erzählte Jacob, dass seine Deputys ihn irgendwo in Sweet Home gesehen hatten.
„Was machst du, wenn du durch die Stadt läufst?“ fragte ich ihn und er sagte: „Gar nichts.“
„Irgendwas musst du doch machen.“
„Ich lauf nur rum.“
„Siehst du dir Schaufenster an?“
„Ich seh mich nicht gern im Spiegel.“
Tracey gestand mir, dass sie ihn wirklich nicht unsympathisch fände, er sei nur etwas schwer zu ertragen und verwahrlost, er rasierte sich nie gründlich und hatte kein Problem damit, sich bei Tisch die dreckverschmierten Finger abzulecken. Handtücher mussten nach seiner Benutzung sofort in die Wäsche.
Trotz allem hatten wir spaßige Abende – wenn ich nicht malte, saßen wir vor dem Fernseher oder wir spielten Trivial Pursuit – ein Spiel, bei dem er jedes Mal hoffnungslos unterlag und sich trotzdem darüber nicht ärgerte.
„Gebt’s zu“, seufzte er einen Abend, „ihr beide habt diese ganzen Karten auswendig gelernt.“
Er war ruhelos, immer in Bewegung, aber gleichzeitig konnte er sich auf einen Stuhl in die Ecke setzen und förmlich vor meinen Augen verschwinden. Manchmal kam er ins Atelier und wollte mir beim malen zusehen. Es war, als würde er mit offenen Augen einschlafen. Ich skizzierte ihn in dieser Ruhephase, fragte ihn, ob er die Kappe abnehmen würde.
„Wozu?“
„Der Schatten des Schirms fällt über dein Gesicht.“
Er zog sich die Kappe vom Kopf. Seine wunden Stellen sahen bereits bedeutend besser aus, sein Haar wuchs langsam nach.
„Malst du mich?“
„Ich versuche es.“
„Fotos sind einfacher, he?“ erwiderte er.
Mir kamen die polizeilichen Erkennungsfotos in den Sinn, die der Akte beigelegen hatten, schlechte Faxkopien, aber trotzdem erkennbar Corin. Sein Haar war lang und lockig gewesen, hatte ihm in den Augen gehangen und entsprach nicht gerade dem Zeitgeist. Die Flecken in seinem Gesicht mochten an der schlechten Kopie gelegen haben, aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen. Er wollte die Skizze von sich nicht sehen, stand auf und ging hinunter in den Garten, um noch etwas an der Indian zu arbeiten.

Tracey seufzte, dass sie das Gefühl habe, einen fünfjährigen im Haus zu haben und irgendwann platzte ihr der Kragen.
„Corin!“ rief sie nach draußen, nachdem sie das Buch nicht finden konnte, mit dem Molly ihre Sprachübungen machen sollte und es nur durch Zufall in der Küche wieder fand. Er hatte es benutzt, um ein Glas Milch abzudecken. Corin kam herein, grinste verlegen zu mir herüber und hob die Augenbrauen.
„Corin, ist es so schwer, sich an so einfache Regeln zu halten?“ begann Tracey. Molly im Nebenraum hatte sich von ihrem Sessel erhoben und bekam vor Erstaunen ganz große Augen.
„Eh?“ machte Corin.
„Das Buch hier. Was hat das in der Küche zu suchen?“
„Oh. Ich weiß nicht.“
„Hast du es da hingelegt?“
„Ich glaub schon.“
„Du wolltest es nicht lesen, oder?“
„Na“, sagte er hastig, „ich hab’s nicht so mit lesen.“
„Und weshalb hast du es dann nicht dahin zurückgelegt, wo du es hergeholt hast?“
„Ich hab’s vergessen.“
Wie wütend Tracey auch werden konnte, sie verlor nie ihren Humor und sie wusste immer, wann sie aufhören musste. Dafür hatte sie ein sehr feines Gespür und deshalb arbeiteten die Kinder gerne mit ihr. Corin sah aus, als würde er am liebsten im Boden versinken, kratzte sich im Nacken und am Kinn, wo er eine Ölspur hinterließ.
„Das nächste Mal“, sagte Tracey, „versuch doch die Dinge wieder dahin zurückzuräumen, wo sie offensichtlich hingehören. Bücher ins Bücherregal und Handtücher ins Bad. Okay?“
„Okay“, antwortete er, „ich versuch’s.“
Zwei Tage später hatte der Regen endlich aufgehört, aber es war noch zu früh für eine allgemeine Entspannung der Situation. Molly sagte, der Bus würde nicht mehr bis zu ihrer Pflegefamilie fahren, weil die Straße unterspült sei, also fragte Tracey, ob man Molly für die Zeit bei uns lassen könne. Sie war vor Glück ganz aus dem Häuschen und kam mit ihrem roten Pappkoffer zu uns. Wenn sie lächelte, kam die alte Ordnung wieder in ihr armes schiefes Gesicht und Molly hatte wahrlich nicht viel Grund zum lächeln.
Sie war glücklich, wenn sie bei uns sein konnte, ich kam vom Unterricht heim, nahm sie mit ins Atelier und dort durfte sie auf ihrer eigenen Leinwand malen.
„Ist Tracey böse auf Corin?“ fragte sie unvermittelt.
Sie hatte mich aus der Konzentration gerissen, ich sah zu ihr hinüber und begriff endlich, was sie gemeint hatte.
„Ach nein“, erwiderte ich, „es ist nur so, dass Corin nicht so ordentlich ist wie du, zum Beispiel. Sie ist nicht böse auf ihn, es ärgert sie nur, dass er so vergesslich ist.“
Wir malten weiter, ich wagte es, ein wenig blau in meine schwarz-weiß Komposition einfließen zu lassen und konnte mit dem Ergebnis gut leben. Ich malte und bemerkte nicht, dass Molly ihren Pinsel beiseite legte und nach unten verschwand.
Tracey sagte mir später, dass sie die beiden durch das Erkerfenster gesehen habe. Molly wagte sich auf die Veranda, dann die Stufen hinunter und bis vor den anwachsenden Berg mit Holz, blieb dort stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Sie trug die billigen Klamotten, die ihre Pflegemutter ihr kaufte, ohne Rücksicht darauf, was für ein sechzehnjähriges Mädchen modern war und sie hatte ihr verboten, Hosen oder gar Jeans zu tragen. Molly war ungeschickt in der Farbkombination und das machte das alles noch etwas schlimmer. Sie stand in dem unförmigen grünen langen Rock und der gestreiften Bluse neben dem Holzstapel und wartete geduldig. Corin kam aus dem Schuppen, trug ein zerbrochenes Waschbecken vor sich her und ließ es mitten in der Einfahrt fallen, wo es in drei Teile zersprang.
„Hi, Mol“, sagte er beiläufig und ging zurück in den Schuppen. Als er herauskam, stand sie noch immer dort.
„Hi“, sagte sie, „was ma-hst du da?“
Sie hatte Probleme mit den Zischlauten und sprach langsam, um sich daran zu erinnern, dass sie alles deutlich aussprechen musste.
„Ich schämte mich ein wenig, dass ich die beiden beobachtet habe“, gestand Tracey mir, „aber gleichzeitig musste ich doch unbedingt sehen, was Molly tun würde. Es war das erste Mal, dass sie zu einem Fremden Kontakt aufnahm.“
Corin sah unter der Kappe hervor, wischte sich die Handflächen an den Hosenbeinen ab und rief: „Ich räum nur etwas auf. Du bekommst Unterricht bei Tracey?“
„I-h darf ein paar Tage hier wohnen wegen der Über-wemmung.“
Corin grinste. „Verdammtes Scheiß-Wetter, was?“
Sie wagte es, ebenfalls zu lächeln, machte einen Schritt näher und Corin trat seine Zigarette in dem weichen Boden aus.
„Bist du gerne hier?“
„Oh ja.“ Sei zeigte zum Haus und kicherte vergnügt.
„Ich bin Corin.“
„I-h weiß.“
„Ich glaube, ich sollte weitermachen, bevor ich mir noch einen Tritt in den Hintern einhandle.“
Molly kam zurück ins Haus, packte ihren Pappkoffer aus und begann es sich in einem der beiden Kinderzimmer gemütlich zu machen. Wir hatten ihr ein Bett hineingestellt und Corin hatte versprochen, später beim Herübertragen des Kleiderschranks und der Kommode zu helfen.
Ich fühlte mich wie ein waschechter Familienvater, als wir abends alle vier am Tisch saßen und gemeinsam aßen. Corin trug eine gestrickte Wollmütze auf dem Kopf, um seinen Schädel zu bedecken und ich fragte ihn, was er eigentlich mit der Indian vorhatte.
„Ohne Ersatzteile läuft da nichts“, erklärte er und offenbarte, dass er doch von etwas Ahnung hatte, „Reifen, Kabel, Zündkerzen... So, wie sie jetzt da draußen steht, ist die Indian Schrott, aber mit Ersatzteilen könnte man sie wieder ans Laufen kriegen.“
„Kostet so was viel Geld?“ fragte Tracey und er erwiderte prompt: „Nicht, wenn man’s richtig anstellt.“
Unsere Blicke trafen sich und ich kann nicht erklären, was in diesem kurzen Augenblick passierte; ohne den Gesichtsausdruck zu ändern, setzte er hinzu: „Auf Schrottplätzen liegt so was massenweise herum.“ Und ich fühlte mich regelrecht ertappt, etwas ganz anderes gedacht zu haben. Natürlich konnte man sich Ersatzteile auch anders besorgen, aber das kam mir nur als erstes in den Sinn, weil ich seine Akte gelesen hatte. Ich musste mich regelrecht zu einer weiterhin fröhlichen Stimmung zwingen, aber die drei am Tisch schienen das nicht zu bemerken.

sieben.
„Er kommt von der Ostküste“, mutmaßte Tracey irgendwann. Ich wusste es, aber ich fragte: „Wie kommst du darauf?“
„Sein Akzent. Seit er hier ist, wird er immer deutlicher, ist die das nicht aufgefallen?“
„Du bist die Sprachentante, nicht ich.“
„Dafür fängst du dir gleich eine.“
Wir konnten sicher sein, dass Corin und Molly oben fest schliefen, hatten uns den übrig gebliebenen Wein ins Schlafzimmer gerettet und ließen es uns gut gehen.
„Molly mag ihn.“
„Das ist doch kein Problem, oder?“
Nein, dachte ich, nicht wirklich.
Die Akte in dem gelben Umschlag hatte ich in den Schreibtisch verbannt, ganz nach unten, wo wir seit Jahren nicht mehr hineingeschaut hatten und ich hatte beschlossen, Tracey davon nichts zu erzählen.
„Es ist kein Problem“, murmelte ich, „solange Corin weiß, wie weit er gehen darf.“
„Mach dir keine Gedanken, er sieht sie an wie seine kleine Schwester.“
Als Ned auf eine Partie Schach vorbeikam, war Corin gerade unterwegs und unser Cowboy staunte nicht schlecht über den halb leer geräumten Schuppen.
„Heute Abend veranstalten wir ein kleines Lagerfeuer“, erklärte ich, „du kommst genau richtig. Wir verbrennen die Holzabfälle.“
„Ich hab schon gehört, dass ihr einen Untermieter habt“, sagte Ned grinsend, „und? Wo steckt er?“
„Er ist irgendwo in der Stadt unterwegs“, erklärte ich, „aber er wird schon noch kommen. Wie sieht es auf der Ranch aus?“
„Die Lage entspannt sich langsam, das Hochwasser geht zurück und wir haben das Vieh zusammen getrieben. Zeit für einen freien Abend.“
Ned Palafox war reichlich alt für einen Cowboy, aber das harte Leben da draußen hatte ihn konserviert gegen alle schädlichen Einflüsse von außen. Trotzdem las er ein Kapitel eines Klassikers vor dem schlafen gehen und er liebte es, berühmte Schachpartien nachzuspielen. Tracey hatte ihn kennen gelernt, als sie seinen Sohn vom Lispeln befreit hatte, aber dann hatte Ned sich scheiden lassen und seine Frau und sein Sohn waren weggezogen.
„Hallo Ned“, rief sie aus der Küche, „isst du mit uns?“
„Ja, danke“, rief er zurück, „gern!“
Wir setzten uns ins Wohnzimmer, aber zu einer Schachpartie kam es an diesem Abend nicht. Molly gesellte sich zu uns, sie setzte sich still in die Ecke und las ein Buch. Immer wieder sah sie zur Tür, als ob sie auf Corin wartete und sie schien unsere Erwachsenengespräche gar nicht zu beachten. Sie hatte Tracey gebeten, ihr einen Zopf zu machen und ihr langes Haar etwas zu bändigen. Dann hatten wir darüber diskutiert, ob Corin außer der Unterkunft auch etwas Geld für seine Aufräumarbeiten bekommen sollte – Tracey war dafür, aber ich wusste nicht, wie viel wir zahlen sollten.
„Es wird für ihn aussehen wie Taschengeld, findest du nicht?“
„Aber ohne Geld in der Tasche kann er sich nicht mal einen Donut kaufen oder seine Zigaretten.“
„Was ist uns die Arbeit wert, die er macht?“
„Was bekommt ein Arbeiter als Stundenlohn?“
„So viel arbeitet er dann ja doch nicht.“
Wir kamen zu keiner Lösung in dieser Sache und ich machte den Vorschlag, ihm einfach etwas zu geben, wenn er ins Diner wollte oder wenn er danach fragte. Tracey sagte: „Er wird uns niemals nach Geld fragen, Doc.“
An dem Abend, als Ned bei uns war, kam Corin erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause, rief ein ‚Hallo’ ins Wohnzimmer und verschwand ohne ein weiteres Wort ins Gästezimmer. Dann ging auch Molly schlafen, sichtlich enttäuscht, und als ich einen Moment mit Ned allein war, sagte ich: „Hör mal, ich weiß, dass du von Pferden mehr Ahnung hast, aber ich habe da ein kleines Problem.“
Ich zeigte ihm Corins Akte und er musste mir versprechen, darüber stillschweigen zu bewahren.
„Oh Mann“, meinte er, „heiße Kiste. Wie benimmt er sich hier?“
„Bis auf die Tatsache, dass er unordentlich ist wie eine ganze Schulklasse zusammen, ist er sehr erträglich und freundlich. Wir können uns nicht über ihn beschweren. Jetzt frage ich mich, ob ich Tracey etwas hier von sagen soll.“ Ich klopfte auf die Akte. „Ich befürchte, es würde alles zerstören, was an Vertrauen zwischen uns entstanden ist. Tracey würde anfangen, das Bargeld im Haus nachzuzählen.“
„Hast du Probleme damit, seit du weißt, was er angestellt hat?“
„Er benimmt sich. Und ich habe keine Angst vor ihm.“
„Sag ihr nichts davon, Doc. Es ist wie bei einem Seitensprung, eine Beichte ist tödlich für die Beziehung. Und wenn er sich hier bei euch zusammenreißt, solltet ihr ihm diese Sache nicht vorhalten.“
„Er ist ein guter Kerl“, sagte ich und das glaubte ich wirklich.

acht.
Als wir dann doch erst Tage später das Holz verbrannten, schien nur noch die Hexe auf dem Scheiterhaufen zu fehlen, um die Sache perfekt zu machen. Die Funken stoben wild in den Nachthimmel und es knisterte und krachte. Das nasse Holz hatte Corin erst mit Hilfe von Anzündern in Gang bekommen, aber danach brannte es wie Zunder. Er benahm sich ausgelassen und wir tranken ein paar Biere aus der Flasche und ich dachte nur ganz kurz daran, dass ihn dieses Feuer an seine eigene Verletzung erinnern könnte, aber er selbst schien keine Verbindung zu sehen. Beim Feuer stehend sprachen wir über den Unterschied von Dosen- und Flaschenbier und lachten darüber, dass Molly wie ein kleiner Derwisch um die Flammen tanzte.
„Du machst deine Arbeit gut“, sagte ich, „Jacob ärgert sich mittlerweile schwarz, weil alles so gut läuft. Und wenn du irgendetwas brauchst, du weißt schon, dann sag’s ruhig.“
Er nickte und nahm den nächsten Schluck aus der Flasche. Es war nicht kalt an diesem Abend, man konnte es gut aushalten und irgendwann entdeckten wir, dass die Wolkendecke aufgerissen war und die Sterne am Nachthimmel zu sehen waren.
„Was für ein wunderschöner Abend“, sagte Tracey. Sie hatte Molly umarmt und die beiden sahen aus wie Mutter und Tochter. An diesen Abend erinnere ich mich wirklich gerne, denn es war alles still und friedlich, wir waren zufrieden und ahnten noch nichts von dem, was vor uns lag.

