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Wettrennen gegen die Zeit

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Mitten in der Begrüßung öffnete sich die Türe:
„Ich bin nicht zu spät, ihr habt zu früh angefangen.“ Tatsächlich waren die Glockenschläge einer Kirche zu hören.
Sie wusste aber ganz genau, dass sie es wieder nicht geschafft hatte. Ihre Armbanduhr zeigte neunzehn Uhr null drei und ihre Armbanduhr ging auf die Sekunde genau. Die Turmuhr musste offensichtlich hintennach gehen.
Immer diese zwei, drei Minuten, um die sie sich verspätete, manchmal auch vier, mehr als fünf waren es höchst selten. Warum schaffte sie es einfach nicht, pünktlich zu sein?
Auch heute hatte sie den Trick mit den fünf zusätzlichen Minuten angewandt. Zwanzig Minuten war die Fahrt mit dem Auto, um aus der Garage hinauszufahren brauchte sie höchstens vier Minuten und vom Parkplatz bis zum Sitzungszimmer waren es nochmals vier Minuten. Plus fünf Minuten Reserve das waren aufgerundet fünfunddreißig Minuten. Fünf vor halb Sieben aus dem Haus, das musste doch reichen, verdammt noch mal.
Aber es hatte wieder nicht gereicht, sie war wieder ihre drei Minuten zu spät. Sie hatte das Wettrennen gegen die Zeit einmal mehr verloren.
Anstatt sich auf die Sitzung zu konzentrieren – da war immer noch die Begrüßung, bei der sie nichts verpasste – machte sie, wie der Trainer nach einem verpatzten Sprint, Wettkampfkritik.
Gut, der Hausschlüssel hatte etwas geklemmt, da würde sie etwas dagegen unternehmen müssen, sonst brach er womöglich nächstens im Schloss ab und dann hatte sie die Bescherung. Und ja, dann hatte sie sich gefragt, ob sie wirklich die Kerze gelöscht und die Fenster geschlossen habe. Eigentlich war sie sicher, aber eben doch nur zu neunundneunzig Prozent, also das Schloss nochmals aufgewürgt und kontrolliert, ja, alles war in Ordnung. Im untern Stock wurde gleichzeitig ein Schlüssel gedreht, und lachend stand da der Nachbar, den sie seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. Ausgerechnet jetzt musste er ihr begegnen, sie kam nicht um ein paar freundliche Worte herum, alles andere wäre unhöflich gewesen. Die fünf Reserveminuten waren aufgebraucht.
Noch war nichts verloren, die zwanzig Minuten Fahrzeit würden reichen. Das dachte sie mindestens so lange, bis dieser Lastenzug genau vor ihr in die Strasse einbog. Sie rechnete sich aus, wo sie zum ersten Mal würde überholen können, das war erst außerorts, auf der geraden Strecke nach der Rechtskurve, aber auch da nur, wenn kein Gegenverkehr war.
Eigentlich fuhr er gar nicht so langsam, dieser Fünfachser, er hielt sogar die fünfzig Stundenkilometer innerorts ein, also vorläufig kein Zeitverlust. Sie hatte einfach keine Übersicht, das störte, sie sah nur das Heck des Riesenfahrzeugs und den Schriftzug „unterwegs für Sie“. Voraussicht war aber wichtig, um optimal vorwärts zu kommen. Und wirklich, plötzlich verlangsamte der Lastwagen auf vierzig Stundenkilometer, da musste also etwas noch Langsameres unterwegs sein, vermutlich ein landwirtschaftliches Fahrzeug, sehen konnte sie es nicht. Wenn das noch lange so weiter ging, würde sie wieder zu spät kommen. Wenn es ihr allerdings gelang, auf der geraden Strecke zu überholen, sie freie Fahrt hatte und die erlaubte Höchstgeschwindigkeit etwas ausreizte, konnte sie die verpasste Zeit problemlos aufholen.
Alles an ihr war angespannt, war Konzentration, war ausgerichtet auf diese Fahrt, die in die kommenden zwanzig Minuten eingezwängt werden musste, in die kommenden fünfzehn, vierzehn, dreizehn Minuten.
Eigentlich war es ein gar nicht so unangenehmes Gefühl. Sie fühlte sich sehr lebendig, ganz gegenwärtig ohne einen Gedanken an vorher oder nachher, da war nur diese prickelnde Frage, ob sie es rechtzeitig schaffen würde. Der Grund dafür, dass man eine unliebsame Gewohnheit trotz Anstrengungen nicht ändern könne, sei ein unbewusster Lustgewinn, den man sich damit verschaffte, so sagten es die Psychologen. Der unbewusste Lustgewinn musste etwas mit diesem prickelnden Gefühl zu tun haben und vermutlich wurde dabei eine ganze Menge Adrenalin ausgestoßen.
Auf der geraden Strecke kam sehr weit vorne ein Personenwagen entgegen. Vielleicht reichte es trotzdem, sowohl den Lastwagen als auch den Traktor zu überholen. Aber es konnte sein, dass auch das Gegenfahrzeug schneller als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit fuhr, dann könnte es knapp werden. Trotz der immer kürzer werdenden Restzeit bis zum Sitzungsbeginn, wollte sie kein Risiko eingehen, nein, dann eben lieber zwei Minuten zu spät. Aber vielleicht schaffte sie es ja noch, es war erst zehn Minuten vor Sieben, das war knapp, es durfte nun wirklich nichts mehr dazwischen kommen.
Ortstafel, abbremsen, fünfzig, sie fuhr etwas schneller, nicht viel, es musste noch in der Toleranzgrenze liegen. Vor ihr nun aber ein Fahrer, der wohl alle Zeit der Welt hatte, anstelle der fünfzig, fuhr er höchstens fünfundvierzig.
„So fahr doch du Schleicher, du bist nicht alleine auf der Strasse.“
Überholen war unmöglich.
Je näher sie ihrem Ziel kam, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass sie dieses rechtzeitig erreichen würde. Vielleicht, wenn der vordere Parkplatz nicht besetzt war, aber das war selten der Fall, sie sah es gleich, es war auch heute nicht so. Nur ganz hinten war noch etwas frei.
Ihre Armbanduhr zeigte genau sieben Uhr, als sie die hintere Wagentür öffnete und ihre Unterlagen und die Handtasche packte. Es würde nicht viel nützen, dass sie jetzt einen Spurt einlegen und die Treppe hinauf rennen würde, sie war wieder ihre drei Minuten zu spät.
Als sie den zweitobersten Treppenabsatz erreichte, begann die nahe Kirchenglocke zu schlagen, zuerst die vier Viertelschläge, dann gemächlich die Stundenschläge, und als sie die bereits geschlossene Türe des Sitzungszimmer öffnete, waren erst fünf der sieben verklungen und die zwei letzten noch deutlich zu vernehmen.
„Ich bin nicht zu spät, ihr habt zu früh angefangen.“
 
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Kommentare  

Wunderbar aus dem Leben gegriffen. Ich habe die ganze Zeit hinter dem LKW gehangen und geflucht, nicht überholen zu können. Deine Geschichte hat mir sehr gefallen.

Frank Bao Carter (09.01.2016)

Vieles, was du beschreibst, kenne ich bei mir selber auch, wenn ich es mal wieder eilig habe. Dabei nützt alle Hetze meist gar nichts. Das macht deine Geschichte sehr schön deutlich.

Christian Dolle (07.01.2016)

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