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Zug

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
Herbst - triste Jahreszeit, Stimmung und Temperatur fallen. Es muß der erste kalte Tag im Oktober gewesen sein. Laut Digitalthermometer auf meinem Balkon waren es morgens nur lausige 4.8 Grad. Gern hätte ich mich nach dem Gang zur Toilette und dem Blick auf die Temperaturanzeige wieder unter meiner warmen Bettdecke verkrochen, aber ich musste los. Kurz vor 8 an einem Sonntagmorgen ist selbst für normale Menschen ein Zeitpunkt vor dem Ausschlafen, für mich als ausgewiesenen Morgenmuffel außerhalb jeder Wertung, auf der Skala des Lebens nicht vertreten.

Tag für Tag wird in den Medien von so genannten Experten behauptet, Bahn fahren sei sicherer, umweltfreundlicher und vor allem stressfreier als mit dem Auto über die A2 zu jagen. Als Vielfahrer (800 Kilometer pro Woche) hatte ich das irgendwann geglaubt und mich deshalb damit abgefunden und den Zug genommen. Das Argument des stressfreien Reisens kann ich allerdings nach der Fahrt an diesem kühlen Oktobertag nicht mehr gelten lassen.

Zunächst schien es so, als hätte ich die Gunst des Schicksals auf meiner Seite. Nach Einfahrt des Interregio finde ich ein Abteil ganz für mich allein. Kein Wunder an einem Sonntagmorgen, denke ich. Sofort mache ich es mir gemütlich, krame meine Zeitung, Kekse und die Getränkedose hervor. Gerade lehne ich mich zurück, da vernehme ich plötzlich vom Gang aus eine Stimme: "Hier, laß uns gleich im ersten Abteil neben den Fahrradstellplätzen sitzen."

Ein hagerer Mittdreißiger mit dünnrandiger Metallbrille und dünnen Stoppelhaaren hält sein Gesicht um die Ecke und glotzt mich durch die verglaste Abteiltür an. Zum Glück verschwindet seine Birne sofort wieder, als er mich entdeckt hat. "Ach, da sitzt schon einer. Wir versuchen es auf der anderen Seite", höre ich ihn sagen. Noch einmal davon gekommen, glaube ich, und entspanne, als eine Stimme vom Gang wieder näher kommt und eine Frau laut sagt: "Christian, hier sind doch noch vier Plätze, na prima."

Meine innere Spannung steigt sprunghaft an. In diesem Moment wird die Abteiltür mit voller Wucht aufgeschoben und ohne ein "Hallo" oder gar "Sind die Plätze hier noch frei?" stürmen ein Mann, zwei kleine Kinder und eine Frau mit einem noch kleineren Kind auf dem Arm rein. Ich würde nicht so weit gehen wie Fußballtrainer Rolf Schafstall, der einmal über seine Kicker von Dynamo Dresden sagte: "Kein Anstand, alles Ossis." Aber ein freundliches "Guten Tag" beim Betreten und eine "Angenehme Weiterfahrt" beim Verlassen des Abteils hört man heutzutage nur noch von älteren Damen jenseits der 75. Alle anderen reißen bloß wortlos die Tür auf und sagen hinterher nicht mal Tschüs.

Durch den massiven Einfall der Trapp-Familie bin ich für kurze Zeit konsterniert und ebenso sprachlos. Ich schaue verwirrt und Hilfe suchend umher. Meine Tasche auf der vermeintlichen Ablage gegenüber entpuppt sich nach einem dezent-eindeutigen Hinweis als Platzhalter genau an der Stelle, wo sich der klappbare Kindersitz befindet. Kommentarlos stelle ich sie auf die obere Gepäckablage.

Neben den Fahrrädern, die auf dem Gang bleiben mussten, hat Familie Öko drei riesige Behältnisse aus Naturmaterialien, zwei kleine Köfferchen für die Kinder, eine Kiste für Mehrwegflaschen und natürlich diverse Jute-Tragetaschen, gefüllt mit Lebensmitteln aus ökologischem Anbau und mit Spielzeug, vorzugsweise aus Holz - aber nicht zwingend. Das ganze Zeug muß im Abteil erst einmal verstaut werden. Wie sie den ganzen Kram jemals auf Zweirädern transportieren konnten bzw. in Zukunft samt Kindern wollen, ist mir bis heute rätselhaft.

Hanna ist etwa 1 ½, Hendrik 3 ½ und Malte 5 Jahre alt. Ihre Mutter heißt Tina (vielleicht Bettina, Martina, Christina - who really cares?) und wird natürlich nicht nur von Lebensabschnittspartner Christian, sondern auch von den Kindern so genannt. Eigentlich hatte ich geglaubt, dass diese ökologisch-antiautoritär ausgerichteten Grün-Wähler-Familien, die jedes Klischee von der Birkenstocksandale bis zur selbstgestrickten Wollmütze von Kopf bis Fuß bedienen seit den 70ern ausgestorben waren. Das stimmt definitiv nicht.