neun.
Molly half ihm am nächsten Tag beim Aussortieren, hatte dazu eine von Traceys alten Jeans angezogen und ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
„Corin“, sagte sie, „wie lange bleibst du no-h hier?“
„Keine Ahnung. Über so was mach ich mir keine Gedanken.“
„Bist du ni-ht gerne hier?“
Corin runzelte die Stirn, zögerte kurz und sagte: „Ich gehöre hier nicht hin. Ich gehöre nirgendwo hin, aber manchmal vergesse ich das.“
„Wo ist deine Familie?“
„Keinen blassen Schimmer. Ich will das auch gar nicht wissen. Und deine?“
„Meine Mom darf mi-h ni-ht sehen. Sie hat mi-h ge-hlagen.“
Corin sah sie prüfend an, nickte und machte mit dem Zeigefinger eine Geste über sein Gesicht.
„Dein Gesicht ist in Ordnung“, meinte er, „und jeder, der was anderes sagt, ist ein Lügner.“
Um ihr zu beweisen, dass sie nicht allein war mit ihren Narben, zog er sich die Wollmütze vom Kopf. Molly war beeindruckt und sie sagte lange nichts mehr und dann flüsterte sie nur ein „Danke.“
Das erzählte sie mir, als wir irgendwann über Corin sprachen und ich sie aufzumuntern versuchte.
„Sein Kopf sah so böse aus“, sagte sie, „aber er kann ihn verstecken. I-h kann mein Gesi-ht ni-ht verstecken. Aber i-h glaube, Feuer tut mehr weh.“
Ich hätte ihr sehr gerne erzählt, dass alles in Ordnung kommen würde, aber das konnte ich nicht, denn zu dem Zeitpunkt war Corin bereits verschwunden und wir konnten nicht sagen, ob wir ihn wieder sehen würden. Aber in der Zeit zuvor genoss Molly ihren Aufenthalt bei uns, sie lernte eifrig und ging mit Tracey einkaufen.
„Heute esse ich im Diner“, erklärte Corin, als er auf einen Kaffee hereinkam, „also wartet nicht auf mich.“
„Brauchst du Geld?“ fragte ich, froh, endlich dieses Thema anschneiden zu können, aber Corin antwortete, dass er nichts brauche.
„Als du hergekommen bist, hattest du gerade mal Geld für einen Kaffee“, erwiderte ich und Corin sagte: „Nelee hat mich eingeladen.“
„Oh“, machte ich. Ich gab mich mit der Sache zufrieden, ging nach oben, um zu malen und anstatt an dem großen Bild weiterzuarbeiten, setzte ich mich an den Skizzenblock und zeichnete Corins Tätowierungen aus dem Gedächtnis nach. Es war nicht Nelees Art, jemanden zum essen im Diner einzuladen, aber sie hatte keinen Freund und ein großes mitleidiges Herz, dass ich mir dann doch vorstellen konnte, dass sie etwas Besonderes für Corin auf den Grill warf.
Er hat ein Rendevouz, dachte ich, während ich zeichnete, und Nelee ist alt genug, um zu wissen, worauf sie sich einlässt. Das hoffe ich jedenfalls.
Nebenan hörte ich, wie Tracey mit dem Staubsauger durch das Gästezimmer ging, legte Stift und Block beiseite und ging zu ihr hinüber. Das Zimmer war das reine Chaos. Ich stand in der Tür an den Rahmen gelehnt und lachte in mich hinein, als ich sah, dass Tracey all das herumliegende Zeug, Klamotten, Zeitungen, Schuhe und Decken einfach mit beiden Händen packte und auf das Bett warf. Sie sah strafend zu mir hinüber, als wenn ich das Chaos angerichtet hätte und schaltete mit einem Fußtritt den röhrenden Staubsauger aus.
„Ich kann über diesen Zustand hier nicht lachen“, erklärte sie, „okay, wir haben gesagt, es ist sein Zimmer, aber irgendwann verwandelt sich das Ganze hier in einen Müllhaufen.“
Ich hatte Corin ein paar alte Hemden von mir gegeben, die er auch trug, aber irgendwie ständig vergaß, sie in die Wäsche zu geben.
„Hat er denn nie gelernt, Ordnung zu halten?“ fragte Tracey mit verzweifelter Stimme.
„Ich werde ihn danach fragen – ich meine, ich werde es ihm nahe legen, die Sachen in den Schrank zu hängen.“
„Doc, auf dich wird er auch nicht mehr hören als auf mich.“
Zuguterletzt übernahm Molly die Aufgabe, Corin zu zeigen, wie man Ordnung hielt. Sie drängte sich ihm förmlich auf und er ertrug es mit einer Engelsgeduld, als sie ihm bei jedem einzelnen Hemd demonstrierte, wie man es auf einen Bügel und dann in den Schrank hängte. Und bei jedem einzelnen fragte sie mit wichtiger Stimme, ob es sauber sei oder in die Wäsche müsse. Zum Schluss holte sie den Wäschekorb und ließ ihn alle schmutzige Wäsche zur Waschmaschine tragen.
„So“, sagte sie zufrieden, „so hat alles seine Ordnung und alles seinen Plat-. Ri-htig?“
„Richtig, Mol“, bestätigte er.
Sie war sehr traurig, als ihre Woche bei uns vorbei war, Tracey hatte ihr zum Abschied einen Kuchen gebacken und sie war untröstlich, obwohl sie wusste, dass sie auch weiterhin dreimal die Woche zu uns kommen würde.
Corin redete ein paar Minuten allein mit ihr, als er ihren Koffer zum Wagen ihres Pflegevaters trug, der sie abholte, er brachte sie zum Lachen und versprach ihr, ein paar Zigaretten weniger zu rauchen.
„Das ist ni-ht gut für di-h“, hatte sie ihn ermahnt und den Finger gehoben, „das habe i-h im Fernsehen gesehen. Es ma-ht die Lunge kaputt und dann hu-tet du no-h mehr. Ich will ni-ht, dass du nur no-h hustet.“
„Das ist nur meine Bronchitis“, hatte er erwidert.
Seit er bei uns war, und das war nun schon fast einen Monat, hatte sich sein Husten gebessert, er hatte ein paar Pfund zugelegt und sein Haar war um einige Zentimeter gewachsen. Irgendwann war der Schuppen neben der Garage aufgeräumt. Jetzt stand dort nur noch die Indian und einige Dinge, die wir hatten behalten wollen. Er war sogar auf das leicht angewinkelte Dach geklettert und hatte Löcher mit Dachpappe ausgebessert.
Mollys Pflegevater stieg nicht einmal aus dem Wagen, um sie zu begrüßen, aber er lächelte ihr entgegen und sagte: „Hast du dich amüsiert, Kleine?“ als sie zu ihm in den Wagen stieg. Corin legte ihren Koffer auf die Rückbank und beugte sich zu ihrem Seitenfenster hinunter. Mit dem Zeigefinger beschrieb er eine an beiden Enden nach oben gebogene Linie in die Luft und formte tonlos das Wort ‚smile’ durch das geschlossene Fenster. Molly lächelte wieder und hob die Hand zum Abschied. Der Wagen setzte rückwärts aus der Einfahrt und fuhr davon.
Der Schuppen war aufgeräumt. Es regnete nicht mehr, aber trotzdem blieb Corin und er sprach mit keinem Wort davon, Sweet Home zu verlassen.
„Was ist mit der Garage?“ fragte er und ich erklärte: „Lass es langsam angehen.“
Die Temperaturen fielen mit jedem Tag und mein Ford sprang so gut wie nicht mehr an, bis Corin sagte: „Entweder gibst du ihm den Gnadenschuss oder du lässt mich unter die Haube sehen.“
Wie jeder andere Autobesitzer hatte auch ich genügend Werkzeug in meiner voll gepackten Garage, aber bis auf den Wagenheber hatte ich noch nie etwas davon benutzt. Corin benötigte die Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen, um ihn wieder ans Laufen zu kriegen, darüber war ich so glücklich, dass wir gemeinsam in die Main Street fuhren, die nach der Ortsgrenze in die Route 20 überging, um dort auf einem Schrottplatz nach den benötigten Ersatzteilen für die Indian zu suchen. Wir wurden fündig. Corin fragte, ob er den Ford zurückfahren dürfe und ich ließ ihn hinter das Steuer.
„Corin?“
„Heh?“
„Du wirst nicht sauer, wenn ich dich etwas frage?“
„Kommt ganz darauf an, Doc.“
Auf unserem Weg zurück nach Hause gab es den ersten Schnee der Saison. Die Flocken waren noch klein und schüchtern, aber sie sammelten sich bereits auf der Straße und auf den Feldern.
„Was hat es mit den Tätowierungen auf sich?“
„Du kannst doch zwei und zwei zusammenzählen, oder?“
„Ich hatte gehofft, dass es anders wäre.“
„Manche Dinge sind genauso, wie sie aussehen. Du wusstest doch von Anfang an, dass ich gesessen habe.“
„Weshalb sind die Tatoos nur auf deinen Armen? Willst du mir davon erzählen?“
„Na“, sagte er.
„Ich kann nur vermuten, was du alles angestellt hast und was alles passiert ist, Corin. versuch mich zu verstehen, dass es mir Sorgen macht. Du könntest es versuchen, es von deiner Seite zu schildern und zu erklären.“
„Da wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte.“
„Versuch es.“
Er gab sich Mühe, aber er konnte sich nicht konzentrieren, er verlor sich in Einzelheiten und Nebensächlichkeiten, verlor den Faden und verstummte. Dann begann er bei der Chicago-Geschichte, ich erinnerte mich daran, dass er in Illinois wegen Körperverletzung verurteilt worden war und er sagte, dass selbst eine Million Dollar ihn nie wieder in diese Stadt bringen könnten.
„Mir war klar, dass sie mich wegen der Sache einbuchten würden und darauf hatte ich mich eingestellt, aber ich glaube, in den sieben Monaten hab ich keine zwei stunden Schlaf gehabt. Die haben wirklich Spaß daran gehabt, uns fertig zu machen.“
Wir schwiegen. Die Schneeflocken trieben an den Fenstern vorbei, er fuhr langsamer und machte den Scheibenwischer an. Bevor unser Schweigen unangenehm werden konnte, bemerkte ich: „Was hast du mit der Indian vor, wenn sie wieder läuft? Fährst du runter nach San Francisco?“
Er grinste bei der Vorstellung, wie Peter Fonda in Leder und auf einer heißen Maschine nach SF zu brausen, aber dann schüttelte er darüber den Kopf und sagte seufzend: „Da laufen doch nur Spinner rum. Ich würde nach Kanada fahren, glaube ich, wenn ich könnte. Kanada ist Okay für mich.“ Er sah mich an und setzte hinzu: „Willst du damit sagen, dass ich die Maschine haben kann, wenn ich will?“
„Natürlich“, sagte ich, „für mich ist es nur ein Haufen Schrott und wenn du sie reparierst, gehört sie natürlich dir.“
Das machte ihn stutzig, zumindest versuchte er, dahinter etwas zu wittern, aber inzwischen hatte er begriffen, dass wir in Sachen Corin Bootsen keine böse Hintergedanken hatten. Er zeigte nicht, dass er sich vielleicht übermäßig darüber freute, sah aus dem Seitenfenster und ließ den Ford gemächlich in die Ortschaft rollen.
„Weshalb willst du irgendwas über mich wissen? Weshalb schenkst du mir die Indian?“
„Wir haben auch viel über uns erzählt, Tracey und ich. Es gehört dazu, sich kennen zu lernen und etwas über den anderen wissen zu wollen. Wir wollen dich nicht aushorchen, Corin, wir wollen nur einen Blick in deine Welt, wenn du dazu bereit bist.“
„Ich glaube nicht, dass mir das gefällt.“
„Wir zwingen dich ja nicht dazu.“
Vielleicht hätte ich diesen Moment ausnutzen sollen, um ihm zu sagen, dass ich sein Akte kannte, dass seine Vergangenheit nicht vollkommen im Dunklen lag, aber ich tat es nicht, ich ließ es darauf beruhen. Ich befürchte, er könnte mich auf die gleiche Stufe wie Jacob stellen oder er würde uns verlassen. Deshalb ließ ich ihn in Ruhe und hoffte nur, dass er doch irgendwann genug Vertrauen zu uns haben würde, um etwas über sich zu erzählen. Etwas über sich, was nicht nur mit den Dingen zu tun hatte, die ihm im Knast passiert waren und hinter denen er sich zu verstecken schien.
„Die Indian“, sagte ich dann, „ich habe noch nie auf einem Motorrad gesessen und du verstehst etwas davon, also warum solltest du sie nicht bekommen?“
Wir kamen nach Hause und Corin schien noch immer über alles nachzudenken, er wollte nicht mit ins Diner und trotz des Schnees blieb er lange im Schuppen. Als er auch zum Abendessen nicht auftauchte, ging Tracey hinaus, um nach ihm zu sehen.
Er hockte auf einer Holzkiste vor der Indian, stierte Löcher in die Luft und klapperte unruhig mit den Absätzen auf dem Boden.
„Hey“, sagte Tracey vorsichtig, „keinen Hunger mehr?“
Er wurde jedes Mal verlegen, wenn sie ihn so bemutterte.
„Du wirst doch nicht die Nacht hier draußen verbringen wollen, Corin. Warum kommst du nicht rein zu uns und wir machen noch ein paar Flaschen Bier auf?“
„Hat Doc irgendwas erzählt?“
„Er hat nur gesagt, ich solle dich in Ruhe lassen und ich hab ihm gesagt, dass ich dich schon nicht belästigen werde.“
Er grinste etwas hilflos und versuchte vergeblich, komisch zu wirken – Tracey sagte mir, dass sie einen Moment belustigt und erschrocken gewesen sei. Seine Zähne waren in einem besorgniserregenden Zustand und es war kein Wunder, dass er vorsichtig aß und den harten Pizzarand auf dem Teller ließ. Zwischen den Backenzähnen hatte er große Lücken, ein unterer Schneidezahn war halb abgebrochen, was mir zuvor schon aufgefallen war, aber Tracey sagte, dass es ausgesehen habe, als hätte ihm jemand die Zähne mutwillig ausgeschlagen. Sie setzte sich zu ihm, legte den Kopf schief und wartete einfach.
„Ihr wollt irgendwas über mich wissen, aber ich bin unterwegs, weil ich die ganze alte Scheiße vergessen will. Ich weiß, dass ich nicht wirklich davonlaufen kann, aber es tut gut, wenn ich irgendwo bin, wo mich niemand kennt und wo sich keiner für mich interessiert. Das ist das, was ich brauche.“
Er zog die Ärmel seines Pullovers hoch und streckte meiner Frau seine Unterarme entgegen.
„Das sind die Signale“, erklärte er, „dass du mich besser in Ruhe lässt, wenn du mich irgendwo siehst. Die meisten verstehen es. Mit euch beiden ist es alles ganz seltsam. Wenn ich aufwache, weiß ich im ersten Augenblick nie, wo ich bin und was los ist. Und dann fällt es mir wieder ein.“ Er berührte seinen Kopf mit dem Handballen. „Es geht mir so gut hier, dass ich immer denke, dass ich es nicht verdient habe.“
„Du hast es nicht verdient, ohne Namen und ohne Gesicht durch die Lande zu ziehen. Irgendwann triffst du mal jemanden, dem du etwas bedeutest und dann darfst du nicht davonlaufen.“
„Du hast keine Ahnung, Tracey. Ich bin zufrieden, wenn ich unterwegs bin.“
Sie brachte ihn ins Haus, aber er wollte sofort schlafen gehen. Am nächsten Morgen sagte sie, dass er sie unruhig gemacht habe.
„Mir wäre wohler“, behauptete sie, „wenn ich wüsste, was er angestellt hat. Verstehst du? Ich kann einen Sprachfehler nur therapieren, wenn ich ihn kenne.“
Diesmal ließ ich die Gelegenheit nicht verstreichen und ich beichtete ihr, was ich schon so lange wusste. Ich ließ die hässlichen Details aus, wie ich es später auch tun würde, schilderte alles in einem Licht, dass ihr das Ganze erträglicher machen sollte.
„Er hat das alles nur getan, um zu überleben“, sagte sie, „wenn es anders wäre, hätte er hier bei uns längst etwas angestellt.“
Wir gingen mit Verständnis und Humor an die Sache heran, aber in Wirklichkeit verdrängten wir alles nur. Wir konfrontierten Corin nicht mit den Dingen, die er getan hatte. Wir achteten darauf, diese Tür geschlossen zu halten. Und dann sahen wir es als unseren Erfolg an, als Nelee eines frühen Abends vor der Tür stand und fragte, ob Corin fertig sei.
„Wollt ihr ausgehen?“ fragte ich.
Sie trug ein kurzes enges Kleid unter ihrem Mantel und Schuhe, in denen sie bei dem Schnee nicht weit kommen würde. Sie sah wirklich ganz reizend aus.
„Wir wollen ein wenig die Stadt unsicher machen. Ich verspreche, dass ich ihn pünktlich zurückbringe.“
Wir lachten darüber, ich hörte hinter mir, wie Corin die Treppe herunterkam.
„Hey, viel Spaß heute Abend“, wünschte ich ihm und konnte ihn beruhigt ziehen lassen. Er trug saubere Klamotten, er roch gut und die Baseballkappe schien nicht fehl am Platz. Eine Menge Jungs liefen so herum. Nelee hatte ihren komischen kleinen Wagen in der Einfahrt geparkt, den sie ihren ‚kleinen Buckel’ nannte und den sie bei ihrem Gehalt wohl noch lange fahren würde. Corin blieb davor stehen, hielt sich vor Lachen die Seite und meinte atemlos: „Da soll ich einsteigen? Nelee, das ist kein Auto, das ist ein Stück Eierschale.“
„Es ist ein Kultauto“, erwiderte sie sehr stolz und ließ sich nicht beirren. Das Geräusch des Motors ließ Corin noch größere Augen machen und er meinte, dass er sich dieses Ding später mal ansehen würde.
„Er ist übrigens hinten“, sagte ich.
„Wer ist hinten?“
„Der Motor“, grinste Nelee.
Der Buckel brachte die beiden sicher zum Tanz in die Senior High School und sie hatten einen fröhlichen Abend zu zweit und für Tracey und für mich fühlte es sich an, als hätten wir die Schlacht in einem unbekannten Krieg gewonnen.
„Was schenken wir ihm zu Weihnachten? Er kann so viel gebrauchen, dass ich nicht weiß, womit wir anfangen sollen.“
„Er erwartet sicher keine Geschenke von uns“, sagte ich, „wir können ihn also überraschen.“ Für meinen Geschmack sah Tracey ein wenig zu sehr in die Zukunft und versuchte die kommenden Monate zu planen.
Ich traf Jacob in der Stadt, als ich ihm sagte, dass alles in Ordnung sei, meinte er, dass Mrs. Davis sich ernsthafte Sorgen um Nelee mache und niemanden darüber im Ungewissen ließ.
„Du hast ihr doch nicht irgendetwas erzählt?“
„Himmel, nein, natürlich nicht. Ich halte nur meine Augen offen. Es gibt nichts dagegen zu sagen, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln.“
Jacob war eine ehrliche Haut, aber Mrs. D. tönte durch sämtliche Telefonleitungen der Gemeinde, dass es ganz sicher ein schlimmes Ende nehmen würde, obwohl ich überzeugt war, dass sie Corin noch nicht einmal persönlich zu Gesicht bekommen hatte.
„Hören sie mir doch einmal zu“, versuchte ich es mehrmals bei ihr, „er hat niemandem etwas getan, oder? Er ist friedlich und freundlich, warum geben sie ihm keine Chance?“
Mittlerweile mochte ich bei ihr nicht mal mehr gerne meine Farbe kaufen und fuhr dafür bis nach Lebanon. Sie behauptete mit empörter Stimme, nie irgendetwas behauptet zu haben und sie sei eine wahre Menschenfreundin und ihretwegen könne jeder auf seine Weise glücklich werden, aber das war nur vorgeschobene Freundlichkeit. ich erinnere mich sehr genau daran, als wir Mrs. D. beim wöchentlichen Einkauf trafen. Ich hatte Corin mitgenommen, weil er nichts anderes zu tun hatte. Der Morgen war diesig und Schneeregen trieb die Straße herunter, er’s sah ganz nach einem Tag aus, den man am liebsten zu Hause aussaß, deshalb wollte ich etwas Besonderes kochen.
Corin schlenderte durch die Gänge des Bluebell’s, nahm Gläser und Dosen aus den Regalen und stellte sie wieder zurück, wartete geduldig, wenn ich mit jemandem zu plaudern begann und irgendwo hängen blieb. In nichts unterschied er sich von den Rancharbeitern und Holzfällern, die auch hier einkauften, wohl deshalb erkannte Mrs. D. ihn nicht, als er ihr zur Hilfe kam. Sie hatte ein paar Tüten mit Kartoffelchips aus dem Regal gewischt, als sie mit ihrem Wagen daran vorbeigefahren war und bevor sie sich bücken konnte, hatte Corin die Tüten auf dem Arm und stopfte sie ins Regal zurück.
„Die packen da immer soviel rein, dass einem alles entgegen kommt, wenn man’s nur ansieht“, sagte er und Mrs. D. erwiderte: „Vielen Dank für ihre Hilfe. Bei dem Wetter kann ich mich nicht mehr so bewegen wie ich gern möchte.“
„Wer kann das schon von sich behaupten.“
„Würden sie mir einen Gefallen tun und mir zwei von den oberen Kartons dort in den Wagen legen? Vielen Dank.“
„Wird gemacht.“
Ungefähr in diesem Moment begann sie darüber nachzudenken, wer er sein könnte und ob sie ihn schon mal gesehen habe. Sie sah ihn eine Spur zu lange an und Corin deutete mit dem Kinn auf ihren Einkaufswagen.
„Hey, brauchen sie sonst noch was?“ fragte er munter, „Ich helf ihnen, wenn sie wollen, ich hab Zeit, ich begleite nur Doc beim Einkaufen.“
„Nein, danke“, sagte Mrs. D. tonlos aber noch immer freundlich und als ich dazu kam und Corin ansprach, schien bei ihr der Groschen gefallen zu sein.
„Wir haben alles, Corin. Morgen, Mrs. D.“
Sie wechselte die Gesichtsfarbe wie ein Chamäleon und auf dem Weg zur Kasse wollte Corin wissen, ob er etwas falsch gemacht habe. Mrs.D. hatte die Flucht ergriffen, als sei der Teufel hinter ihr her gewesen.
„Du warst fabelhaft“, erklärte ich, „das wird ihr altes Schandmaul für die nächste Zeit stopfen.“
Mit den neuen Teilen sah die Indian mittlerweile wie ein richtiges Motorrad aus, aber der Motor lief noch immer nicht. Corin hatte Molly versprochen, sie bei der ersten Fahrt mitzunehmen und darauf freute sie sich wie ein Kind. Jetzt steht die Maschine im Schuppen und niemand wird wohl je damit herumfahren, denn am 16. Dezember verließ Corin uns, ohne die Indian auch nur einmal ausprobiert zu haben.
Wir brachten die Einkäufe nach Hause und hatten etwas, was wohl ein Männergespräch war.
„Wie läuft’s mit Nelee?“
„Gut“, sagte er knapp und ich wartete vergeblich darauf, dass er von allein näher darauf einging.
„Komm schon“, drängte ich, „ist da mehr zwischen euch, als nur Verabredungen am Wochenende?“
„Sie ist klasse.“ Corin grinste. „Was soll ich sagen? Sie hat gesagt, sie würde mit mir nach Los Angeles gehen oder so, sie würde mitgehen, wenn ich hier die Nase voll habe. Ich mag sie wirklich.“
Nelee erzählte Tracey später, dass sie mit Corin einige Male auf der Angestelltentoilette des Diners zusammen gekommen sei – sie hatten sich einfach hineingeschlichen und die Tür hinter sich verriegelt.
„Er besteht nur aus Muskeln und Sehnen“, sagte Nelee, „und seine Tätowierungen machen mich wahnsinnig. Wir kommen immer schnell zur Sache und dann hält er mich fest und ich fühle mich wie eine Puppe, ich weiß dann gar nicht mehr, was ich tue. Es ist mir ganz egal, was die anderen von ihm halten. Ich würde alles für ihn aufgeben, ich gehe überall mit ihm hin, egal, wohin. er macht aus seiner Vergangenheit ein Geheimnis, aber irgendwann wird er mir erzählen, was passiert ist.“ Sie war guter Dinge und optimistisch, aber als Corin uns verlassen hatte, sagte sie nur noch: „Er kommt irgendwann zu mir zurück.“
An dem Tag, als ich Lasagne für uns machte, war alles noch in Ordnung und keiner von uns machte sich unnütze Gedanken über die Zukunft. Corin half mir in der Küche und ich erklärte ihm einige italienische Nudelsorten.
„Maccaroni“, dozierte ich, „sind lange Nudeln wie Spaghetti, aber innen hohl. Ravioli sind gefüllte eckige Taschen. Tortellini sind auch gefüllt, aber klein und rund. Man sagt, ein verliebter Nudelbäcker hätte sie nach dem Bauchnabel seiner Angebeteten geformt.“
Corin verschluckte sich an seinem Bier und spuckte es in die Spüle.
„Keine Witze mehr, wenn ich trinke.“
„Das war kein Witz. Das hat mir meine Mutter erzählt. Wir haben neben Italienern gewohnt.“
„Wir auch“, erwiderte Corin, „aber so was blödes haben die uns nicht erzählt.“
„Deine Eltern und du?“
„Nee, ich bin bei der Schwester meiner Mutter groß geworden. Meine Eltern haben sich aus dem Staub gemacht und meine Tante wollte nicht, dass ich ins Heim komme.“ Er trank sorglos das Bier aus der Flasche, die er zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt am Flaschenhals hielt. „Sie war ’ne gute Seele“, sagte er, „aber sie ist krank geworden und niemand konnte sich um sie kümmern. Er hat sie ins Krankenhaus gebracht und da ist sie gestorben, als ich zehn war.“
„Wer hat sich danach um dich gekümmert?“
„Der alte Harvey hatte schnell ’ne neue Frau, aber ich kann nicht behaupten, dass sie sich um mich gekümmert hat. Harv hat immer nur zu mir gesagt, dass ich eines Tages einer seiner Kunden sein würde. Einer der Bastarde, au die er aufpassen musste. Harv war Wächter im städtischen Gefängnis. Er mochte seinen Job. Zu Hause behandelte er uns auch wie seine Gefangenen, weil er damit einfach nicht aufhören konnte. Sein einzig positiver Zug war sein Sinn für Gerechtigkeit.“ Corin hob die Flasche zu einem letzten Gruß an seinen Onkel. „Er hat die Prügel immer gerecht unter uns aufgeteilt.“
Mehr mochte er von Onkel Harvey nicht erzählen, aber er fand die Lasagne klasse und überraschte uns mit der Aussage, dass der Wein dazu doch besser schmeckte als das Bier.
Tage später ging er mit Nelee aus und wagte es das erste Mal, seinen Kopf vorzuzeigen. Sein Haar war gut nachgewachsen, er sah einfach nur wie eine eigenwillige Kurzhaarfrisur aus und von den Wunden war nichts mehr zu sehen, wenn man nicht gerade danach suchte. Er hatte gute Laune, als er loszog und als er zurück war, mochte er sich noch immer nicht beschweren, obwohl er einen Riss in der Unterlippe und ein blaues Auge hatte.
„So was passiert schon mal“, sagte er.
Ich ließ ihn mir seine Hände zeigen.
„Keine Sorge, Coach, die Runde hab ich gewonnen, bevor der Ringrichter aufgetaucht ist.“
Ich hielt seine lädierten Hände fest und sagte ihm, dass ich das nicht komisch finden konnte. Er ließ sich verpflastern und ging schlafen. Diesmal ersparte ich Jacob den Weg und fuhr selbst zu ihm. Er wusste bescheid.
„Es war nur eine der üblichen Prügeleien am Rande des Schlammrennens“, sagte er, „reines Strohfeuer – schon erloschen, noch bevor man die Feuerwehr rufen kann. Einer der Jungs kannte Corin. Hat behauptet, Corin hätte angefangen, genauso wie beim ersten Mal, aber diesem Typen glaube ich nicht mal, wenn er ‚guten Tag’ sagt. Ich habe Nelee geraten, Corin nach Hause zu fahren und ich habe ein Auge zugedrückt. Es war nicht die einzige Schlägerei, zu der ich gestern gerufen wurde.“
Illegale Autorennen, Besäufnisse und Schlägereien waren ein beliebter Zeitvertreib für die unter zwanzig, aber trotzdem machte ich mir Sorgen, dass Corin hineinzogen wurde.
„Ich passe auf ihn auf, Jacob“, versprach ich, „ich will nicht, dass es irgendwann eskaliert.“
„Der Astin-Junge ist ein Schläger und er wird auch nie aufhören, einer zu sein, aber Corin hätte ihn mit einer auf den Rücken gebundenen Hand umgebracht, wenn er gewollt hätte. Ich konnte es an seinen Augen sehen. Er ist einer von der Sorte, die sich im Griff haben, denen es egal ist, wenn man ihnen die Nase bricht, solange sie sich wehren können. Saugefährlich wird es erst, wenn sie die Kontrolle verlieren.“
Ich glaubte Jacob und stimmte seiner Einschätzung zu, aber ich nahm mir Corin ins Gebet, um ihn davor zu bewahren, bei einer weiteren Aktion noch mehr Ärger zu bekommen.
„Dass wir uns richtig verstehen“, sagte ich, „ich mische mich nicht in deine Angelegenheiten, du bist erwachsen und musst wissen, was du tust, aber ich kann keine weitere Prügelei akzeptieren, ist das klar, Corin? Du hast dich an Spielregeln zu halten und die erste Regel lautet: Keine Schlägereien. Ich bin sicher, dass du solchen Situationen aus dem Weg gehen kannst, wenn du willst. Ich habe mich nicht bei Jacob für dich stark gemacht, dass du dich an den pubertären Wettkämpfen der halbstarken Jugend beteiligst. Ich möchte, dass du sauber bleibst.“
Er nickte und antwortete: „Ich will keinen Ärger mit dir.“

