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6 Seiten

Die kalten Schatten der Vergangenheit

Kurzgeschichten · Romantisches
Wäre es nicht Sommer und würde das aus Nussholz geschnitzte Wandbarometer im Hausflur nicht auf sechsundzwanzig Grad Hitze stehen, dann hätte ich möglicherweise sogar einen Anlass so dermaßen zu frieren, aber den hatte ich nicht. Und doch klapperte ich mit meinen Zähnen und bibberte am ganzen Leib, als hätte ich Schüttelfrost.
„Wirst du krank?“, fragte mich meine Tante und zog eine ihrer dunklen Augenbrauen hoch. In ihrem Blick aus den grauen Augen, lag Sorge.
„N-n-ein“, schlotterte ich. „M-mir geht’s gut.“
Nun zogen sich ihre Augenbrauen in der Mitte zusammen und eine steile Falte bildete sich etwas oberhalb der Nasenwurzel. Ich versuchte mich in einem Lächeln und biss die Zähne aufeinander. Tante Ingrids Argwohn schien allerdings durch mein gezwungenes Lächeln nur zu wachsen.
„Du frierst“, sagte sie fast vorwurfsvoll. Und dann deutete sie mit ihrem hageren Zeigefinger auf das antike Wandbarometer. „Sechsundzwanzig Grad.“
Ich versuchte mich zusammenzureißen und meinen Körper zur Ruhe zu bringen. Es war wie verhext. Meine Zähne schlugen beharrlich aufeinander. Ich hätte mit ihnen Korn mahlen können. Mir war jedoch gar nicht kalt, zumindest nicht äußerlich. Die Kälte kam aus mir heraus, aus meinem Inneren.
„Vielleicht solltest du lieber hinausgehen, in die Sonne“, sagte Tante Ingrid. „Ich bringe deinen Koffer inzwischen auf dein Zimmer und mache uns etwas zu trinken. Deine Mutter ist schon oben, sie wird dort wohl bleiben wollen.“
Ich nickte und wandte mich um. Die Haustür, mit der aufwendig geschnitzten Füllung, stand noch einen Spalt breit offen und ein winziger Streifen gleißenden Sonnenlichts fiel in den ansonsten dunklen Flur. Ich riss die Tür ganz auf und trat hinaus. Die Augustsonne brannte mit solch einer Kraft auf mich nieder, dass es fast wehtat. Und mein Bibbern war augenblicklich verschwunden, als hätte ich einen Schalter umgelegt.
Vielleicht war das Barometer im Flur fehlerhaft und es war deutlich kälter, als angegeben. Oder ich hatte mich während der sechsstündigen Autofahrt so aufgeheizt, dass der schattige Flur im Gegensatz zu dem heißen Innenraum des Autos stand und so das Frösteln ausgelöst hatte.
Wenn ich allerdings ehrlich mit mir war, dann wusste ich, dass es nur eine Empfindung war, die mein Schaudern verursachte. Eine Frostigkeit die aus dem Gemäuer auf mich nieder strömte. Es war als würde ein Schatten aus tiefer Traurigkeit über mich fallen, kaum das ich einen Fuß über die Schwelle setzte.
Jetzt, als ich hier draußen auf dem Hof stand und die Sonne auf mich brannte, war nicht nur das Frösteln verschwunden, sondern auch das unbehagliche Gefühl, das sich schwer in Worte fassen ließ.
Ich wandte mich der alten Jugendstilvilla zu und betrachtete sie von außen. Es war ein bezauberndes Haus, dessen fortschreitendes Alter man ihm inzwischen zwar ansah, aber genau das gab dem Haus diesen besonderen Reiz.