Seit ihrem Eintreffen gibt es keine Sekunde Ruhe mehr. So werde ich permanent von den Botten getreten. Besonders Hanna hat ihren Spaß, ob durch wippende Bewegungen vom Sitz gegenüber oder direkt neben mir - immer schafft sie es, meine Beine und Füße zu treffen. Wenigstens hat sie ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Selbst meine schmerzhaften Ausrufe wie "Autsch" und "Ahhh" können die Eltern nicht dazu bringen, ihre Brut zur Raison zu rufen.

Tina hat sich aus dem Chaos ausgeklinkt, obwohl sie mitten im Abteil sitzt. Sie trägt eine Hornbrille, wie in französischen Filmen der 60er Jahre, Modell Existenzialismus. Mit Nadel und Faden bastelt sie einen lustigen Kasper aus buntem Stoff. Die ganze Familie ist unterwegs von Berlin ins Münsterland, wo sie in der ehemaligen Heimat bestimmt auf einem alternativ-kultigen Bauernhof leben. Nur der Job in der großen, weit entfernten Stadt nervt.

Genauso wie mich die Kinder. Quieken, weinen, sinnlose Fragen stellen - eben wie die lieben Kleinen in diesem Alter sind. Zuerst liest Papa eine spannende Geschichte mit zwei süßen Möhren vor, dann werden aus dem Bahnjournal "DB mobil" die schönsten Fotos mit der Kinderschere ausgeschnitten. Und Kinder brauchen frische Luft. Durch das offene Fenster würde es ziehen, also wird die Tür aufgemacht. Nicht einmal, nein, Tür auf, Tür zu, Tür auf, Tür zu usw., mindestens 27 Mal in acht Minuten.

Ich lese, das heißt, ich versuche zu lesen. Wäre ich gern am frühen Sonntagmorgen mit Kindern unterwegs, könnte ich wenigstens meine eigenen mitnehmen. Durch die mittlerweile offene Abteiltür ist es einem der Racker, ich glaube Hendrik, gelungen, auf den Gang zu flüchten. Denn nun rumort es nicht nur im Abteil, von draußen hämmert und pocht es ebenso stetig. Wie sich schnell herausstellt, handelt es sich tatsächlich um Hendrik. Er bearbeitet dort die innere Zugverschalung mit seinem Holzhämmerchen.

Papa läßt das kalt. Er muß jetzt zum Bistrowagen, Kaffee trinken. Da bleibt Tina nichts anderes übrig und sie muß ihre Kasperwelt verlassen. Ihre braunen Haare haben das typische Aussehen einer Mutter mit drei Kindern. Nicht direkt ungepflegt, aber eigentlich wäre es mal wieder dran. Genauso wie der Rest. Sie ist nicht zu dick, aber auch nicht gerade schlank.

"Guck mal raus, sind da keine Pferde?", versucht sie Hanna zu beschäftigen. Aber zwischen trüben Wiesen und öden Feldern sind keine Gäule auszumachen, auch für mich nicht. Ja, auch Stadtkinder müssen von frühester Jugend an die heimische Tierwelt herangeführt werden. Hendrik arbeitet weiter am Gang.

Inzwischen macht sich Malte über die mitgebrachten Spielsachen her. Ruhige Spiele wie lustige Puzzles sind nicht sein Geschmack, Malte liebt es deftig wie sein Bruder. Deshalb schnappt er sich zunächst die vorhandenen Blasinstrumente wie die Kindertrompete und die Blockflöte. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, aber man kann in beide gleichzeitig reinpusten. Das hört sich ungefähr so an wie "tröööt-pieeep-jaul", eine kaum beschreibbare Mischung aus den erwähnten Einzelinstrumenten, die, jedes für sich genommen, schon ausreichen würden, um dem ungeschützten Trommelfell den Rest zu geben.

Das scheint sogar Tina zu merken, denn der kleine Racker muss zu seinem Leidwesen das Getröte einstellen. Zu seinem Glück und meinem Unglück sind in der Kiste noch eine Triangel und eine rot-weiße Blechtrommel. Der Kleine kann auch mit dieser Ausrüstung einen Heidenlärm veranstalten. Tina stört das aber nicht mehr. Entweder steht sie auf Schlaginstrumente oder sie hat resigniert.

Mittlerweile passieren wir Wolfsburg. Da sagt Mama zu Malte: "Hier warst du doch schon mal, hier hat Papa doch damals das Auto abgeholt." Für mich steht fest, dass es nur ein Passat-Kombi gewesen sein kann. Warum haben sie ihn heute nicht benutzt?

Christian kommt zurück. Er packt seinen Tagesspiegel aus und fängt an zu lesen. "Political correctness" heißt wohl diese Haltung in unserer Zeit. In seinem Verhalten anderen gegenüber ist er sicher stets politisch korrekt, dass seine Kinder sich ebenso verhalten kann ich nicht bestätigen. Hendrik hat jetzt das alte Spiel "Sitz hoch, Sitz runter, Sitz hoch, Sitz runter" entdeckt - aber das kenne ich schon von der Abteiltür.