zehn.
Er bastelte an der Indian wie an einem Geduldsspiel, aber die meiste Zeit verbrachte er mit Nelee. Er saß bei ihr im Diner während sie arbeitete, wenn ihre Ablösung kam, saßen sie in einer Ecke zusammen und benahmen sich anständig, solange noch Gäste anwesend waren. Nelees Eltern waren über diese Beziehung kreuz-unglücklich, aber sie wussten nicht, was sie hätten unternehmen sollen.
„Ach Scheiße“, sagte Corin dazu, „wir treiben es ja nicht mitten auf der Theke, wir gehen schon irgendwohin, wo uns keiner sehen kann.“
Er verriet mir, dass Nelee ‚eine von der herben Sorte’ sei, was immer er damit auch sagen wollte und der einzige Ort, an dem sie es noch nicht getrieben hatten, sei der VW Käfer, der Buckel, gewesen.
„Da kommt man ja schon kaum rein, wenn man nur irgendwo hin fahren will.“
Nelee wusste auch von seinen Vorstrafen, aber sehr ausführlich war er ihr gegenüber nicht geworden.
„Er sagte, es wird hässlich, wenn man ins Detail geht und das wolle er lieber für sich behalten. Es seien Dummheiten gewesen. Er versucht sich zu bessern, aber meine Eltern mögen ihn trotzdem nicht.“
Ich hätte gern vermittelt, aber dazu kam es nicht mehr.
Molly kam zum Unterricht und fragte, wie weit das Motorrad sei und Corin erwiderte recht abwesend, dass er den Fehler noch nicht gefunden habe. Sie spürte sofort, dass seine Aufmerksamkeit nicht ihr galt und das schlimmste für sie war, als sie mit ihren Pflegeeltern im Diner saß und sehr wohl sah, was zwischen ihm und Nelee vor sich ging. Er hatte an der Theke Platz genommen und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um Nelee kurz zu berühren oder sie mit Blicken zu verfolgen, während sie die Gäste bediente. Für Molly brach die Welt zusammen. Sie mochte ein geistiges Handicap haben, aber sie unterschied sich in ihrem Gefühlsleben nicht von anderen sechzehnjährigen.
Sie schüttete Tracey ihr Herz aus, als sie beim Sprachunterricht so unkonzentriert war, dass sie die Übungen immer wieder wiederholen musste und schließlich in Tränen ausbrach.
„Er mag mi-h ni-h mehr“, schluchzte sie haltlos und war kaum zu verstehen dabei, „wir waren im Diner und er hat mi-h ni-h angesehen, nur die ganze Zeit Nelee. Aber was habe i-h gema h, dass er mi-h ni-h mehr mag?“
Tracey vermochte sie nicht zu trösten.
„Bestimmt lä-t er Nelee auf dem Motorrad fahren, ni-h mi-h.“
Durch die Heulerei aufgeschreckt kam ich noch dazu und Tracey raunte mir zu, ich solle Corin hereinholen, er habe etwas zu erklären und zwar schnell. Mittlerweile hatte er auch den größten Teil der Garage aufgeräumt, aber er ging schon längst nicht mehr so zur Sache wie noch beim Schuppen. Ich fragte ihn, was er angestellt habe und er machte ein ahnungsloses Gesicht – ein Ausdruck, den jeder kennt, der jemals mit einer Katze zusammen gelebt hat. Die ganze Wohnung kann in Trümmern liegen, aber mitten in dem Chaos sitzt eine offensichtlich unbeteiligte Katze, die von nichts eine Ahnung hat, obwohl sie in der Wohnung ganz allein war.
„Molly ist vollkommen aufgelöst“, sagte ich, „also - was war los?“
„Woher soll ich das wissen?“
Molly schämte sich, dass sie geweint hatte und das alles war ihr sehr peinlich; aber als Tracey zu vermitteln versuchte, hob sie den Kopf und sagte tapfer: „Das kann i-h allein.“
Wir ließen die beiden im Wohnzimmer miteinander sprechen und gingen hinauf in mein Atelier. Weil es außer zu warten nichts zu tun gab, zeigte ich Tracey einige meiner letzten Entwürfe.
„Oh“, machte sie, „ich dachte, du wolltest keine Portraits mehr machen.“
Vor einigen Jahren hatte ich im Auftrag eines Bekannten dessen Frau portraitiert. Er hatte einen richtigen standesgemäßen altmodischen Ölschinken bei mir bestellt und seine Frau hatte zwei Wochen bei mir Modell gesessen. Während dieser Sitzungen hatte sich diese attraktive junge Frau als dumme engstirnige und eingebildete Zicke entpuppt und leider waren diese Charakterzüge mit in das Bild eingeflossen, obwohl ich mich bemüht hatte, wie eine Kamera zu denken. Es sah aus wie ein übliches Portrait, aber beim näheren Betrachten wurde klar, dass dieses hübsche Gesicht nicht zusammenpasste, dass es etwas von einem Zerrbild hatte und nicht gerade schmeichelhaft war. Ich hatte drei Fehler gemacht: ich hatte diesen Auftrag angenommen, das Bild gemalt und es dann auch wirklich ausgeliefert. Ihr Mann hätte mich am liebsten verklagt. Das war das Ende einer Freundschaft und das Ende meiner Karriere als Auftragsmaler. Seitdem bin ich mit Portraits sehr vorsichtig.
Tracey hatte meine Skizzen von Corin gefunden.
„Was hältst du davon?“
„Daran solltest du weiter arbeiten. Die sind sehr gut. Man kann spüren, dass er es ist. Etwas hinter diesen Augen. Du weißt schon. Dass er die Zigarette immer schon ausgemacht hat, bevor man ihn auf dem Klo beim Rauchen erwischen kann. Dieses ‚ich weiß schon, was kommt’.“
„Ja“, sagte ich nachdenklich und eigentlich ging mir erst in diesem Moment ein Licht auf. „Ich hätte es nicht in Worte fassen können, aber du hast recht. Manchmal überrascht man ihn, aber ab und zu ist er einem einen Schritt voraus. Ohne, dass man es wirklich bemerkt.“
„Vielleicht ist das sein Überlebenswille“, sagte sie ohne den Blick von der Skizze zu nehmen, „ich kann mir vorstellen, dass man so etwas entwickeln muss, wenn man auf der Schattenseite lebt.“
„Hast du Molly etwas davon erzählt?“
„Bist du verrückt? Nein, sie hat entdeckt, dass da etwas ist zwischen ihm und Nelee und jetzt glaubt sie, er mag sie nicht mehr. Weißt du noch, Doc, wie das war mit sechzehn?“
Ich bemühte mich, mich daran zu erinnern, aber mein junges Leben schien eine einzige wilde Party gewesen zu sein, in der nicht einmal das Studium richtig ernst gewesen zu sein schien – jedenfalls nicht in meiner Erinnerung.
„Ich war schlank“, verriet ich lächelnd, „und ich hatte noch volles Haar. Und ich tat immer das genaue Gegenteil von dem, was meine Eltern für gut hielten.“
„Molly ist wirklich niedergeschlagen. Ich hoffe, dass Corin die richtigen Worte findet.“
Irgendwie fand er sie, nachdem er begriffen hatte, was mit Molly los war. Er sagte, dass sie wie seine kleine Schwester und dass Nelee auf der anderen Seite eine gute Freundin sei und dass keine einen Grund zur Eifersucht hätten.
„Nelee ist üb-her als i-h“, sagte Molly und Corin erwiderte:“ Sie ist älter, Mol. Ich bin doch viel zu alt für dich. Und irgendwann setze ich mich auf die Indian und fahre weg und dann kannst du noch immer sagen, dass ich wie dein Bruder bin. Das bin ich, solange du es möchtest.“
„I-h mö-hte, dass du hier bleib-.“
„Das kann ich nicht.“
„Bitte.“ Man mochte sich ihr verzweifeltes schiefes Gesicht nicht vorstellen, wie sie ihn darum anbettelte, er möge in der Stadt bleiben.
„Früher oder später gibt es immer Ärger, wo ich länger bleibe und deshalb bleibe ich nie lang. Es gibt Ärger, weil ich Dummheiten mache und wenn die Leute dahinter kommen, was noch alles gewesen ist, such ich mir am besten den kürzesten Weg aus der Stadt. Das ist schon immer so gewesen, Mol, und es ist das beste für mich, wenn ich unterwegs bin.“
„Es kann hier do-h anders sein.“
„Hier ist es genauso.“
Es tat ihr weh, das von ihm zu hören, aber sie konnte es akzeptieren, denn er hatte recht. Ihre Freundschaft war etwas, was auch noch andauern würde, wenn er nicht mehr da war und dann blieb noch die Hoffnung, dass er zurückkommen würde.
Tracey und ich erwachten erst aus unserem Traum der heilen Welt, in die Corin so scheinbar perfekt hineinpasste, als Corin am 16. Dezember seine Jacke anzog und sagte, er sei mit Nelee im Diner verabredet.
„Danach probier ich noch mal die Indian aus“, rief er, „ich glaub, ich hab den Fehler gefunden.“
Am frühen Abend rief Nelee an und wollte ihn sprechen und da erfuhr ich, dass Corin am Mittag nicht bei ihr aufgetaucht war.
„Wir waren verabredet“, bestätigte sie, „aber ich dachte, es sei ihm was dazwischen gekommen. Wo kann er denn stecken?“
Ich überlegte, ob er nur wieder durch Sweet Home lief und rief Jacob an, aber seine Leute hatten ihn nicht gesehen. Tracey sah in seinem Zimmer nach und in der üblichen Unordnung fand sie seine Sachen, von denen wir annahmen, dass er sie mitgenommen hätte, wenn er weitergezogen wäre.
„Die Indian“, sagte ich zweifelnd, „er weiß, dass sie ihm gehört, die hätte er nicht hier gelassen.“
„Es wird ihm doch nichts passiert sein.“
Wir beschlossen, eine Nacht auf ihn zu warten. Es war eine Nacht, in der wir erst vor Erschöpfung einschliefen und am Morgen begriffen, dass Corin nicht nach Hause gekommen war. Wir telefonierten durch die Gegend, setzten uns in den Ford und fuhren alle Straßen ab, fragten in jedem Laden nach, ob man ihn gesehen hatte. Niemand konnte uns helfen. Nelee war so verzweifelt, dass sie fast ihren Job im Diner verlor; sie konnte die einfachsten Bestellungen nicht mehr aufnehmen und verrechnete sich ständig beim Wechselgeld. Ihre Eltern holten sie für einen Kurzurlaub zu sich nach Hause, aber trotzdem rief sie ständig bei uns an um zu fragen, ob wir etwas von ihm gehört hätten. Jacob tat uns den Gefallen und erkundigte sich in weiterer Umgebung bei seinen Kollegen, aber Corin war nicht festgenommen und auch in keinem Krankenhaus eingeliefert worden.
Die folgenden Wochen waren schrecklich für uns, in denen uns langsam klar wurde, dass wir nichts tun konnten, um ihn wieder zurückzubringen. Wir wussten nicht einmal, warum er sich nicht verabschiedet hatte von uns.
Er wollte nicht gehen, dachte ich, aber auf dem Weg zum Diner muss irgendetwas passiert sein, was ihn dazu getrieben hat.
Weihnachten und Neujahr zu feiern war für uns unmöglich.
„Es ist, als hätte ich meinen Sohn verloren“, sagte Tracey.
Die einzige, die fest daran glaubte ihn wiederzusehen, war Molly. Sie sprach von ihm, als würde er jeden Augenblick zur Tür herein kommen und sie hielt diese Hoffnung bis zuletzt durch. Es dauerte sehr lange, ihr klarzumachen, dass sie ihn nicht wieder sehen würde.
Das neue Jahr begann und wir kehrten die Scherben zusammen und ordneten unser Leben neu. Tracey und ich räumten das Gästezimmer aus und verbannten alle seine Sachen in den Schuppen. Erst da fiel mir auf, dass die Elmer-Fudd-Mütze nicht mehr da war.
„Aber die hat er doch schon ewig nicht mehr getragen“, sagte Tracey.
„Hatte er sie auf, als er zu Nelee wollte?“
Daran konnten wir uns beide nicht mehr erinnern. Wir hatten ein paar Fotos von ihm, die ich mir oft ansah und nach zwei Monaten begann ich aus den Skizzen, die ich noch immer im Atelier hatte, ein Bild zu machen.
„Es ist so schwer“, sagte Tracey, als Ned uns besuchte, „weil wir nicht wissen, wie es ihm geht. Wir wissen nicht, wo er ist und was er macht. Ob er noch lebt. Diese Ungewissheit ist das schlimmste.“
„Du mochtest ihn.“
„Er war wie ein Kind für uns.“
Wir schliefen miteinander, aber für Tracey war es immer wieder die quälende Erinnerung daran, dass sie nicht schwanger werden konnte und es doch so sehr wollte. Ich machte mir Sorgen um sie und es dauerte Monate, bis sie sich wieder besser fühlte. Wir schienen es überstanden zu haben, selbst Nelee war wieder die Alte und manchmal schien es so, als habe es Corin nie gegeben. Bis ich dann diesen Traum hatte.