Tante Ingrid trat aus dem schattigen Flur ins grelle Sonnenlicht und kniff die Augen zusammen. Auf einer Hand balancierte sie ein breites Tablett mit zwei Gläsern Limonade.
„Komm mit, Vanessa. Wir setzen uns auf die Veranda.“
Ich folgte meiner Tante über einen schmalen Weg, der sich asymmetrisch durch den Garten schlängelte und von Rhododendren gesäumt war.
„Geht es dir denn jetzt besser?“, fragte sie und stellte das Tablett auf einen kleinen, runden Kaffeetisch.
Ich nickte. „Ja. Es lag nur an der weiten Autofahrt. Im Wagen war es wirklich sehr heiß und in deinem Flur so schattig. Mir geht es gut.“
So recht überzeugt schien meine Tante nicht, sie nahm es allerdings mit einem zögerlichen Nicken hin.
Dann bedeutete sie mir mich zu setzen. Ich ließ mich etwas widerwillig auf dem schmiedeeisernen Stuhl nieder. Widerwillig, weil ich den halben Tag im Auto gesessen hatte, was ich jetzt tatsächlich brauchte war Bewegung.

„Deine Mutter nimmt das Ganze sehr mit. Ich mache mir ehrlich gesagt große Sorgen um sie“, sagte Ingrid und presste die Lippen aufeinander.
Ich nickte nur. Die stumme Trauer meiner Mutter ging mir selbst ans Herz. Es war zwar nur eine Frage der Zeit, bis mein Vater starb, es kam nicht einmal unerwartet und doch hatte es meine Mutter sehr schwer getroffen. Drei Jahre hatte sie ihn umsorgt, ihn gehegt und gepflegt.
Er war vom Krebs so zerfressen, das er nicht mehr ohne Morphium leben konnte und die letzten drei Jahre seines kaum sechzig jährigen Daseins im Rollstuhl saß.
Er lag zwischendurch mehrmals im Krankenhaus und war nur noch gelegentlich zuhause. Zum Ende seiner Tage gar nicht mehr. Meine Mutter war in diesen drei Jahren seines Krebsleidens sehr gealtert. Ihr goldbraunes Haar war vollständig ergraut und ihr Gesicht wirkte hohlwangig und eingefallen. Ich hatte geglaubt, dass sein Tod sie erleichtern würde. Für ihn selbst war es eine Erlösung. Er wollte zum Schluss sterben und ich war kaum niedergedrückt, vielmehr glücklich. Jetzt hatte er seinen Frieden und musste nicht mehr leiden.
Meine Mutter hingegen litt, laut Aussage der Ärzte, unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom. Sie gab sich die Schuld an dem Tod ihres Mannes, glaubte ihn nicht gut gepflegt zu haben.
Seither schlief sie keine Nacht durch, sondern wanderte immerzu durch ihr Zimmer und redete mit sich selbst.
Auch ihre Umwelt schien ihr mehr oder weniger egal.
Ich hatte daher die Idee bei Ingrid Bolten, meiner Tante und Mutters Schwägerin, Urlaub zu machen. So kam meine Mutter aus ihrem gewohnten Umfeld heraus und konnte vielleicht endlich einmal abschalten. Ich hatte meinen Jahresurlaub genommen und war mit ihr hier hergefahren, an die norddeutsche Ostseeküste.

