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4 Seiten

Gestrandet in der Psychiatrie

Trauriges · Kurzgeschichten
1. Eisige Tränen

Eisige Tränen rannen mir über die Wangen als ich den spiegelglatten Weg entlang zum See ging. Es war Mitte Januar und frostig, aber ziemlich trocken für diese Jahreszeit. An der Seepromenade blies eisiger Wind, der meine Finger innerhalb kürzester Zeit vor Schmerz pochen lies. Früher hasste ich dieses Gefühl, das Kribbeln und Stechen. Jetzt genoss ich es. Den vor Kälte schmerzenden Körper.

Es waren schon fünfundzwanzig Tage verstrichen seit ich meinen Fuß zum ersten Mal über die Türschwelle der Klinik setzte. Wie ein Packesel stapfte ich mit meiner Mutter zur Rezeption, setzte mich auf eines der Sofas, die im hellen Voyer standen und wartete auf die Co-Therapeutin der Jugendstation. Ich konnte mich noch gut an den Augenblick erinnern, an dem ich Frau S. – wie ich später herausfand – zum ersten Mal um die Ecke flitzen sah. Ihr sympathisches Lächeln, die vielen braunen Locken, die sie hatte und ihre große Brille, durch die sie mich freundlich musterte, während sie uns im Eilschritt zur Jugendstation lotste. Tausende Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Wie ein Schwarm Wespen, der einen passenden Moment abwartete um seine giftigen Stacheln in ihr Opfer zu graben. So betäubt wie ich mich fühlte, musste schon mindestens die Hälfte all jener in meiner Schädeldecke stecken. Ein allzu vertrautes Gefühl, wie ich fand.
Es war schwer ihren Worten zu folgen, den vielen Vorschriften und Regeln, die ich allesamt unterschreiben musste. Alles ging viel zu schnell. Ich fühlte mich regelrecht bombardiert, ließ es aber wortlos über mich ergehen. Während man den letzten Tropfen Leben in Form von Fragebogen und Gesprächen aus mir herauszuquetschen versuchte, starrte ich nur noch missmutig ins Leere. Denn eigentlich fühlte ich mich gar nicht wirklich dazu gezwungen, darauf zu antworten. Schließlich war genau dies der Grund weshalb ich hier war und meine Mutter erzählte sowieso wie ein wandelndes Buch, sodass das Schweigen meinerseits gar nicht so sehr ins Gewicht fiel. Erschöpfung hinterließ ihre Spuren auf mir. Monoton plätscherte das Gespräch so dahin. Anfangs klar und deutlich, später ging es in Rauschen über. Dann drückte man mir den Kugelschreiber in die Hand um mein drölftes Autogramm zu geben. Dann gingen wir.

Und heute fühlte ich mich genauso. Aus den Wespen waren noch immer keine Schmetterlinge geworden und aus dem Gift kein fruchtbarer Blütenstaub. Der gefrorene Boden knirschte unter meinen Füßen. Hin und wieder wich ich einer zu Eis gewordenen Pfütze aus, in der sich das spärliche Sonnenlicht spiegelte. Die Sonne stand noch tief am Himmel als ich die Flucht ergriff. Die Flucht aus der Klinik, die ich viel zu oft als bedrückend und einengend empfand. Noch immer glaubte ich an einen schlechten Traum aus dem ich irgendwann schweißgebadet aufwachen würde. Ein Traum, der kein Ende findet.
Je mehr Weg ich zwischen mich und die Klinik brachte, umso mehr kreisten meine Gedanken. Der Nebelfaden lichtete sich, die Realität schlich sich Stück für Stück wieder in mein Bewusstsein zurück. Sie drehte sich im Kreis, getrieben von den vielen Stimmen in mir, die gegeneinander kämpften, die sich beeinflussten und mir vor Erschöpfung kalte Tränen entlockten.
Ich dachte an die vielen Worte, die ich hier gesprochen hatte, auf die mein Verstand stolz war, die ich aber dennoch bitter bereute. Weil sie sich zu leicht entlocken ließen. Weil sie mein Schutzschild gefährdeten, weil sie mich durchschaubar und verletzlich machten. Weil ich so nicht sein wollte! Ich spürte Kampfgeist in mir hochkriechen, den mein Kopf versuchte zu unterdrücken. Zu ertränken und zu verstecken! Weil ich erst hinfallen und mir die Knie aufschlagen musste, bevor ich aufstehen konnte! Ich hatte das lähmende Gefühl, in einem Zwiespalt zu stecken. Und je mehr ich strampelte um mich daraus zu befreien, umso tiefer fiel ich. Umso unerträglicher wurde der Kampf gegen die Stimmen, gegen die Krankheit, gegen mich selbst!