elf.
Trotz der intensiven Beschäftigung mit Corin hatte ich nie von ihm geträumt. Ich träumte von vielen anderen Dingen, teilweise von Erlebnissen aus meiner Kindheit und reichlich verrücktes Zeug, aber nie war er in meinen Träumen aufgetaucht. Ich diesem speziellen Traum konnte ich ihn nicht sehen, aber ich wusste, dass er in der Nähe war. Es war, als würde hinter meinem Rücken ein Film ablaufen, den ich zwar nicht sehen konnte, den ich aber trotzdem mitbekam. Corin erzählte mir in diesem Traum, dass er in irgendeiner kleinen Stadt in irgendeinem Bundesstaat, durch den er gekommen war, von den Leuten dort so freundlich empfangen worden war, dass sie ihm den Kopf verbrannten. Obwohl er es mir nie erzählt hatte und ich mir diese Sache nur zusammenreimen konnte, fügte sich in diesem Traum alles zusammen. Sie hatten ihn sich geschnappt, ihn zu Boden gedrückt und dann einen brennenden Streichholz auf ihn geworfen. Es war ein Wunder, dass er die Flammen irgendwie ersticken konnte. Irgendein Arzt hatte ihm eine Brandsalbe gegeben und gemeint, es sei damit erledigt. Ich fühlte diese Bilder, konnte mich in diesem Traum nicht bewegen und nicht reagieren, ich war unfähig, mich umzudrehen und nach Corin zu suchen, um ihm zu sagen, dass wir ihn vermissten und dass er zu uns zurückkommen solle. Als ich aufwachte, hatte ich mich in die Laken gewühlt und mich mit ihnen praktisch gefesselt; aber ich wusste plötzlich, was ich tun musste.
„Ich habe doch alle wichtigen Informationen, die ich brauche“, erklärte ich, „und ich weiß auch, wo ich anfange.“
Aber eigentlich hätte ich mir eingestehen müssen, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war; zwar hatte ich die Informationen, wo und wann Corin vor Jahren festgenommen und verurteilt worden war, aber das brachte mich nicht wirklich weiter, wenn ich ihn finden wollte. Er hatte unter anderem in New Jersey und in Chicago gesessen, einmal kurz in Montana. In Ohio war er in der Straßenbaukolonne gewesen. Er war in Lakewood, New Jersey, geboren, aber wer wusste schon, ob er dahin zurückgegangen war.
Ich bin immer unterwegs, hatte er gesagt, also war anzunehmen, dass seine Familie ihn schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen hatte.
Aber ich tat es trotzdem und Tracey war einverstanden damit.
„Es wäre wundervoll, wenn du ihn mit nach Hause bringst“, sagte sie, „aber es ist auch Okay, wenn du mir sagst, dass du ihn gefunden hast und dass es ihm gut geht, wo er jetzt ist.“
Mit einem Ford fuhr ich los, klapperte auf dem Weg durch Oregon jeden Truckstop ab, fragte dort nach Corin und zeigte sein Foto herum. Niemand erkannte ihn, aber das hatte ich auch nicht erwartet – nur erhofft. Ich kam nur langsam voran, der Ford hatte einige Aussetzer und ich bekam einen kleinen Einblick in Corins Welt, als ich in einem Truckstop landete, übermüdet nach einem Kaffee verlangte und las ich das Geld vergeblich in meinen Taschen suchte, zu hören bekam, dass ‚dort die Tür sei, wenn ich den Kaffee nicht bezahlen könne’. Ich fand die Münzen in der Hosentasche und legte sie wortlos auf die Theke. Der Kaffee schmeckte noch nicht einmal. Ich sah noch nicht so abgerissen aus, wie ich es am Ende meiner Reise tun würde, aber trotzdem war man mir gegenüber misstrauisch, als hätte ich etwas schlechtes an mir. Ich war sehr froh, als ich weiterfahren konnte und ich zeigte niemandem mehr Corins Fotos oder fragte nach ihm; diese Leute würden sich nicht an ihn erinnern, denn sie sahen diese ungewollten Gäste niemals direkt an.
Ich sammelte Erfahrungen und Eindrücke, fragte bei den Polizeistationen nach Corin und kurz vor Lakewood würde ich so abgehärtet sein, dass ich sogar in die Obdachlosenunterkünfte gehen würde. Einmal täglich telefonierte ich mit Tracey, aber noch immer musste ich ihr sagen, dass ich keine Spur von ihm hatte. Er konnte in jeder beliebigen Richtung gegangen sein, jede beliebige Route genommen haben. Ich setzte mich in den Ford und quälte ihn bis nach New Jersey, um ganz von vorn anzufangen.