„Sie hat sich schlafen gelegt“, sagte meine Tante leise.
Ich hoffte, dass sie wirklich einmal schlafen konnte. Sie wirkte von Tag zu Tag geisterhafter.
Nach der kühlen Limonade wollte ich zurück ins Haus und meinen Koffer auspacken, doch kaum das ich den Flur betrat, sackte dieses bleierne Gefühl auf mich nieder.
Die unsichtbaren Schatten sickerten aus den Wänden und umhüllten mich mit ihrer starren Niedergeschlagenheit.
Ich spürte mein Zittern zurückkehren und kämpfte mit aller Macht dagegen an. Die Hände zu Fäusten geballt stürmte ich polternd die Holztreppe hinauf ins Obergeschoss, aber beruhigen konnte ich mich auch dort nicht. Ich bibberte furchtbar und konnte auf meinen schwankenden Beinen kaum stehen.
Eine gewaltige Kraft wirkte auf mich ein. In meinen Ohren rauschte es und der Boden wogte unter meinen Füßen, als würde ich über eine Hängebrücke laufen.
Was um alles in der Welt war denn los?
Mir wurde übel von dem Schwanken und so schloss ich die Augen und hielt mich an der Wand fest. Die Treppe lag mir noch im Rücken. Ich hoffte genug Halt zu haben und nicht hinunter zu stürzen.
Vielleicht hatte ich einen Sonnenstich und mir ging es deshalb so jämmerlich.
Nach einem Moment, in dem ich meine Augen geschlossen hielt, ging es etwas besser. Also öffnete ich die Augen wieder und blickte den endlosen, lichtlosen Korridor entlang.
Ich wusste nicht einmal wo mein Zimmer war. Demzufolge planlos lief ich durch den langen Gang, auf die einzige Tür zu, die sperrangelweit auf stand. Ein Lichtkegel drang von dort in den dunklen Flur. Als ich in dem Zimmer anlangte, erblickte ich ein schmales, massives Bett aus teilweise furniertem Kirschholz. Es stand auf kleinen gedrechselten Füßen und war unverkennbar ein antikes Möbelstück, jedoch erstaunlich gut erhalten, fast wie neu. Dann erst verstand ich, dass das ganze Zimmer mit diesen antiken Möbeln bestückt war und allesamt wirkten sie, als wären sie kaum ein paar Jahre alt. Ich kannte mich nicht allzu gut aus mit Antiquitäten, aber es waren definitiv Möbel im Jugendstil, etwa Anno 1900. Soviel wusste ich aus historischen Büchern.
Neugierig ging ich hinein und schloss vorsichtig die Tür hinter mir, als könne ich die beklemmenden Schatten so abschütteln und sie einfach isolieren. Und tatsächlich fühlte ich mich in diesem Zimmer sehr wohl und sah mich prüfend um. Es war bezaubernd, etwas abgeschmackt, aber wirklich angenehm und hell. Die Wände waren mit floralen Mustern verziert, zwei bodentiefe Fenster auf der einen Seite boten einen direkten Blick in den gepflegten Garten. Ein Kleineres an der angrenzenden Wand zeigte auf den Hof. Es war weit geöffnet und die zarte Spitzengardine bewegte sich sacht in dem kraftlosen, lauwarmen Wind. Ich ging langsam zu dem geöffneten Fenster hinüber und reckte meinen Kopf hinaus. Da sah ich überraschend eine junge Frau mit einem dunkelbraunen Pferd mitten auf dem Hof stehen. Sie trug eine weiße Bluse und einen taillenhohen, dunkelblauen Rock in Bodenlänge. Ihr Blick richtete sich auf die Haustür.
„Guten Tag“, rief ich hörbar und winkte ihr. Ich wollte höflich sein. Die junge Frau bemerkte mich jedoch nicht, dabei hatte ich wirklich laut gerufen. Sie stand völlig regungslos auf dem Hof, während das Pferd mit den Hufen im Kies scharrte und mit seinen Nüstern nervös schnaubte.
„Hast du dein Zimmer also gefunden“, hörte ich meine Tante in diesem Augenblick sagen. Ich drehte mich um und sah sie im Türrahmen stehen.
„Äh – ja.“
Als ich noch einmal aus dem Fenster hinausblickte, war auf dem Hof niemand mehr, keine Frau, kein Pferd, und der Hof war gepflastert. Dort gab es keinen Kies. Dann wandte ich mich wieder meiner Tante zu und erschrak. Das Zimmer hatte sich verändert. Das Bett stand noch immer an seinem Platz, doch es wirkte älter, abgenutzter und ein Koffer lag auf der bauschigen Tagesdecke. Die Wände waren mit einfacher Raufaser tapeziert, es gab keine floralen Muster. Und von dem Bett und einem Schreibtisch abgesehen, waren die Möbel alle relativ neu und aus schlichtem, klar lackiertem Kiefernholz.