2. Stationssitzung

Die Kanzel füllte sich langsam. So eng aneinander gequetscht fühlte sie Emilia wie eine Legehenne im Käfig. Wenn man nicht ausreichte, wurde man aussortiert. Still und heimlich. Ja, so fühlte sich Emilia. Wie eine Legehenne, weil auch sie fürchtete, dass sie bald aussortiert wurde.

Es war Freitagnachmittag. Wie üblich fand die Stationssitzung statt, bei der Neuankömmlinge vorgestellt, Abreisende verabschiedet, Anliegen besprochen, Verträge genannt und gelobt wurde.
Die Lobrunde war von all dem wohl das Schlimmste, aber auch heute musste Emilia da durch. Jeder musste da durch. Unbeweglich saß sie auf ihrem Stuhl. Mit gesenkten Kopf und müden Gesichtsausdruck. Ausdruckslos, weil sie den Kampf aufgeben wollte. Weil sie es nicht konnte und ihr jedes erkämpfte Wort einen heftigen Schlag in den Magen verpasste. Manchmal fragte sie sich weshalb sie sich die Klinik angetan hatte und was sie sich erhofft hatte. Es waren Fragen, die immer öfter offen blieben. Sie wollte nicht mehr fragen und hoffen konnte sie schon lange nicht mehr. Sie war erschöpft und aufgebraucht, weil ihr das Leben das Rückgrat brach. Wirbel für Wirbel, bis sie in sich zusammensank.
Tagtäglich musste sie sich Sätze anhören wie „Du kannst doch sprechen, wieso tust du es nicht?“ und „Du musst nur wollen, aber du willst nicht!“. Man trichterte ihr regelrecht ein, dass sie stur sei, unwillig und trotzig. Und man bestätigte sie darin, dass Emilia das Leid der anderen mitzutragen hatte. Für alles war sie verantwortlich und die Schuld trug natürlich auch sie. Für alles und jeden. Und das wo sie doch noch nicht einmal für sich selbst Verantwortung übernehmen konnte.
Sie hasste die Lobrunde, weil man sie so genau abzählen konnte. Drei. Zwei. Eins. Und dann sie. Emilia, die immer schwieg wenn sie sprechen sollte. Und wie üblich wartete man. Minuten, Stunden, Jahre. Man wartete einfach nur, während – wie sie vermutete – genervte Blicke durch die Therapeutenreihe liefen. Kettenreaktionen. Man hörte regelrecht wie jeder erwartungsvoll den Atem anhielt. Am liebsten wäre Emilia aus der Kanzel gelaufen. Vielleicht hätte sie es getan, wenn es nicht so eng gewesen wäre. Aber sie musste ausharren und alles über sich ergehen lassen. Stille Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Chefarzt redete ständig auf sie ein während der Rest schwieg. Er ließ Emilias Mitpatienten auf ihre Kosten warten. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, dass sie doch wollte! Dass ihr das Schweigen auch keinen Spaß machte. Dass es sie krank machte! Sie hätte ihm erklärt, was Worte für sie bedeuteten. Wie schwer es war, sie auszusprechen! Wie sehr sie hinter ihrer gefrorenen Fassade kämpfte! Um jedes Wort, weil es auf dem Weg nach draußen tausendmal aneckte. Keiner konnte sich vorstellen wie es war, ständig für stur gehalten zu werden und Enttäuschung und Wut zu hinterlassen, weil man nicht sprach! Niemand! Nicht annähernd.
Und als sie dann doch vor Verzweiflung zwei leise Sätze herausbrachte – „Es geht gerade nicht. Ich gebe weiter.“ – interessierte es doch niemanden. Man bat sie nur noch einmal, ihren Satz zu wiederholen, damit es jeder hören konnte. Einmal. Und sie tat es, weil sie hier weg wollte.
 
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