zwölf.
Ich denke sehr gerne an die ruhigen Abende zurück, die wir zu dritt verbracht haben, Corin in unserer Mitte, als hätte er schon immer dazu gehört. Er hat sich bei allem, was er tat, Mühe gegeben, als wolle er uns nicht enttäuschen, aber manchmal schien es ihm zu viel zu sein und er wurde, was Tracey irgendwann ‚geistig ohnmächtig’ nannte. Er konnte sich nicht lange auf Diskussionen oder Themen konzentrieren, dann stieg er aus und verstummte. Wir nahmen ihm das nicht übel. Tracey und ich waren richtig stolz auf ihn, dass er sich in Sweet Home nichts zu Schulden kommen ließ und dass sogar Jacob irgendwann zugeben musste, dass er ein netter Kerl war. Die wenigen Fotos, die wir von ihm haben, entstanden an Thanksgiving und erinnern uns immer wieder an die schönen Zeiten. Die Indian wurde zu seinem Lieblingsspielzeug und er wurde nicht müde, mir zu erklären, was er alles getan hatte, um sie wieder hinkriegen zu wollen.
„Kannst du gut Motorradfahren?“ fragte ich ihn.
„Ich hatte nie ’n eigenes“, antwortete er.
„Mit der Indian wirst du besser unterwegs sein, ich wette, die Mädchen werden dir nachlaufen.“
„Mädchen machen nur Ärger.“
„Auch Nelee?“
„Sie würde ich mitnehmen, wenn ich könnte.“
Er hat sie nicht mitgenommen, ihr nicht einmal Lebewohl gesagt.
Als ich in seiner Heimatstadt herumlief, führte mich mein erster Weg zur Polizei. Dort wollte ich etwas von seiner Vergangenheit erfahren. Ich überlegte noch, dass wir die ganze Zeit annahmen, dass er aus widrigen Umständen verschwunden sei, ohne es selbst zu wollen, aber vielleicht hatte er auch nur seine Sachen und seine Freunde zurückgelassen, um eines Tages zurückkehren zu können. Vielleicht hatte er sich einfach nur die Hintertür offen gehalten.
Die Polizeistation von Lakewood war größer als unsere, die Cops hatten eine Menge zu tun, aber sie waren freundlich und höflich, als ich ihnen in mehreren Versuchen zu erklären versuchte, um was es ging.
„Ich suche jemanden“, sagte ich, „nein, keine Vermisstenanzeige. Er hat hier früher gelebt, er ist hier aufgewachsen. Ich verfolge einfach nur seine Spuren.“
Sie wollten den Grund dafür wissen und den konnte ich ihnen nicht so einfach liefern.
„Ich versuche, etwas über ihn zu erfahren, vielleicht hilft mir das, ihn zu finden. Wir wollen nur wissen, ob es ihm gut geht.“
Natürlich sagten sie mir, dass ich ins Archiv der Stadt hätte gehen können, aber als ich bemerkte, dass Corin vorbestraft war, öffnete sich endlich die Akte. Sie ließen mich zwar nicht hineinsehen, aber sie gaben mir Namen und Adressen von Leuten, die mir weiterhelfen konnten.
„Ich kann ihnen keinen Blick in die Akten gewähren“, erklärte der Polizist, „aber wenn sie zu seinem Strafverteidiger gehen, werden sie alles hören, was sie hören wollen.“
Aber dieser Pflichtverteidiger konnte sich nicht einmal an den Namen Corin Bootsen erinnern, er entschuldigte es damit, dass es schon Jahre her sei und er am laufenden Band kleine Ganoven verteidigte – unmöglich, sich an jeden zu erinnern. Wir saßen zusammen in seinem Büro, das den Charme einer Bahnhofstoilette hatte und der Anwalt gab sich nicht einmal die Mühe, ein freundliches Gesicht zu machen. Ich bat ihn, in seine Unterlagen sehen zu dürfen und er grollte mir entgegen, dass die alten Akten irgendwo gelagert seien und er keine Möglichkeit sah, bei seiner knappen Terminplanung im Lagerraum Kartons durchwühlen zu können. Seine Sekretärin sei Mittag essen und würde erst in einer Stunde wiederkommen. Resignierend gab ich mich damit zufrieden, am nächsten Nachmittag noch einmal hereinzuschauen und nahm mir die nächste Adresse auf der kurzen Liste vor.
Das Haus stand in einer Reihe von alten zweigeschossigen Holzhäusern, die gute und mehr schlechte Zeiten erlebt und überstanden hatten, aber die ganze Straße, das ganze Viertel machte einen verarmten und heruntergekommenen Eindruck. Die Nummer 1242 fand ich nur durch Zufall, hörte hinter dem Haus laute krachende Geräusche und wagte mich durch den Vorgarten. Der frisch gefallene Schnee war nicht weiß sondern grau; überzogen von schwarzen feinen Russpartikeln, die von der nahegelegenen Fabrik ausgestoßen und vom Wind herübergeweht wurden. Der Ruß bedeckte alles. Ich konnte ihn mittlerweile auch auf meiner Zunge schmecken und er brannte in meinen Augen. Hinter dem altersschwachen Haus stand ein dürrer großer Mann im Garten und hackte Holz. Er war dick angezogen gegen die Kälte, trug gefütterte Handschuhe und hatte sich einen roten Schal um das Gesicht gebunden. Seine Bewegungen waren langsam und er brauchte mehr als zwei oder drei Hiebe mit der Axt, um die Holzstücke zu spalten.
„Entschuldigen sie“, rief ich, „wohnen in diesem Haus die Simmons?“
„Ich hab euch schon tausendmal gesagt, dass es bei uns nichts mehr zu holen gibt“, erwiderte er ungerührt, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen.
Ich beeilte mich, dieses Missverständnis aus der Welt zu schaffen, weil es mir sehr peinlich war.
„Ich suche Gabriel Simmons, Sir, ich möchte mich nur mit ihm unterhalten. Können sie mir sagen, ob er hier ist?“
„Sie sind nicht von der Bank?“
Ein abgesplittertes Stück Holz fiel mir vor die Füße, ich bückte mich danach und warf es auf den Haufen. Es war schlechtes Brennholz und würde in diesem strengen Winter kein Haus ordentlich heizen.
„Nein, Sir“, sagte ich.
Der vermummte alte Mann sah mich an und unterbrach das Holzhacken.
„Sie wollen also kein Geld?“
„Ich möchte mich mit Gabriel Simmons unterhalten. Es geht um Corin Bootsen.“
Ich nahm an, er sei Gabriels alter Vater und lebte bei ihm in diesem Haus, denn er sah aus wie ein kranker alter Mann und er bewegte sich auch so.
„Corin Bootsen“, wiederholte er mit heiserer Stimme, „gehen wir rein. Treten sie sich die Schuhe ab, sonst bekommen sie Ärger mit meiner Alten.“
Eine kleine Treppe führte zur Hintertür, die nur durch einen Draht gesichert war, wir klopften uns den Schnee von den Schuhen und traten ein. Es war kalt in der Küche, ein eisiger Wind pfiff durch die undichten Fenster und Türen, die Einrichtung war erbärmlich, aber es war sauber und aufgeräumt.
„Setzen sie sich und sagen sie mir, wer sie sind“, sagte der Mann, „ich höre zu.“
Ich stellte mich vor und versuchte mich bei der anschließenden Erklärung kurz zu fassen.
„Ich versuche Corin zu finden und habe diese Adresse bekommen. Gabriel war ein Freund von ihm, so wie ich weiß.“
Als er den roten Schal abnahm und mühsam die Handschuhe auszog, kam darunter ein Mann zum Vorschein, der jünger sein musste als ich, vielleicht nur wenige Jahre älter als Corin. Er sah krank aus, viel zu krank, um bei der Kälte Holz zu hacken, seine Hände waren verkrümmt und knotig.
„Ich bin Gabriel“, sagte er. Im Mantel öffnete er die Tür zum Flur und brüllte durch das ganze Haus: „Mach mir ’n Kaffee!“ Er wandte den Kopf und fragte: „Wollen sie auch einen?“
„Ja, gerne“, sagte ich. Ich war durchgefroren und ein Kaffee würde gut tun, auch wenn die Dame des Hauses recht ruppig darum gebeten wurde, ihn aufzugießen. Gabriel setzte sich zu mir an den Tisch, strich sich das Haar zurück, was unter dem Schal an den Kopf gedrückt worden war.
„Ist lange her, dass ich was von Corin gehört habe.“
Seine Frau kam herein, ein junges Mädchen mit mürrischem Gesicht und geschlagen mit einer imposanten Fettleibigkeit, die nicht einmal das weite formlose Kleid verschleiern konnte. Über dem Kleid trug sie zwei Strickjacken und an den Füßen grobe schwere Schuhe.
„Mach uns zwei Kaffee“, wiederholte Gabriel und sie brummte, dass der Kaffee vermutlich nicht mehr für zwei reichen würde. Diese Situation war mir zu peinlich, als dass ich mich in dieses Streitgespräch eingemischt hätte.
„Wir haben erst letzte Woche neuen gekauft“, sagte Gabriel ruhig, „also sieh nach und mach uns welchen.“
Er sah mich so gleichgültig an, als gäbe es reichlich schlimme Dinge in seinem Leben, dass man sich über eine unfähige Ehefrau nicht mehr aufregen brauchte. Um überhaupt etwas zu sagen, lenkte ich das Gespräch zurück auf Corin.
„Wann haben sie Corin das letzte Mal gesehen?“
„Vor etwa fünf Jahren, kann auch länger her sein. Mit einem Mal war er wieder hier, sagte er sei gerade entlassen worden und wolle nur sehen, wie es seinem alten buddy ginge. Er hat’s hier dann aber nicht lange ausgehalten. Scheiße ist nur, dass wir uns gestritten haben, bevor er wieder verschwunden ist und wir konnten uns nicht einmal aussprechen. Er hat geschworen, dass er nie mehr wiederkommen würde.“ Gabriel fuhr sich mit den verkrüppelten Händen durch das Gesicht, dann war es an mir, etwas zu erzählen. Ich berichtete von der Indian und seine chaotische Art und der Entenjägermütze, die mir gleich an ihm aufgefallen war, währenddessen war endlich unser Kaffee fertig. Er war dünn, aber er schmeckte gut und ich bedankte mich bei meiner Lebensretterin. Sie blieb nicht bei uns in der Küche, verzog sich und wurde unsichtbar. Und dann sagte ich, dass Corin am helllichten Tag einfach verschwunden war und dass ich bisher noch keine frische Spur von ihm hatte. Gabriel trank bedächtig seinen Kaffee, kaum in der Lage, die Finger um die Tasse zu schließen.
„Rheuma“, erklärte er, nachdem ich wohl einen Moment zu lange hingestarrt hatte, „wird bei dem Wetter nicht besser. Und vor zwei Wochen haben sie uns das Gas abgedreht, weil wir die Rechnung nicht bezahlen konnten. Allein mit Holz lässt sich diese Bruchbude nicht heizen. Ich wette, Corin hat das richtige getan, als er abgehauen ist. Er sagte zu mir, jeder Ort sei besser als dieser hier, aber ich hab’s nicht geschafft.“
„Corin ging es sehr schlecht, als er zu uns kam“, erwiderte ich, „Und ich weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt. Möglicherweise ist ihm etwas zugestoßen, nachdem er uns verlassen hat.“
Gabriel war nicht auf den Kopf gefallen, er wusste, weshalb ich ihn belästigte und seinen Kaffee weg soff, ich brauchte es nicht einmal auszusprechen.
„Corin und ich sind hier in Lakewood zusammen aufgewachsen“, sagte er, „ich kann mich an viele Dinge erinnern, die wir so getrieben haben. Und ich hab noch ein paar Fotos. Wenn sie Zeit haben, suche ich sie raus.“
Es schneite wieder, die Flocken trieben an den Fenstern vorbei und ich wartete sehr geduldig, bis Gabriel mit den versprochenen Fotos wiederkam. Seine Frau erschien in der Tür, schüchtern wie eine Fremde in ihrem eigenen Haus, zupfte an ihren Jacken herum.
„Haben sie Corin Bootsen gekannt?“ fragte ich höflich. In solchen Gegenden war es typisch, dass man jemanden heiratete und bei ihm hängen blieb, der aus der gleichen Stadt stammte, den man schon als Kind gekannt hatte. Sie nickte und sagte: „Er war ein lieber Kerl, obwohl er mit Gabe eine Menge Blödsinn gemacht hat. Nie hat er jemandem weh tun wollen, obwohl ihn immer alle schlecht behandelt haben. Sogar seine eigene Familie.“
Bevor ich fragen konnte, ob die Bootsens noch in der Gegend lebten, kam Gabriel mit einem Schuhkarton zurück und stellte diese zwischen uns auf den Tisch. Er hob den Deckel ab, hielt inne und sah mich an.
„Das hier ist die Erinnerung an meine Kindheit“, sagte er, „alles, was ich noch habe aus dieser Zeit. Wenn ich ihnen etwas davon überlasse, werden sie verstehen, dass ich mich von diesen kostbaren Dingen nicht so einfach trennen kann.“
„Es ist nur fair, wenn ich ihnen jedes Foto bezahle, was sie mir überlassen.“
Damit war er zufriedengestellt. Er hob den Deckel und schüttete die Fotos auf den Tisch. Eine reiche Ausbeute war es nicht. Die schwarz-weiß Fotos waren vergilbt und verknickt, das schlechte Fotopapier hatte sich aufgerollt und brach, wenn man es zu glätten versuchte. Gabriel fand fünf Fotos, auf denen Corin zu sehen war. Dafür bezahlte ich ihm fünfzig Dollar, weil es mir die Fotos wert waren und weil er das Geld wirklich gebrauchen konnte. Gabriel nahm eines der Fotos, tippte zweimal darauf und sagte: „Das hier ist Corin. Hier hinten ist sein Bruder.“
Er war auf dem Foto nicht älter als zehn, aber ich erkannte ihn sofort wieder. Er lachte unbeschwert in die Kamera, etwas hinter ihm, seitlich im Bild, stand ein Junge etwa im gleichen Alter, ebenfalls lachend, aber er sah nicht in die Kamera. Seine Aufmerksamkeit schien etwas anderes zu fesseln, außer der Reichweite der Kamera.
„Ich wusste nicht, dass er einen Bruder hat.“
„Naja, sie sind keine richtigen Brüder“, antwortete Gabriel, „sie sind zusammen aufgewachsen beim alten Harvey. So richtig haben sie sich nie verstanden und es war nur gut, dass Corin irgendwann die Kurve gekratzt hat.“
Ich wusste, dass diese alten Dinge Corin nicht zurückbringen würden, aber ich war so fasziniert von diesen Fotos und von diesem unschuldigen jungen Gesicht, dass ich noch mehr wissen und sehen wollte. Auf den anderen Fotos sah Corin nicht so glücklich aus; er hielt einen großen Fisch in die Kamera, mit zurückgelegtem Kopf und angewidertem Gesicht, als habe ihn jemand zu der Fischerei gezwungen, zwei zeigten ihn vor einem Gebäude, das eine Schule sein konnte. Er war älter als auf dem lachenden Foto, desillusioniert und verschlossen stand er in einer kleinen Gruppe gleichaltriger, die sich alle einen Spaß daraus machten, um ihn herum das pralle Leben heraushängen zu lassen.
„Von seiner Vergangenheit hat er mir überhaupt nichts sagen wollen“; sagte ich, „vielleicht hätte ich ihn besser verstanden. Ich glaube, er ist verschwunden, weil wir irgendetwas falsch gemacht haben.“
Inzwischen hatte Gabriel die restlichen Fotos wieder in den Karton gepackt, diesen beiseite geschoben und rieb an den steifen Knöcheln seiner Finger herum.
„Machen sie sich keine Sorgen um ihn. Er ist bestimmt irgendwo untergekommen, wo es ihm gut geht. Damals hat er immer gesagt, er wolle nach Kalifornien und wir haben ihn damit aufgezogen und gesagt, dass die Leute ihn in Kalifornien nicht haben wollen würden – weil er nie lachte. Wenn du in Kalifornien bist, haben wir gesagt, dann wirst du gezwungen zu lachen. Die werden dich gar nicht erst über die Grenze lassen. Ich war der einzige, der wusste, was mit ihm los war, außer Peter, natürlich. Ich musste ihn aufziehen, so wie die anderen es taten, um mich nicht zu verraten. Corin hätte mich umgebracht, wenn ich es jemandem erzählt hätte.“
Wohl niemand hätte in dieser Situation nicht gefragt, was mit Corin los gewesen war und was Gabriel gewusst hatte und obwohl er mich wissendlich so brennend neugierig gemacht hatte, rückte er nicht mit der Sprache raus. Sehr würdevoll antwortete er: „Ich habe geschworen, es niemals irgendjemandem zu erzählen. Ich werde mein Versprechen halten. Als wir bei unserem Einbruch geschnappt worden sind, hat Corin alle Schuld auf sich genommen und hat mir damit ein paar Jahre Knast erspart. Das werde ich ihm nie vergessen, auch wenn ich weiß, dass ich ihn vermutlich nie mehr wieder sehen werde. Er war mein bester Freund damals. In der Nacht, in der er Lakewood verlassen hat, stand er unter meinem Fenster und hat mich aus dem Bett gepfiffen. Ich geh jetzt, hat er gesagt, keine Ahnung, wohin, aber das wird sich klären, wenn ich unterwegs bin. Ich hab geantwortet: Schreib ’ne Karte, buddy. Wir waren nicht mehr sauer aufeinander, aber wir konnten auch nicht darüber sprechen. Das war’s. Er ist unterwegs und ich sitze in diesem Haus und in diesem Leben wie eine Fliege an einem Fliegenfänger.“
Aber ich erfuhr von Gabriel, dass Peter noch in Lakewood lebte und er gab mir die Adresse.
„Wenn sie ihn finden“, sagte er, „würden sie ihm Grüße von mir ausrichten?“
„Natürlich“, sagte ich.
Seine Frau begleitete mich zur Tür, als ich sagte, dass ich gehen müsse.
„Entschuldigen sie, dass es hier so furchtbar aussieht“, flüsterte sie, „das Haus fällt uns über den Köpfen zusammen und vermutlich werden sie uns hier irgendwann rauswerfen. Gabriel ist nicht in der Lage, das zu erkennen, er glaubt, wir könnten uns ewig durchmogeln.“
Sie seufzte und ich wagte nichts zu sagen. Es wäre demütigend gewesen, ihr Geld für nichts anzubieten. Ich konnte den beiden nicht helfen.
„Kennen sie Corins Familie?“ fragte ich und sie drehte sich kurz um, als müsse sie sich vor ihrem Mann in acht nehmen.
„Ich bin hier groß geworden“, erklärte sie, „jeder kannte sie. Die Sache hat sogar in der Zeitung gestanden.“
Sie nickte und schloss die Tür hinter sich.
Zu dem Zeitpunkt dachte ich noch, dass die Verhandlung und Verurteilung in der Zeitung gestanden hatte, wollte mehr davon hören und fuhr noch mal zu dem unfreundlichen Anwalt nach Newark. Diesmal war er auch nicht kooperativer, obwohl er am Vortag noch versprochen hatte, die Akten für mich raussuchen zu lassen. Seine Sekretärin wollte mich nicht einmal zu ihm lassen.
„Hören sie“, sagte ich, „ich bin den ganzen Weg von Oregon bis hier hergekommen, um etwas über Corin Bootsen in Erfahrung zu bringen und gestern noch sagte ihr Boss mir, er würde die Akten für mich raussuchen. Sagen sie ihm bitte, dass ich hier auf ihn warte.“
„Das ist nicht nötig, Mr...?“
„Zivcovic“, sagte ich.
Sie sah aus wie eine kleine graue Maus, an der das Leben in Riesenschritten vorbeiläuft, aber beim näheren Hinsehen erkannte ich die Fassade. Auf ihrem Schreibtisch stand eine Bürotasse mit dem Harley Davidson Emblem, neben ihrem PC ein Foto, das sie mit einem Mann auf einer Maschine zeigte, irgendwo in der Wüste bei einem strahlend blauen Himmel. Sie riss einen Zettel vom Notizblock ab und schrieb etwas auf.
„Bootsen mit zwei O? EN am Ende?“
Das bestätigte ich und sie sagte: „Kommen sie in einer halben Stunde wieder, dann habe ich die Unterlagen für sie.“
Über die Gegensprechanlage informierte sie ihren Boss, dass sie etwas essen sei.
„Ich weiß nicht, wie ich ihnen danken soll.“
„Ich arbeite nicht gern für ihn“, verriet sie mir auf dem Weg nach draußen, „aber was soll ich machen, ich habe auch Rechnungen zu bezahlen. Für ihn ist jeder einzelne Fall nur eine Stufe nach oben, er hat längst vergessen, dass Menschen dahinter stehen. Er hat mir erzählt, dass jemand da war und nach einem alten Fall gefragt hat, aber er wollte nicht, dass ich ins Archiv gehe. Jetzt kann ich ihm eins auswischen. Zwar wird er es wohl nicht erfahren, aber es tut mir in der Seele gut, es zu machen.“
„Lassen sie sich dabei bitte nicht erwischen, ich möchte nicht, dass sie wegen mir Ärger bekommen.“
Sie tat das mit einer hinfälligen Geste ab und fuhr mit dem Aufzug ins Archiv. Ich wartete eine halbe Stunde und traf sie dann vor dem Büro wieder. Die Akte war nicht sehr dick, ein schmales Hängeregister, auf dem ‚Corin Bootsen’ stand.
„Ich mache ihnen Kopien davon, die Originale darf ich nicht rausgeben“, sagte sie.
Es waren die Unterlagen der Verhandlung gegen Corin und Gabriel wegen schweren Einbruchs. Man hatte sie in dem Laden auf frischer Tat ertappt, weil sie unbemerkt den Alarm ausgelöst hatten .Sie hatten sofort gestanden und die Verhandlung war reine Formsache gewesen. Corin war zu dem Zeitpunkt erst siebzehn, aber das schien niemanden interessiert zu haben. Nur ganz kurz kam sein persönliches Umfeld zur Sprache, dass seine Tante ihn bei sich aufgenommen hatte und er schon immer etwas schwierig gewesen sei. Seit dem Tod der Tante lebte er mit Harvey Coleman und dessen Sohn Peter unter einem Dach, galt als verschlossen und kontaktarm. Niemand sagte für ihn aus. Er gab zu Protokoll, den Einbruch geplant und seinen Freund massiv dazu gezwungen zu haben und er wurde zu drei bis fünf Jahren verdonnert. Das alles las sich sehr trocken, aber ich kannte den Hintergrund und es machte mich traurig.
Ich gab der Sekretärin alles zurück und wollte keine Kopien haben.
„Hat von dieser Verhandlung etwas in der Zeitung gestanden?“ fragte ich.
„Glaube kaum, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.“
Ich kaufte ihr einen Strauß Blumen, um mich für diesen Einsatz zu bedanken. In Lakewood war ich in einem billigen Hotel untergekommen, schlief dort sehr schlecht, dass ich es nicht erwarten konnte, endlich mit Peter Coleman zu sprechen.
Ich suchte ihn am frühen Vormittag auf, als ich erfuhr, dass er keinen Job hatte und somit zu Hause war. Jedenfalls hatte Gabriel ihn nicht vorgewarnt, dass ich kommen würde. Er öffnete mir die Tür zu seiner Wohnung und war nur halb angezogen.
„Ja?“ sagte er.
In dem Flur roch es nach Urin und Hundescheiße, dass es kaum zu ertragen war und ich hoffte, dass Peter mich in die Wohnung lassen würde.
„Mein Name ist Zivcovic“, sagte ich, „und ich bin hier, weil ich ihnen ein paar Fragen über Corin Bootsen stellen möchte. Wenn sie damit einverstanden sind.“
„Was ist denn mit ihm los, dass sie mir Fragen stellen wollen?“
Peter stand in der halb geöffneten Tür, hielt sich am Türrahmen fest und sah mich angestrengt an, wie jemand, der ohne Brille etwas zu erkennen versucht.
„Ist er wieder in Schwierigkeiten? Hat er jemanden umgebracht? Hey, sind sie überhaupt ein Bulle?“
„Würden sie mit mir reden, wenn ich einer wäre?“ entgegnete ich, „nein, ich komme nicht von der Polizei. Ich möchte mich nur über Corin unterhalten.“
Endlich ließ Peter mich ein und er ersparte sich den Satz „Ich bin noch nicht zum aufräumen gekommen“. In der winzigen Wohnung sah es aus, als habe ein Tornado gewütet. Nichts war an seinem Platz, ein Schrank mit Wäsche war ins Zimmer gekippt, Zigarettenkippen auf dem Fußboden, die Tür zum Badezimmer fehlte. An dem Fenster waren keine Gardinen mehr, die Tapeten waren beschmiert und teilweise abgerissen. Ich bahnte mir einen Weg, zog es vor, stehenzubleiben, während Peter sich wieder ins Bett legte.
„Okay“, sagte er müde, „schießen sie los.“
„Wann haben sie ihn das letzte Mal gesehen?“
„Als er verurteilt worden ist. Wir haben ihn im Knast nicht besucht und als er entlassen wurde, hat er sich aus dem Staub gemacht. Harvey sagte, das wäre der glücklichste Tag seines Lebens gewesen.“
„Lebt ihr Vater noch?“
„Ich hab ihn letzten Sommer beerdigt.“
„Er hat Corin und sie nicht gerade zart angefasst, nicht wahr?“
Äußerlich gab es keine Ähnlichkeit zwischen Corin und Peter, aber ich konnte fühlen, dass die beiden etwas verband. Es war eine ganz eigenartige Vorahnung.
„Was hat Corin ihnen erzählt? Mein alter Herr hat versucht, den Teufel aus ihm rauszuprügeln, das hat er getan. Er war davon überzeugt, dass in jedem Menschen das Böse steckt. Corin hätte niemals zu uns kommen dürfen, nachdem seine Mutter abgehauen ist. Er hätte es überall besser gehabt als bei uns.“
Dieses Gespräch mit Peter brachte sehr viel ans Licht, es ließ die alten Fotos in meiner Brieftasche zum Leben erwachen und es ließ mich auch verzweifeln. Wenn ich das alles vorher gewusst hätte, dann hätte ich so viel mehr für Corin getan und vor allem hätte ich ihn nicht einfach gehen lassen. Ich konnte mit diesem Wissen nicht schlafen. Ich versuchte mir vorzustellen, wo er hingegangen sein mochte, was ihn aus Sweet Home getrieben hatte. Jetzt, wo ich seine Vergangenheit kenne, weiß ich, weshalb er sich niemandem anvertrauen konnte, weshalb er nur seinem besten Freund Gabriel davon erzählt hatte und dieser schwören musste, nie etwas davon zu erzählen. Die Sache, die in der Zeitung gestanden hatte, hatte nur bedingt mit Corin zu tun.
Es war Harveys Geschichte.