Wie war denn das möglich?
Eben noch sah das alles ganz anders aus.
Ich schüttelte den Kopf und schluckte.
Hatte ich mir das eingebildet?
Meine Tante sah mir meine Fassungslosigkeit an.
„Dich hat das Ganze wohl mehr mitgenommen, als du dir selbst eingestehen möchtest“, sagte Ingrid. „Wenn du etwas brauchst, dann kannst du zu mir in die Küche kommen, ich bereite das Essen zu.“ Sie lächelte, doch bei ihren starren Gesichtzügen wirkte es affektiert. „Dein Onkel Dietmar kommt bald nachhause. Er wird sich freuen euch wieder zu sehen.“
„In Ordnung. Ich werde erstmal meinen Koffer auspacken“, sagte ich, mit etwas schwacher Stimme.
Meine Tante verschwand und ich warf einen weiteren Blick hinaus auf den Hof. Ich war mir sicher, das war keine Einbildung, dafür war es einfach zu realistisch. Genau wie das Zimmer. Das florale Muster war sehr einprägsam, das konnte ich mir nicht erträumt haben. Allerdings konnte ich jetzt ewig hier stehen bleiben und darüber sinnieren, was ich wirklich gesehen hatte und was nicht, oder aber ich würde es vorerst beiseite schieben, es auf die Hitze und die weite Autofahrt beziehen und mich den unzweifelhaften Dingen widmen.
Ich hielt das Letztere für weitaus sinnvoller, als das Grübeln, also machte ich mich daran meinen Koffer auszupacken.
Ich zog den Reißverschluss auf und meine Sachen platzten buchstäblich aus dem Koffer heraus. Der große Kleiderschrank neben dem Bett roch nach Mottenkugeln und die Einlegeböden waren ein bisschen staubig. Mit den Handflächen fuhr ich darüber und legte anschließend meine Sachen hinein, die wohl bald selbst nach diesen alten Mottenkugeln riechen würden.
Da mein Koffer leer war schob ich in unter das Bett und ließ mich auf die weiche Matratze fallen, um noch einmal meinen Blick durch den Raum schweifen zu lassen. In diesem Augenblick kam dieses beklemmende Gefühl zurück und der Raum begann vor meinen Augen zu schwanken.
Oder schwankte ich?
Ich konnte es nicht sagen.
Ängstlich krallte ich meine Hände in die Tagesdecke und kniff meine Augen zusammen. Wie schon an der Treppe wurde es schnell besser. Als ich mich sicher fühlte, schlug ich die Lider auf und zuckte zusammen.
Das florale Muster war wieder da, die alten Jugendstil Möbel waren da, es war genau wie vorhin, als ich dieses Zimmer zum ersten Mal betrat. In diesem Augenblick entdeckte ich in einer Ecke einen ovalen Standspiegel aus dunkel lackiertem Holz. Neugierig bäumte ich mich vom Bett auf, langsam um zu prüfen ob ich standfest war, und ging zu dem Spiegel hinüber. Sofort schreckte ich zurück.
Mein Spiegelbild sah anders aus als sonst.
Das war nicht ich.
 
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Kommentare  

Spannend, flüssig und keineswegs langatmig. Der Schreibstil gefällt, doch... muss ich eine Winzigkeit bemängeln :)

Ein Barometer misst den Luftdruck und nicht die Temperatur. Sicher gibt es kombinierte Geräte, die auch ein Thermometer enthalten, aber für mich (ja gut als Physiker ^^) liest sich das so ähnlich wie "Ich sah auf den Tacho - schon 15 Uhr 30"

Ansonsten gefällt mir der Text sehr und ich bin gespannt auf Fortsetzungen.


Jingizu (30.04.2011)

Ein sehr schöner Anfang. Einfach gelungen. Toller flüssiger Schreibstil und brillante Erzählweise. In diesen sechs Seiten bringst du alles Wichtige unter, sodaß man sofort in deine Geschichte einsteigen und sie verstehen kann. Es gibt so einige Eckpunkte, wo man gespannt wartet, wie es da wohl weitergehen könnte. Da kann man nur mit Neugier das nächste Kapitel erwarten. Es kommt doch noch eins oder?

Gerald W. (27.04.2011)

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