Andere Mütter mit kleinen Kindern werden im Vorübergehen von der Action in unserem Abteil angezogen. Unvermittelt schaut eine blasse Blonde mit einem eben solchen Blag (Typ Gérard Depardieu in klein) durch das Abteilfenster. Sie lächelt freundlich, der kleine Dicke schneidet Grimassen wie aus der McDonalds-Reklame. Wollen sie reinkommen und mitmachen? Warum nicht. Vielleicht sitzen sie in einem öden, ruhigen Abteil, in welches ich flüchten könnte. Doch sie gehen vorüber.

Plötzlich macht sich in meiner Nase der unangenehme Geruch von Erbrochenem breit - auf Deutsch: Es stinkt nach Kotze. Kann eigentlich nur die niedliche Hanna gewesen sein, denn ihre Mischung aus Lakritze-Lollies und ölfreien Erdnüssen, die sie seit geraumer Zeit in sich stopft, hätte auch mich zum Würgen gebracht.

Da sehe ich es auch schon, mitten auf dem Abteilboden. Ich stehe auf und versuche mit einem breitbeinigen Schritt der Situation zu entkommen. Noch schnell meine Tasche geschnappt. "Kann doch mal passieren, Sie haben wohl keine Kinder", fährt mich die Frau schnippisch an. Ich verlasse das Abteil im Laufschritt.

Im Großraumwaggon finde ich ein ruhiges Plätzchen am Fenster. Bis Hannover sind es noch dreißig Minuten. Mit Toilettenpapier, Tempo-Taschentüchern und kleinen Lappen geht die Frau mehrmals zügig durch den Waggon Richtung Klo an mir vorbei, dabei belegt sie mich jedesmal mit einem bösen Blick. Als hätte ich meinen Mageninhalt in ihrem Abteil zurückgelassen.

In Hannover kann ich endlich in den Regional-Express umsteigen und die letzten Kilometer meiner Reise ohne Stress hinter mich bringen, glaube ich. Den Interregio verlasse ich in der Hoffnung auf einen ruhigen Abschluss meiner Reise und laufe zum Bahnsteig 13, um meinen Anschlusszug rechtzeitig zu erreichen.

Doch an diesem Sonntag geht alles schief. Auch der Regional-Express ist mehr als gut besetzt. Da entdecke ich wieder jemand mit einem Fahrrad, dieses Mal ein allein Reisender. Ich versuche noch die Flucht in einen anderen Waggon zu ergreifen - zwecklos. Die Tür zum kleinen Vorraum schließt sich - alles proppevoll.

Aber was tut der Mann mit dem Bike? Er schafft es tatsächlich, alleine (!) 6 (sechs) Plätze zu belegen. Sein Drahtesel, Marke Clinton Paradise, steht längs vor vier hochgeklappten Sitzen, daneben hockt er auf Sitz Nummer 5 und auf der anderen Seite thront auf Platz Nummer 6 sein Polarfox-Rucksack. Macht eine Person plus Fahrrad-Zuschlag gleich sechs Mal Regional-Express.

Der Typ sieht ein wenig aus wie Reinhold Messner für Arme, nur jünger. Seine Haare und sein Bart sind in etwa gleich lang. Er trägt derbe Wanderschuhe, wie sie nur zum Erklimmen von 6- bis 8000ern nötig sind. Und er liest die deutsche Ausgabe des National Geographic, lutscht dabei ein Smint, nippt ab und an einen Schluck Tee aus seiner Thermoskanne im Metall-Look.

Er stört sich an nix, schaut nicht mal auf oder versucht zu registrieren, was um ihn herum geschieht. Genug Platz hat er ja. Dass die Bahn ziemlich vollgestopft ist, berührt ihn überhaupt nicht. Der blöde Ignorant. Eigentlich hätte ich ihn fragen müssen, warum er sich so unverschämt breit macht. Doch nach der Aktion mit Malte und Co. war ich völlig ausgelaugt.

Nach den Erfahrungen dieses Wochenendes hab ich das stressfreie Bahn fahren erst einmal gelassen. Vielleicht versuch ich es nächsten Monat wieder, dann sind fünf Jahre vorbei. Und die Zeit heilt doch alle Wunden.
 
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Kommentare  

Also, wenn man so was echt erlebt, dann nimmt man die falschen Züge. Ich fahre seit ungefähr 20 Jahren Zug und habe so etwas noch nie erlebt! Das ist also so ein typisches Klischee bzw. ein Fall unter vielen tausend, der wieder mal die ganze Bahn (heißt allerdings schon seit geraumer Zeit nicht mehr "Bundesbahn", "DieBahn" ist richtig!) schlecht darstellt.

Sonst, so als Horrorszenario würde ich diese Story trotzdem als gut bezeichnen, amüsant!


Manja (07.08.2004)

Was ist daran aber die Satiere?

Das ist doch eher die Beschreibung
des Alltages der Bundesbahn.

Dann lieber doch im eigenen Auto.
Man will ja nicht zum Massenmörder
werden.

eric


eric (18.11.2001)

Den Hass auf solche Antiautären Körnerfresser kann ich verstehen.
Die typischen Übertreiber.
Geschichte gut geschrieben,gefällt mir.


Wolzenburg-grubnezloW (12.11.2001)

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