dreizehn.
Harvey Coleman, der grobe Gefängniswärter, der davon überzeugt war, dass jede Seele schlecht und böse war auf dieser Welt, hatte sine Frau von Anfang an in ihre Schranken gewiesen. Sie machte ihm das Essen, sie hielt das Haus sauber und sie bügelte seine Uniform. Wenn er es von ihr verlangte, ließ sie sich von ihm besteigen und dann schenkte sie ihm einen Sohn, den kleinen Peter. Er fand es in Ordnung, einen Stammhalter zu haben, einen Sohn gezeugt zu haben, aber er hatte kein großes Interesse an ihm. Ab und zu verteilte er Backpfeifen und Kopfnüsse, um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, wer der Herr im Haus war. Jane Coleman führte ein kleines erbärmliches Leben an der Seite ihres Mannes, sie beanspruchte nichts für sich und ergab sich ihrem Schicksal.
Erst, als ihre Schwester zu Besuch kam und sagte, dass sie einen Mann kennengelernt hatte und mit ihm wegziehen würde, änderte sich ihr Leben. Ihre Schwester hatte ihren Sohn dabei, der gerade ein halbes Jahr alt war, während ihr Peter schon fast zwei war.
„Liebst du diesen Mann?“ hatte sie gefragt, „wird er ein guter Vater für Corin sein?“ und ihre Schwester hatte sehr unverblümt geantwortet, dass ihr Verehrer sie nur ohne Kind mitnehmen würde. Er habe wichtige Geschäfte am Laufen und konnte kein Kind gebrauchen.
„Wenn du ihn nicht nimmst, bringe ich ihn zur Fürsorge, damit die ein neues zuhause für ihn finden. Ich komme ihn ja wieder abholen, wenn wir uns eingerichtet haben.“
Sie verschwand und kam nie wieder. Jane traf die Entscheidung, den kleinen Corin zu behalten, egal, was Harvey davon halten würde. Ein einziges Mal setzte sie sich ihm gegenüber durch.
„Du wirst zwei Söhne haben“, sagte sie zu ihm, als er ungläubig auf das brüllende Baby starrte, „Peter und Corin, die sich eines Tages um uns kümmern werden, wenn wir alt und krank sind.“
Den Jungs ging es gut, solange Harvey seinen Dienst im Gefängnis schob, aber es brach die Hölle aus, wenn er nach Hause kam. Er prügelte seine Frau krankenhausreif und zwang sie, nach außen so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Als sie krank wurde, ließ er sie nicht zum Arzt gehen und behauptete, sie würde sich nur vor der Arbeit drücken wollen. Mit den Jahren wurde sie schwächer und hinfällig und er wurde immer bösartiger. Im Dienst war er einige Male angegriffen und verletzt worden und er misstraute jedem und allem. Corin war zehn und Peter zwölf, als Jane zusammenbrach, Harvey endlich den Arzt rief und sie ins Krankenhaus kam.
„Ihre Frau ist schon sehr lange krank“, sagte der Arzt und Harvey meinte: „Sie hat nie gejammert. Das Haus war immer aufgeräumt und ich konnte nie über das Essen klagen. Woher sollte ich wissen, dass es ihr nicht gut geht? Sie hat sogar noch mit mir geschlafen, wenn mir danach war.“
Aber im Krankenhaus zeichnete sich ab, dass es Jane so schlecht ging, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde. Harvey packte die Wut und während seiner Schicht prügelte er einen Häftling nieder, der ihm nicht schnell genug aus dem Weg ging und benutzte dabei seinen Gummiknüppel. Als der Gefangene sich nicht mehr rührte, warf er ihn in seine Zelle. Am nächsten Morgen war der Mann tot. Es musste ein Verfahren eingeleitet werden, weil die Angehörigen des Toten auf die Barrikaden gingen und die Sache in die Zeitung brachten. Man beschuldigte Harveys Ausbruch mit Stress und suspendierte ihn für einige Wochen. Während dieser Zeit starb Jane im Krankenhaus langsam vor sich hin und niemand fragte sich, was mit den beiden Jungs geschah, die mit dem Vater allein waren.
Zur Schule gingen sie schon lange nicht mehr, das Haus rutschte ins Chaos. Peter versuchte, sich um das Essen und um alles andere zu kümmern, aber er war gerade zwölf Jahre alt und lebte nur noch in der Angst, wegen irgendetwas verprügelt zu werden. Er wusste, dass Corin nicht sein richtiger Bruder war, aber er versuchte immer wieder, ihn zu beschützen. Die Zeit der Suspendierung war für sie die Hölle auf Erden. Harvey sperrte Corin tagelang in einen massiven Schrank ein, weil er ihn nicht sehen wollte und nannte ihn die Ausgeburt der Hölle.
„Eines Tages, Peter“, sagte er in einem seltenen ruhigen Moment, „eines Tages wird Corin bei mir im Knast landen, auf meiner Station. Es ist vorprogrammiert. Ich kann ihm ansehen, dass er nichts Gutes im Leib hat.“
Er lernte eine Frau kennen, Jane starb auf der Pflegestation, ohne dass er sie einmal besucht hatte, die Jungs wurden von der neuen Mutter wieder in die Schule geschickt, damit sie vormittags das Haus für sich hatte. Die Gewalt wurde weniger, aber sie hörte nicht auf. Harvey schlug nie ins Gesicht, die Lehrer schöpften nie Verdacht. An manchen Tagen konnte Corin kaum laufen, weil Harvey ihm mit einem Knüppel in die Kniekehlen geschlagen hatte. Gabriel aus dem Haus gegenüber war Corins einziger Freund und der einzige, dem er diese Dinge anvertraute. Peter konnte und wollte ihm nicht mehr helfen, er wollte nur noch seine eigene Haut retten.
„Schwöre, dass du niemandem davon erzählst“, sagte Corin und Gabriel hob die Finger zum Schwur. Es schweißte sie zusammen und dieses gemeinsame Geheimnis hielt sie auch noch verbunden, als Corin eingesperrt wurde.
„Er schlägt mich, Gabe. Er schlägt mich so lange, bis mir die Luft wegbleibt oder bis er keine Kraft mehr hat. Dann muss ich in den Schrank kriechen und er schließt die Tür ab und da drin bekomme ich kaum Luft. Ich weiß, wenn er mich rausholt, schlägt er mich wieder. Am liebsten würde ich in dem Schrank sterben. Gestern hat er meinen Kopf auf den Boden gehauen und ich hab alles voller dicker Beulen. Ich seh alles doppelt. In der Schule musste ich nachsitzen, weil ich nicht von der Tafel ablesen konnte. Ich kam zu spät nach Hause und er ist wieder wütend geworden. Er will mich umbringen, weil ich eine schlechte Seele habe.“
Peter teilte das Geheimnis der beiden Freunde, denn er war immer Zeuge der Misshandlungen gewesen, aber vor lauter Angst hatte er es nie gewagt, sich gegen seinen Vater zu erheben. Vielleicht gab es da noch etwas zwischen Corin und dem alten Harvey, von dem niemand etwas wusste; ich wagte mir nicht vorzustellen, was noch alles geschehen sein mochte. Corin hatte seine erste Strafe in New Jersey abgesessen, war nach seiner Entlassung verschwunden und erst nach Jahren zurückgekommen.
Das machte mir Hoffnung, dass er auch zu uns zurückkommen würde. Ich erzählte von Peter und Gabriel, als ich mit Tracey telefonierte. Sie klang depressiv und fragte, wann ich heim kommen würde.
„Soll ich die Suche abbrechen? Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Es geht mir gut, aber ich vermisse dich.“
„Ich vermisse dich auch“, sagte ich, „möchtest du, dass ich Corin finde und ihn mitbringe?“
„Ja, natürlich.“
„Hältst du es noch eine Weile aus?“
Tracey schwieg, antwortete zögernd, dass sie es aushalten würde. Ich tat so, als würde ich Corin an der nächsten Straßenecke auflesen und ins Auto setzen können, nur um ihr Mut zu machen, aber meine Reise in seiner Vergangenheit konnte mir überhaupt nicht bei der Suche helfen. Trotz allem war Peter ein freundlicher hilfsbereiter Typ, der für mich in seinem Gedächtnis herumkramte und meine Fragen beantwortete.
„Corin hat nie von seinen Eltern gesprochen“, sagte er, als ich ihn danach fragte, „sie existierten für ihn nicht. Er wollte sie nicht suchen, er wollte seine Mutter nicht kennenlernen. Jane war seine Mutter, bis wir sie beerdigt haben. Er wollte nie irgendeinen Job machen, er ging nur zur Schule, wenn wir ihn dazu zwangen. Corin war wie jemand ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Wenn er nicht auf die schiefe Bahn geraten wäre, hätte er Lakewood nie verlassen und würde heute mit seinen Idiotenfreunden an der Ecke stehen und Mädchen hinterher pfeifen. Sie kennen die Sorte, oder?“
Ich kannte diese Sorte, aber ich bezweifelte, dass Corin jemals so geworden wäre.
Peter schlief von der ungewohnten Anstrengung fast ein, als er noch darüber nachgrübelte, ob seine Familie noch irgendwo Verwandte hatte und ich ließ ihn allein.
Bei der ortsansässigen Zeitung erfuhr ich, dass es ein Archiv gab, aber dass mir das nichts nützen würde.
„Es hat gebrannt bei uns“, erklärte der junge Mann und hackte weiter auf seinem Computer herum.
„Das Archiv ist verbrannt?“
„Nee, gebrannt hat es in der Cafeteria im ersten Stock. Aber das Löschwasser ist in den Keller gelaufen und hat das Archiv überflutet. Wir versuchen noch immer zu retten, was zu retten ist. Einen Teil haben wir in den Computer eingegeben, aber jede Recherche wäre sinnlos.“
Ich kaufte mir ein paar gute Straßenkarten, breitete sie in meinem Hotelzimmer auf dem Fußboden aus und versuchte mich in Corins Lage zu versetzen. New Jersey liegt an der Ostküste. Wenn es stimmte, dass er schon seit Jahren durch die Gegend zog, mochte er jede Route quer durchs Land kennen. Die großen Städte zu überprüfen war sinnlos – niemand würde sich dort an ihn erinnern, aber kleine Ortschaften und Truckstops an der Straße war meine Chance. Ich hatte Erfahrungen gesammelt. Ich durfte sein Foto nicht herumzeigen und ‚kennen sie diesen Mann’ fragen.
Es musste ganz einfach anders laufen, ich musste mich in Corins Fußspuren bewegen und hoffen, dass ich nicht vom Pfad abkam.



vierzehn.
Ich kaufte mir ein dickes gebundenes Notizbuch, in dem ich alles eintrug, was mir wichtig erschien. An manchen Tagen schrieb ich viel, an manchen wenig, aber ich bemühte mich, stets die Ortschaften und Routen zu notieren, die ich gefahren war.
Mit dem alten Ford kam ich nicht schnell voran, immer wieder ging etwas kaputt und musste repariert werden. Aus New Jersey war ich herausgekommen, aber ich landete im Niemandsland, als mir der Wagen wieder stehenblieb. In der Ortschaft Greenfield gab es kein freundliches Gesicht und keine Hilfe für mich. Die Werkstatt war geschlossen und als ich im erstbesten offenen Laden nach jemanden fragte, der sich etwas dazu verdienen wolle und meinen Wagen reparieren würde, bekam ich nur zu hören, dass es in Greenfield anders liefe.
„Ich bin auf der Durchreise“, erklärte ich freundlich und wurde das Gefühl nicht los, dass der Methusalem hinter der Theke ein abgesägtes Schrotgewehr auf meinen Bauch gerichtet hatte.
„Die Werkstatt macht übermorgen wieder auf.“
„Das hab ich schon auf dem Schild gelesen, was an der Tür hängt. Aber ich habe es eilig.“
„Vor Montag läuft nichts“, bekam ich zur Antwort.
„Komme ich hier dann irgendwo in einem Hotel unter oder muss ich in meinem Wagen im Straßengraben schlafen?“
Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits einige Wochen unterwegs und das hatte seine Spuren hinterlassen. Um mir die Rasiererei zu ersparen, hatte ich mir einen Bart stehen lassen, die Klamotten, die ich trug, wurden irgendwie überhaupt nicht mehr sauber und wiesen einige Löcher und Risse auf. Es gab genug Gründe, um mir zu misstrauen, aber selbst das Geld, was ich bei mir hatte und die gültigen Papiere schafften es nicht, ein besseres Licht auf mich zu werfen. Wahrscheinlich glaubten alle, ich hätte jemanden überfallen. Es war ein reines Wunder, dass ich es nicht noch mit der Polizei zu tun bekam.
Es gab ein einziges gutes Hotel im Ort mit einer Kapazität von vier Zimmern. Ein altes Ehepaar vermietete die oberen Etagen ihres Hauses, um die Rente aufzubessern. Sie gaben mir eines der Zimmer direkt neben dem Bad und der Toilette, dass ich nur ein paar Schritte über den Flur machen musste. Während meines Aufenthalts hätte ich gerne in Greenfield herumgeschnüffelt und nach Spuren gesucht, aber mir gefiel die Atmosphäre nicht. Ich blieb die meiste Zeit in meinem Zimmer.
Als ich Montag Morgen endlich den Ford abschleppen und nachsehen lassen konnte, entging mir nicht, dass ein Uniformierter mich von der anderen Straßenseite beobachtete, dabei seinen Kaffee aus einem Pappbecher trank.
„Hartes Wochenende gehabt?“ mutmaßte ich fröhlich, als der Mechaniker seine Werkstatt aufschloss und wir den Ford hineinschoben. Er bekam kaum die Augen auf, fiel über seine eigenen Füße und sprach während der ersten halben Stunde kein Wort mit mir. Er hatte Mühe, die Motorhaube zu öffnen und schien dann, halb in meinem Wagen steckend, eingeschlafen zu sein.
Ich versuchte es mit Bestechung. Unter den misstrauischen Blicken des Polizisten marschierte ich ins Diner, holte zwei Kaffee und kam in die Werkstatt zurück.
„Können sie einen gebrauchen?“
Der Mechaniker sah an der Motorhaube vorbei zu mir hinüber, entdeckte den Kaffee und grinste. Auf dem Overall, den er trug, war sein Name eingestickt, er stellte sich mit dem selben Namen vor und gab nach dem ersten Schluck Kaffee zu: „Ich bin nicht gerade ein Frühaufsteher. Normalerweise komme ich nicht vor Mittag aus dem Bett, aber mein Boss meinte, dass ihre Schleuder eilig sei.“
„Ich will hier nicht länger bleiben als nötig.“
Ich machte eine Kopfbewegung und deutete hinüber zur Straße. Vinnie pulte deutlich abschätzig mit der Zunge in seinen Zähnen herum und kommentierte: „Ich dachte, ich hätte wieder was ausgefressen, woran ich mich nicht mehr erinnern kann. Es ist nicht schwer, sich seinen Unmut zuzuziehen.“
Vinnie sprach aus Erfahrung. Er hatte sich jahrelang herumgetrieben und sich mit kleinen Gaunereien und Straßengeschäften über Wasser gehalten, bis er zu seiner Familie zurückgekehrt war.
„Ich bin grundsolide geworden“, behauptete er, ich wusste nicht, ob ich ihm das abkaufen konnte, „aber dass ich ein paar Dummheiten gemacht habe, wird man mir noch in fünfzig Jahren vorwerfen.“
Er fand den Fehler im Motor und hatte zum Glück auch das passende Ersatzteil griffbereit. Ich erzählte ihm, dass ich unterwegs war und einen alten Freund suchte.
„Wenn man ohne Ziel unterwegs ist“, sagte ich, „dann folgt man einem bestimmten Muster, denke ich. Ich halte mich an vielbefahrene Straßen, um schnell mitgenommen zu werden. Ich bevorzuge kleine Städte, weil man dort noch etwas Hilfsbereitschaft erwarten kann und ich bleibe nirgends länger als nötig. Das ist das Muster, dem ich folge.“
„Das ist ’ne Lebensaufgabe, auf diese Art jemanden finden zu wollen.“
Mittlerweile tat mir vom Herumstehen der Rücken weh, ich musste mich setzen und zeigte Vinnie eines der Fotos, mit denen ich Corin am Anfang noch gesucht hatte.
„Wenn ihr Freund wirklich durch diese Gegend gekommen ist, wird er hier nicht halt gemacht haben. Er sieht aus, als wüsste er, wo’s langgeht. Selbst ich würde hier nicht leben, wenn meine Familie nicht wäre.“
Von außen hatte Greenfield, Ohio, normal ausgesehen und einen friedlichen Eindruck gemacht, aber dieses Beobachtet werden und die offene Ablehnung hätten mich unter anderen Umständen sofort weiterfahren lassen.
„Ich kann ihnen vielleicht helfen.“
Vinnie war mit meinem Ford fertig, wischte sich die Hände sauber und wir gingen vor die Tür der Werkstatt, wo er eine Zigarette rauchen wollte. Der Polizist hatte kalte Füße bekommen und war verschwunden, aber deshalb fühlte ich mich nicht wohler.
„Ich war selbst oft genug in Schwierigkeiten und hab harte Zeiten hinter mir. An der Ostküste hab ich Monate in Untersuchungshaft gesessen und niemand hat mir geholfen. Ich hatte nicht einmal einen anständigen Anwalt. Man hat in dieser Zeit Gelegenheit über alles nachzudenken, aber ich hab trotzdem lange gebraucht, um mir einzugestehen, dass ich etwas ändern muss.“ Er sah mich ernst an. „Wenn er durch diese Gegend gekommen ist, wird er die Route über Cincinnati genommen haben, die Landstraße folgt der fünfzig nach St. Louis. Versuchen sie ihr Glück.“
Glück war das, was ich am meisten gebrauchen konnte. Ich war Vinnie sehr dankbar für diesen Tip, bezahlte die Reparatur meines Wagens und obwohl ich noch nicht gefrühstückt hatte, fuhr ich sofort weiter und verließ Greenfield.
Nach einem reichhaltigen Frühstück in einem Fastfood Restaurant rief ich Tracey an und sie war so aus dem Häuschen, dass ich sie am Telefon fast nicht verstehen konnte.
„Doc“, rief sie, „Corin hat sich bei mir gemeldet.“


fünfzehn.
Tracey und ich telefonierten sehr lange miteinander und dabei kam ich überhaupt nicht dazu, etwas von Vinnie zu erzählen. Tracey war euphorisch bis an den Rand der Hysterie, ich ließ sie reden und erzählen und gab mir einfach nur Mühe zuzuhören. Corin hatte bei ihr angerufen und gesagt, dass es ihm gut ginge.
„Er hat sich so ruhig und zufrieden angehört und seine Stimme klang so nahe, dass ich glaubte, er sei in einer Telefonzelle direkt um die Ecke. Ich fragte ihn sofort, wo er sei und er sagte, es wäre nicht wichtig. Doch, sagte ich, es ist wichtig. Wir vermissen dich. Ich wollte ihm keine Vorwürfe machen, Doc, ich hatte Angst, er würde dann auflegen. Er sagte, er sei in Sutton, Nebraska und er habe einen Job angenommen, er würde für ein paar Dollar Fenster putzen und so weiter. Und dann sagte er, dass er gerne irgendwann zurückkommen würde. Verstehst du, Doc? Er will zu uns zurückkommen. Ich hab ihm sofort gesagt, dass er jederzeit zurück kann, dass du ihn sogar abholen würdest von dort, wo er jetzt ist. Im Hintergrund konnte ich Stimmen und Geräusche hören, ich denke, er hat von einer Bar aus telefoniert, aber er klang nicht betrunken. Ich war so glücklich und so aufgeregt, dass er sich gemeldet hat und dass sich alles so gut anhörte. Ich musste richtig lachen, als er sagte, dass sein Haar nachgewachsen sei. Nelee sei ihm nicht aus dem Kopf gegangen und er würde zurück nach Sweet Home kommen, aber ich solle ihr nichts davon sagen. Er wollte nicht, dass sie nur noch auf ihn wartet. Doc, glaubst du, er kommt zurück, wenn das Wetter besser wird? Wir haben ihm doch immer erzählt, wie schön Oregon im Sommer ist und dass wir mit ihm zum Strand fahren würden. Kannst du nicht versuchen, ihn in Sutton zu finden?“
„Tracey, ich bin in Ohio. Ich müsste tagelang fahren, um dort hinzukommen und wer sagt, dass er noch dort ist, wenn ich ankomme?“
„Wirst du es versuchen?“
„Ja“, sagte ich, „ich versuche es. Dazu bin ich ja unterwegs.“
Aber es wird ihm ganz sicher nicht gefallen, wenn er erfährt, dass ich von seiner Vergangenheit und seiner Kindheit weiß. Dass ich mir ein klares Bild von all diesen Dingen machen kann, die er die ganze Zeit vor uns versteckt gehalten hat. Bei uns wollte er nur Corin sein, er wollte kein Mitleid, keine falsche Aufmerksamkeit, kein Misstrauen. Vielleicht versperrt mein Wissen den Weg zu uns zurück.
Darüber machte ich mir so sehr Gedanken, dass mir übel wurde. Ich verheimlichte es vor Tracey. Sie war in Gedanken schon dabei, das Gästezimmer für ihn wieder herzurichten.


sechzehn.
Ich nahm mit dem Ford erst die vierundsiebzig und dann die achtzig in Richtung Salt Lake City. Ich war auf dem Highway schnell unterwegs, machte nur kurze Zwischenstops und schlief nur wenige Stunden. Diese Reise durch den mittleren Westen führte mich durch öde endlose brachliegende Felder, durch ausgestorbene Gemeinden und durch Städte, deren Namen man sofort wieder vergaß, wenn man sie hinter sich gelassen hatte. Die Menschen waren arm und arbeiteten hart, um überleben zu können, um ihr Land zu halten und es an ihre Kinder weitergeben zu können. Wo ich auftauchte, schlug mir Misstrauen entgegen und ich fuhr schnell weiter. Corins Fotos auf dem Armaturenbrett begleiteten mich, hielten mir vor Augen, weshalb ich unterwegs war.
Meine Gedanken eilten der Zeit voraus, ich sah in mein Inneres und versuchte mir vorzustellen, wie ich Corin in einer Bar in Sutton traf, mich mit ihm unterhielt und ihm den Vorschlag machte, mit nach Sweet home zu kommen.
Dort gibt es mehr als nur ein altes Motorrad, was auf dich wartet, würde ich zu ihm sagen und er würde ein wenig verlegen reagieren und dann zustimmen.
Natürlich würde er mit nach Hause kommen. Corin würde sich bei uns einleben. Wir würden ihm bei allem helfen. Das hatten wir schon mal getan und es würde ein zweites Mal funktionieren.
Von einem Hobo, den ich irgendwo an der Grenze nach Nebraska traf und dem ich von Corin erzählte, bekam ich einen kostenlosen Rat, nachdem wir uns ein Mittagessen geteilt hatten. Der bärtige alte Kerl, der seinen Schal wie ein Dandy mit Schwung herumwarf, sagte zu mir: „Doc, ich bin schon seit zwanzig Jahren unterwegs und lass dir von einem alten Hasen etwas sagen. Du suchst jemanden, der aus seinem sozialen Umfeld verschwunden ist. Frag dich, warum er verschwunden sein könnte und frag dich, warum du ihn suchst. Beantworte dir diese Fragen. Wenn du mit den Antworten leben kannst, such ihn weiter. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt in dieser Sache. Vielleicht will er nicht gefunden werden. Möglicherweise ist er zufrieden und glücklich dort, wo er jetzt ist und bei dem, was er dort macht. Er könnte anders reagieren, wenn du vor ihm stehst und die Arme ausbreitest wie ein liebender Vater. Halte dir das vor Augen.“
Ich sah diesen bärtigen Hobo nie wieder, aber ich dachte oft an seine Worte. Ich kam Sutton immer näher, mit dem Ziel vor Augen konnte ich es nicht mehr ertragen, vielleicht enttäuscht zu werden und ohne Corin nach Hause fahren zu müssen. Möglicherweise hatte er auf Teufel komm raus gelogen, vielleicht war er gar nicht in Sutton, wie er es Tracey gesagt hatte – vielleicht wollte er nicht gefunden werden. Diese Zweifel würden bestehen bleiben, bis ich Sutton endlich erreicht hatte.
Die Suche hatte mich dünnhäutig und abgebrüht zugleich werden lassen, meine Nerven waren nicht mehr die besten in dieser Zeit. So mussten sich die Männer und Frauen fühlen, die so unterwegs waren, so musste sich Corin fühlen.
Bei den Stops, die ich einlegte, kam mein Misstrauen immer mehr durch, hinter jedem freundlichen Gesicht witterte ich Verrat und ein böses Spiel. Als es mir bewusst wurde, hatte es sich schon so in meinen Kopf eingegraben, dass ich es nicht mehr abstellen konnte. Ich fühlte mich wie ein Vogelfreier, nichts wert und nicht dazu berechtigt, einen alten Ford zu fahren. Nie wieder hat man so oft meine Papiere überprüft wie in dieser Zeit.
Aber trotzdem dachte ich nicht ans aufgeben, wo ich doch so kurz vor dem Ziel war, nur wenige Meilen von Corin entfernt, dem ich mich so verbunden fühlte, als wäre er mein eigener Sohn. Immer wieder sah ich auf die Fotos, die breite Straße führte schnurgerade durch die flache baumlose Landschaft. Ich hielt den Wagen auf der Straße und hatte das Gefühl, niemals anzukommen. Scheunen und Wasserspeicher tauchten am Horizont auf, Windräder und kleine Farmhäuser, es brauchte Stunden, bis man sie erreichte und sie wieder hinter sich ließ.
Wenn Corin auf diesen Straßen zu Fuß und per Anhalter unterwegs war, musste er viel Zeit zum Nachdenken haben. Und ein Paar gute Schuhe. Ich dachte an seine schweren Arbeitsschuhe mit dicker Sohle. Ich dachte an seine Entenjägermütze. Irgendwann geschah das Wunder und ich erreichte Sutton, Nebraska. Eine unbedeutende Ansammlung von einigen Farmen und Häusern, einem Gemischtwarenhandel und einer Baptistenkirche.
Ich parkte den Wagen vor dem Geschäft und stieg aus. Es war Mittag, die Straße ausgestorben und still wie ein Grab. Hier war die Arbeitslosigkeit genauso hoch wie in Oregon, nur die Landschaft war anders. Die Menschen hier würden mich ebenso empfangen, wie Sweet Home Corin empfangen hatte.
Ich brauchte erstmal einen Kaffee.

Die Müdigkeit steckte mir in den Knochen, machte meine Hände schwach und ich konnte sie ganz besonders in meinen Augen spüren. Die ganze Nacht war ich durchgefahren, hatte nur zum pinkeln angehalten und mich dazu im Schutze meines Fords an den Straßengraben gestellt.
„Hallo“, sagte ich, als ich den Laden betrat. Nicht gerade die Art, wie John Wayne einen solchen altmodischen Gemischtwarenladen betreten hätte, aber ich hatte draußen nicht meinen Gaul angebunden und ich war auch nicht John Wayne, ich war Martin Doc Zivcovic und fühlte mich bescheiden. Es roch nach Lederzeug, Staub und reifem Obst, was in irgendeiner Ecke in Gärung überging. Im hinteren Teil des Ladens war ein Postschalter, ein Münztelefon und ein Kühlschrank von Pepsi mit Glastür.
„Hallo?“ erwiderte eine Frau, die sich aus der kleinen Gruppe löste, die vor dem Kühlschrank saß und palaverte. Die Gespräche waren bei meinem Erscheinen verstummt.
Sie hatte revolutionär kurzes Haar, schwarz wie Kohle und dunkle Augen.
„Was kann ich für sie tun?“
Ich mochte sofort ihren Dialekt, er klang so altmodisch, dass ich nichts unhöfliches von ihr erwarten konnte.
„Ich bin die ganze Nacht durchgefahren. Hätten sie einen starken Kaffee für mich?“
„Klar hab ich den.“
Sie brachte mir einen Becher mit schwarzem Kaffee, der verbrannt war und ölig schmeckte, aber er weckte meine Lebensgeister. Als ich ihn bezahlen wollte, sagte sie: „Nichts da, der geht aufs Haus.“
„Vielen Dank.“
„Sind sie auf der Durchreise? Vertreter?“
„Ich bin unterwegs“, erklärte ich schlicht.
„Ihr Wagen steht draußen.“ Diese Feststellung kam von einem der offensichtlich Arbeitslosen, kaum zwanzig und körperlicher Ertüchtigung nicht zugetan, unter seinem T-Shirt wölbte sich ein Fettdepot, und die Jeans, in die er sich hineingeszwängt hatte, stand kurz vor dem Platzen. Es sah aus, als führte er einen Dauerbelastungstest für Hosennähte durch.
„Ja“, bestätigte ich zwischen zwei Schluck Kaffee, „hier kommt nicht oft jemand durch, was?“
„Nur ab und zu. Aber an Samstagen ist hier die Hölle los. Seit der Ballroom aufgemacht hat.“
Kann ich ihr vertrauen? dachte ich, ihr vielleicht, sie hat ein offenes Gesicht und wohlmöglich hat sie Corin auch einen Kaffee aufs Haus trinken lassen. Aber die Hinterwäldler, die dort um den Kühlschrank sitzen wie um eine große Trophäe, denen kann ich nicht trauen.
Ich sprach leise.
„Ich bin unterwegs, weil ich einen Freund suche. Es ist möglich, dass er durch Sutton gekommen ist. Ich wäre ihnen dankbar, wenn sie mir helfen würden.“
Hinter mir bewegte sich Fatso zur Tür, schob sie auf und starrte nach draußen, als sei an meinem Ford irgendetwas besonderes.
„Nummernschilder aus Oregon“, plärrte er und seine Kumpels auf der anderen Seite des Raumes lachten über diesen riesigen Witz, „sind sie aus Oregon, Mann? He? Aus Oregon?“
Durch die Tür, die er aufhielt, fegte eisiger Wind hinein, wehte um seinen Speck herum und verwirbelte im Raum.
„Ich bin auf dem Weg nach Hause.“
Die Frau hinter dem Tresen nahm meinen Becher, füllte Kaffee aus der Glaskanne nach und schob ihn mir wieder entgegen. Ich sah Fatso an und wollte ihm gerade sagen, dass er die Tür doch ihren Job tun lassen solle, als ich ihre leise Stimme sagen hörte: „Da wollte er auch hin.“
„Was?“
„Er hat mir erzählt, dass er nach Oregon wollte, nach Hause. Der Mann mit der Entenjägermütze.“

siebzehn.
Ich wache noch immer ab und zu in der Nacht auf, sitze aufrecht im Bett und habe das gleiche Gefühl wie damals, als Flores mit diesen Satz sagte. Das Haus ist so still, dass ich mein Blut rauschen hören kann, ich möchte gleichzeitig lachen und weinen, ich möchte ganz allein und still niederknien und ich möchte vor Freude die Wände einreißen. Dieses Gefühl ist seltsamerweise geblieben und tagsüber trifft es mich, wenn ich an meinen Bildern arbeite und ich zu dem Portrait von Corin hinübersehe, das seinen Platz direkt neben dem Mosaik gefunden hat. Ein bittersüßes Gefühl, als ich mich am Ziel der Reise glaubte und mir einredete, dass alles ja gar nicht so schlimm gewesen sei.
Flores sah mich an, hob die Stimme und rief zu Fatso hinüber, er solle sich wieder auf seinen dicken Hintern setzen. Fatso schien nicht einmal beleidigt. Sie wollte nicht weiter so offensichtlich mit mir flüstern, also ging sie an eines der Regale und nahm einen Pullover heraus. Die Blicke der Männer folgten uns, wenn auch mit erlahmendem Interesse.
„Wenn sie uns das Gerede vom Hals halten wollen, kaufen sie mindestens einen. Baumwolle“, sagte sie lauter, „und andere Farben haben wir leider nicht.“
Ich heuchelte ziemlich gut Interesse an den Pullovern.
„Wann war er hier? Corin – hat er seinen Namen genannt? Corin? Ist er vielleicht sogar noch in der Stadt?“
„Er kam etwa vor zwei Wochen hier an und er sagte, er würde nicht lange bleiben. Der alte Jones in der Wilshire Road hat ihm eines seiner Zimmer vermietet und dafür hat er Besorgungen für ihn gemacht. Corin war fast jeden Tag hier. Das war kein Risiko für den alten Jones, weil hier jeder anschreiben lässt und am Ende des Monats bezahlt. Außerdem hat Corin ein paar Autos repariert. Er war sehr verschlossen, aber er hatte ein gutes Herz. Die Idiotentruppe in der Ecke dort konnte ihn natürlich nicht in Ruhe lassen. Die stürzen sich auf alles, was anders ist als sie, aber sie haben es nicht ein einziges Mal geschafft, ihn die Beherrschung verlieren zu lassen.“ Sie deutete mit zwei Fingern auf ihre Augen. „Sie haben ihn bedroht und ausgelacht, aber seinen Augen konnte ich ansehen, dass er ganz woanders war. Ich meine damit keine Drogen, ich meine, dass er sich ganz einfach an einen anderen Ort geträumt hat. Nur so lange, bis die Idioten endlich das Interesse an ihm verloren hatten und sich etwas anderes suchten.“
Ich wusste, wovon er träumte, denn ich hatte den gleichen Traum. Es war die Vorstellung, wie er nach Sweet Home zurückkehren und endlich bleiben würde. Ob wir ihn freundlich begrüßen würden, wie Nelee auf ihn reagieren würde, ob Molly böse auf ihn wäre, was Jacob von seiner Rückkehr halten würde. Ob seine Indian noch da war.
Er war mir so nahe, dass ich ihn fühlen konnte und ich konnte ihn förmlich da draußen auf der Straße vorbeischlendern sehen. Er schien sich zum Fenster herunterzubeugen und zu uns herein zu winken.
Ich kaufte mit dröhnendem Kopf zwei von den Pullovern in meiner Größe.
„Ist er noch hier?“
„Nein“, sagte Flores, „vor drei Tagen ist er weiter gezogen. Morgens war er noch hier und hat dem alten Jones etwas zum Frühstück gekauft und dann sagte er, er wolle sich weiter auf den Weg machen, nach Oregon. Wir haben darüber noch gelacht, weil es sich wie diese Fernsehserie anhörte‚ der Treck nach Oregon’.“
„Und die lief so lange und sie sind trotzdem nie angekommen“, grinste ich.
Sutton ließ ich hinter mir, guter Dinge und voller Hoffnung, weil ich jetzt seine Route kannte. E war auf der vierunddreißig unterwegs, in Richtung Haistings, ob zu Fuß oder per Anhalter, einholen würde ich ihn ganz sicher. In jeder Ortschaft auf der Route hielt ich an, sah und hörte mich um und fuhr weiter. Je näher ich ihm kam, desto deutlicher wurde seine Spur. Die ganze Zeit dachte ich: Drei Tage, er hat nur noch drei Tage Vorsprung.
Ich war dabei, ihn zu finden. Aber ich war drei Tage zu langsam.

Meine Reise endete in Arapahoe, wo sich die vierunddreißig mit der zweihundertdreiundneunzig kreuzt, ich mir ein Zimmer nahm, eine Stunde lang duschte und dann die zwei Läden und einen Schnellimbiss aufsuchte, um Corins Spur aufzunehmen. Mir schlug gelangweilte Gleichgültigkeit entgegen und bereits an diesem Morgen ahnte ich etwas, denn mein Weg führte mich in das Büro des Sheriffs.
Und dort saß ich dann, erklärte und erzählte und der Sheriff wurde nicht müde, die ganze Geschichte zu hören. Er war ein paar Jahre älter als ich, hauste in einem sauberen aufgeräumten Büro und hatte einige Zeitungsartikel hinter Glas an den Wänden hängen. Sheriff Parker war eine gutmütige Haut, er spendierte Kaffee und ein paar Donuts. Während wir dort zusammen saßen, schien die Zeit stehen geblieben zu sein, ich konnte nicht einmal sagen, wie viel Stunden vergangen waren. Er war ein Mann mit einem wachen und aufmerksamen Ohr, ein wahrlich guter Zuhörer, obwohl ich von meinen Erzählkünsten nicht begeistert bin. Mit Sicherheit hatte ich etwas durcheinander gebracht und musste einige Male den Faden suchen, aber Sheriff Parker schien das nicht zu stören.
„Ich weiß nicht, weshalb sie das alles so genau von mir hören wollen.“
Er erklärte es mir. Ihn interessierten die Geschichten hinter den Menschen, er wollte von den Erfahrungen und Entwicklungen wissen, die ein Mensch ausmachte, um ihn einschätzen und beurteilen zu können. Parker war kein Mensch der Schnellschüsse, er bildete sich nach und nach seine Meinung und ich hatte mir den Mund in Fransen zu reden.
„Martin“, sagte er schließlich, „kommen sie mit.“
Wir gingen einen Stock tiefer, kamen an Arrest- und Ausnüchterungszellen vorbei, die allesamt leer waren. Das machte mir Angst, denn wenn die Zellen leer waren, wo mochte dann Corin sein?
Parker führte mich einen Gang entlang, der vor einer Stahltür endete. Eine einzige kahle Leuchtstoffröhre erhellte den Gang, das Licht flackerte und knackte über unseren Köpfen. Ich war nicht darauf gefasst, was ich zu sehen bekam, als Parker die Tür öffnete, nach innen griff und das Licht anschaltete. Die Röhre dort in dem Raum war in Ordnung, der Starter brummte und das Licht flammte an.
„Ich denke, sie sind lange genug unterwegs gewesen. Sie haben all das auf sich genommen und haben damit gerechnet. Jetzt werden sie auch stark genug sein, den bitteren Rest durchzustehen.“


achtzehn.
Corin war bei Einbruch der Dunkelheit in Arapahoe angekommen, ein Farmer hatte ihn auf der Ladefläche seines Lasters mit in die Stadt genommen. Obwohl er bei dem schwindenden Licht nicht viel von Arapahoe sehen konnte, erzählte er dem Farmer, dass er wohl eine Nacht bleiben würde, um mal wieder in einem Bett zu schlafen. In dem Truckermotel bekam er ein billiges Zimmer und der Junge hinter der Rezeption konnte sich noch genau an ihn erinnern, denn er war der einzige Gast in dieser Nacht. Weil er nichts anderes zu tun hatte, lud er Corin auf ein Bier ein und sie hörten eine Basketballübertragung im Radio. Corin schlief in dem Sessel ein, mit einer angebrochenen Dose Bier in der Hand und wachte erst mitten in der Nacht wieder auf, um in sein bezahltes Bett zu wanken. Am frühen Morgen war er verschwunden.
Sie hatten nicht viel zu bereden gehabt, aber die Anmeldung hatte er mit Corin Bootsen unterschrieben. Dann war er weitergezogen, in der Absicht, wieder von einem freundlichen Farmer mitgenommen zu werden, ein Stück weiterzukommen auf seinem Weg nach Oregon.
Aber auf der zweihundertdreiundachtzig, nachdem er die kreuzenden Schienen der Eisenbahn überquert hatte und schon fast auf dem Highway achtzig bei Lexington angekommen war, einen Tag später, hatte es ihn erwischt. Der Wagen konnte ihn nicht mit hoher Geschwindigkeit erwischt haben, sonst wäre er sofort tot gewesen, aber der Aufprall am Rande der Schnellstraße reichte aus, um ihm beide Beine und die Hüfte zu brechen und ihn in den Straßengraben zu schleudern. Später hatte man Glas von einem zerbrochenen Scheinwerfer und von einem Blinker gefunden.
Corin war in der Dunkelheit die Straße entlang marschiert, am Seitenstreifen und sicher nicht unvorsichtig dabei gewesen. Er kannte sich aus. Das Auto hatte ihn erwischt und war weitergefahren. Niemand half ihm und niemand meldete den Unfall. Erst, als am nächsten Morgen die Berufspendler diese Straße benutzten, wurde einer auf ihn aufmerksam und rief vom nächsten Telefon die Polizei.
Zu diesem Zeitpunkt, am frühen Morgen, als die Sonne gerade etwas an Kraft gewann, der Raureif aber noch in den Büschen und in dem harten Gras hing, war Corin bereits tot. Man konnte sehen, wie er sich die ganze Nacht weitergeschleppt hatte, trotz seiner Verletzungen und seiner gebrochenen Knochen, eine lange gerade Spur zog sich von der Stelle, wo man die Glassplitter fand, bis zu der Stelle, wo sein Körper lag. Überall war Blut, das Gras niedergedrückt, teilweise in Büscheln ausgerissen.
„Er ist die ganze Nacht gekrochen“, sagte Parker, „in der Hoffnung, ein Haus oder einen Wagen zu erreichen, aber dann haben ihn die Kräfte verlassen und er ist liegen geblieben und erfroren. In den Nächten haben wir Temperaturen von unter null, er hatte keine Chance, selbst, wenn er nicht so schwer verletzt gewesen wäre.“
Die Sachen, die sie bei ihm gefunden hatten, lagen in einem Karton mit Deckel in Parkers Büro. Ich durfte sie mir ansehen, so wie ich mir Corin hatte ansehen dürfen, unten im Keller des Gebäudes in dem gekühlten Raum.
Seine Haut war weiß wie Gips, fast durchscheinend, von blauen Adern durchzogen. Sein Brustkorb war unversehrt, sie hatten keine Autopsie vorgenommen. Sein Inneres hatte niemanden interessiert. Er war abgemagert auf seinem Marsch, ich hätte ihn gern mit etwas Speck auf den Rippen gesehen, nicht so elend dünn. Seine tätowierten Arme lagen so still, er atmete nicht und trotzdem konnte ich nicht begreifen, dass er tot war. Seine gebrochenen und zertrümmerten Beine konnte ich unter dem halb zurückgeschlagenem Laken erahnen, aber ich wollte sie nicht sehen. Ich wollte nicht wissen, wie viel Schmerzen sie ihm bereitet hatten während er über harten Boden und aus fahrenden Autos geworfenen Abfall gekrochen war. Sein Gesicht war, als schliefe er, als wolle er mich zum Narren halten.
Junge, das hast du dir fein ausgedacht, um mein altes Herz zu einem Jagdgalopp zu zwingen, legst dich auf einen Metalltisch, machst die Augen zu und wartest auf mich. Hättest du nicht ein wenig warten können? Ich war dir doch auf den Fersen.
In meiner Kehle steckte ein Schluchzen, was ich nicht hinaus lassen, aber auch nicht hinunter schlucken konnte, denn ich würde daran ersticken.
Männer können nicht weinen, Corin, irgendwann auf der Strecke des Erwachsen Werdens verlernen sie es. Sie vergessen, wie sich ein gutes Weinen anfühlt. Wie nötig man es manchmal braucht. Vergessen, dass man um einen guten Freund weinen muss.
Corin lag dort vor mir auf dem Tisch, geduldig, stumm und wächsern. Ich hatte viel Zeit, ihn mir anzusehen, dann verließ ich mit Sheriff Parker den Kellerraum.
„Das hier sind die Sachen, die wir bei ihm gefunden haben. Es war kein Ausweis dabei, deshalb habe ich seine Fingerabdrücke nach Lincoln geschickt und ich warte noch immer auf die Ergebnisse. Deshalb ist er auch noch hier.“
Das sagte er mit vorsichtiger Stimme, dass ich sofort darauf ansprang und nachfragte, obwohl es mir schwer fiel, mich zu konzentrieren.
„Wenn sie nicht aufgetaucht wären, Martin, hätte die Gemeinde dort unten im Kühlraum eine unbekannte Leiche liegen, für deren Beerdigung wir aufkommen müssten. Deshalb gibt es niemanden, der die Kosten für die Beerdigung übernimmt, dann überstellen wir sie nach Scottsbluff an die medizinische Abteilung der Universität.“
„Ich verstehe nicht“, sagte ich, weil ich es nicht verstehen wollte, aber bevor Parker mir die Sache erklären konnte, setzte ich hinzu: „Ich verstehe es. Natürlich verstehe ich es.“
An irgendetwas mussten die Medizinstudenten herumexperimentieren, so hässlich es sich auch anhörte. Mit Corin durfte das nicht geschehen.
Ich hielt seine Entenjägermütze in der Hand, drehte sie hin und her, als könnte sie mir sagen, was geschehen war.
Er hatte sie bei sich, als er verschwunden ist, dachte ich, also war sein Abgang geplant. Er wollte weg, hat es vorbereitet und durchgezogen. Aber er wollte auch wieder zurück nach Sweet Home und er hätte es geschafft, wenn dieser Wagen auf der zweihundertdreiundachtzig nicht dazwischen gekommen wäre.
Die anderen Sachen, die in dem Karton lagen, mochte ich mir nicht ansehen, aber ich würde sie mitnehmen, wie alles, was uns von Corin geblieben war. Viel war es nicht, was er auf seiner Reise bei sich gehabt hatte, ein Pappkarton mit Kleidung, etwas Kleingeld, einer zerfledderten Straßenkarte, Zigaretten und etwas, was wie ein kleiner Glücksbringer aussah. Dieser Schlüsselanhänger ohne Schlüssel daran war aus dunklem Holz, ein kleines abgeschabtes Männchen, weder Mann noch Frau, aber mit einem Baströckchen um den Hüften. Vielleicht hatte er diesen Anhänger geschenkt bekommen, aber ich konnte mir auch vorstellen, dass er dieses Ding mit sich herumgetragen hatte, um dann in Sweet Home seinen Haustürschlüssel daran festmachen zu können. Dieser Gedanke konnte mich etwas trösten, gleichzeitig verstärkte sich der Hass auf diesen flüchtigen Autofahrer.
„Was werden sie tun, Martin?“ Sheriff Parker sah mich sehr prüfend an, er wusste was ich sagen würde, aber er wollte es trotzdem noch einmal von mir hören. Er sorgte dafür, dass ich mir die Konsequenzen vor Augen führte.
„Ich nehme ihn mit nach Hause und sorge dort für ein anständiges Begräbnis. Das ist das letzte, was ich für ihn tun kann. Ich bringe ihn dort hin, wo er hin wollte.“
Ich hätte Corin gerne einfach seine Klamotten angezogen und ihn auf die Rückbank des Fords gelegt, dass es so aussähe, als schliefe er fest und tief, und hätte ihn nach Sweet Home gebracht, aber natürlich ging das nicht. Es musste alles seine Ordnung haben, es mussten Anträge ausgefüllt und unterschrieben werden und dann würde Corin seine letzte Reise standesgemäß im Wagen des Bestatters antreten.
Sheriff Parker versuchte mich nicht zu trösten oder mir sein Beileid auszudrücken, er sah das ganze sehr sachlich und nüchtern, weil das sein Job war. Das einzige, was er sagte, war: „Ich bin froh, dass sie sich dazu entschlossen haben. So nimmt das ganze doch noch ein gutes Ende.“
„Es wäre noch besser gewesen, wenn ich drei Tage früher hier gewesen wäre.“
Darüber zerbrach ich mir sehr lange den Kopf und es dauerte noch länger, bis ich die Tatsache, dass ich zu spät gekommen war, akzeptieren konnte. So rief ich Tracey an und sagte ihr, dass ich nach Hause kommen würde.

neunzehn.
Ich habe ihnen nie die Wahrheit gesagt über Corins Ende. Die drei Frauen, die so sehr auf seine Rückkehr gehofft hatten, erfuhren nur, dass es ein Autounfall gewesen war. Besonders Tracey hätte es zu sehr mitgenommen, wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hätte. Wir sorgten alle gemeinsam für eine stille kleine Beerdigung. Tracey rang vergeblich um Fassung, Molly hielt sich die ganze Zeit krampfhaft an ihr fest, wischte sich stumme Tränen aus ihrem Gesicht. Sie sprach kein Wort während der Beerdigung, aber Tracey an meiner Seite stellte mir Fragen ohne Ende, immer wieder die gleichen Fragen, flüsternd und tränenerstickt.
„Wie hat er ausgesehen?“ fragte sie, „konnte man seine Verletzungen sehen?“
„Man sah nichts, es war, als würde er schlafen.“
„Sein Gesicht war unverletzt?“
„Ja, vollkommen in Ordnung?“
„Doc, was hat er da auf der Straße zu suchen gehabt?“
„Er wollte wohl per Anhalter weiter.“
„Aber er wusste doch, dass das gefährlich ist.“
„Hmh“, machte ich.
„War er auf dem Weg zu uns?“
„Das habe ich dir doch schon gesagt, ja, er wollte zu uns.“
„Fast hätte er es geschafft.“
„Er ist hier“, sagte ich.
Molly hörte die Fragen und sie hörte die Antworten, aber es dauerte Wochen, bis sie wieder zu sprechen begann. Ihre Therapie erlitt einen herben Rückschlag, den sie nur langsam wieder aufholte. Bei der Beerdigung hielt Nelee sich etwas abseits, sie trug einen schwarzen Hut mit kurzer Krempe und einen weißen Schal, der ihr vom Wind ständig ins Gesicht geweht wurde.
„Warum kommt sie nicht zu uns?“ fragte Tracey.
„Vielleicht versucht sie, allein damit klar zu kommen.“
Erst, als wir zu unserem Wagen zurückgingen, kam Nelee heran und sagte: „Nehmt ihr mich ein Stück mit?“



zwanzig.
Wir alle kommen wieder zurecht mit unserem Leben ohne Corin, es scheint manchmal nicht einfach, aber irgendwie schaffen wir es. Schweren Herzens haben wir gestern die Indian verkauft, weil wir sie nicht einfach so in unserem Garten herumstehen haben wollten. Corin hätte gewollt, dass jemand mit ihr herumdüst und die Gegend unsicher macht. Wir besuchen oft sein Grab, bringen ein paar Blumen mit und wenn ich allein hingehe, rede ich mit ihm.
Heute war ich bei ihm, habe trockene Zweige und Blätter entfernt und ihm erzählt, dass Tracey im zweiten Monat schwanger ist. Der Arzt, der sie untersucht hat, hat gesagt, dass alles wunderbar aussähe und dass sie wohl die Absicht habe, seinen Ruf zu schädigen – wie könne sie schwanger werden trotz seine negativen Diagnose.
Wir können es beide kaum glauben, aber es ist so. Wir hoffen das Beste, wir hoffen, dass alles gut laufen wird.
So fügt sich eines ins andere. Ich male sehr viel, habe zwar immer noch nicht viel verkauft, aber jeder, der meine neuen Bilder sieht, sagt, dass sie sehr viel Wärme und Lebendigkeit ausstrahlen wie keines der anderen.
Manchmal, wenn ich an einem Bild arbeite, kann ich Corin in der Ecke sitzen sehen, unbeweglich und vor sich hin träumend. Wenn ich hinsehe, ist er verschwunden.
Du bist hier bei uns zu Hause, Corin, du gehörst zu uns.
Molly liest noch immer den kleinen Hobbit, obwohl sie ihn inzwischen in- und auswendig kennt, aber sie sagt, es ist das Buch, was sie immer an Corin erinnern wird. Sie hält an ihm fest, denn obwohl er nicht mehr lebt, ist er noch immer bei ihr – er ist noch immer bei uns.
 
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Kommentare  

Das ist eine Geshichte, die man weiterlesen möchte, weil sie durchweg so aufgebaut ist, um neugierig zu machen. Man möchte dauernd mehr wissen, wie es mit Corin weiter geht und das Geheimnis um und mit ihm und vor allem wie es ausgeht. Mit diesem tragischen Ende rechnet man wohl eher nicht. Trotzdem gut, spannend und angenehm leicht zu lesen. Im wahren Leben gibt es ja leider auch nicht immer ein Happy End. Übrigens finde ich gut, daß die Geschichte komplett in einem veröffentlicht ist.

Fan-Tasia (18.03.2009)

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