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Himmelsturz (1 von 4) - Der Engel stiehlt ein Herz

Romane/Serien · Romantisches
Satanel hatte zur Feier des Herbst-Äquinoktiums geladen. Erst wollte ich nicht hingehen. Wäre ich nur der Stimme meines Herzens gefolgt, vielleicht wäre dann mein Leben völlig anders verlaufen.
Aber was hilft alles Lamentieren? Was geschehen ist, ist vergangen. Es ist nicht rückgängig zu machen.
Es war früher Vormittag. Gegen neun Uhr. Die Sonne stand schon grell am Himmel. Wir alle strahlten in unseren weißen Gewändern. Jeder Frauenkopf glitzerte golden.

Ich bewunderte die langen, dunkelbraunen Locken meines Sandkastenfreundes Micha. Sofort war meine Wut wieder da, dass wir Frauen unser Haar nur lang, nur offen, nur blond und nur gelockt tragen durften.
Meine Augen funkelten wie der Knauf des Schwertes, das Micha an seiner Seite trug. Da gab es eine Bewegung im Rücken meines Freundes. Die Menge wogte hin und her und wich dabei jemandem zur Seite.
Dann stand er plötzlich da. Glänzend im Sonnenlicht. Ein Schwert, doppelt so strahlend wie Michas. Und Augen . . . verdammt, mit einem Schlag waren meine Knie ganz weich.
Und diese Augen hatten nur ein Ziel: Mich.
Ich glotze ihn mit offenem Mund an.
Wahrscheinlich hatte ich für einen Augenblick ein sehr dämliches Bild abgegeben. Zum Glück hatte ich mich ganz schnell wieder im Griff. Meine Überraschung schlug um in verhaltene Freude. Aus dieser gebar sich ein begehrliches Interesse. Schnell musterte ich ihn, wie er mich. Mein forsches Auftreten ließ ihn die Lider senken.

Oder war er verärgert wegen meines Äußeren?
Sofort waren die Zweifel wieder da. War es richtig gewesen, mir die Haare mit einem heißen Kamm geglättet zu haben? Dass ich sie mir zu einem Dutt aufgesteckt und nur links eine lange Strähne an meinem Gesicht vorbei fallen gelassen hatte? Fast wirkte es, als trüge ich kurzes Haar. Dazu hatte ich um mein rechtes Auge einen Ring aus Blattgold aufgetragen. Ebenfalls flossen diese kleinen Blättchen von meiner rechten Wange über meinen Hals bis zu meinem Dekolleté.
Unverschämt, hörte ich so manchen Engel hinter mir schimpfen, ohne Anstand und ohne Moral.
Ja, ich gestehe, das war die Art, Rache zu zeigen.
Ich wollte kein Engel sein.
Niemand hatte mich gefragt. Es war einfach über mich bestimmt worden. Wer hier im Himmel geboren wurde, musste sich diesen Etiketten unterwerfen. Und ich fand das grausam. Die Etiketten, der Zwang zum Freundlichsein, der Zwang zur Hilfsbereitschaft und Selbstaufgabe, die permanente Selbstverleugnung.

Dieser Zwiespalt war der Hauptgrund meiner leichten Melancholie. Obwohl ich wunderhübsch war und wahnsinnig blaue Augen hatte, konnte ich den Schatten einer leichten Traurigkeit nie ganz ablegen. Die Traurigkeit über das Schicksal meines bis dahin noch relativ jungen Lebens.
Wie ich aus meinen Gedanken aufblickte, sah ich erneut in die Augen des wahnsinnig attraktiven Engels. Später sollte ich seinen Namen erfahren: Raphael. Er musste mich die ganze Zeit beobachtet haben. Und tatsächlich huschte ein freundliches Lächeln über sein Gesicht. Ihm gefiel, was er sah. Kein Tadel lag in seinem Blick, nur Neugier. Und fast meinte ich, Verständnis zu erkennen. Sollte das möglich sein?
So musste auch ich schmunzeln. Nicht über ihn oder über die Situation, sondern über meinen Spitznamen „Antika“, betont auf der letzten Silbe wie bei Annika. Aber meine Eltern hatten diesen Namen nicht von Antik abgeleitet. Das wäre ja noch etwas Schönes, Traditionelles, Wertvolles gewesen. Nein, es war ihr Spott über mein ständiges Dagegensein, meine Anti-Haltung gegen alle Werte und Normen.

Mein Lächeln musste den großen Erzengel ermutigt haben. Schon hatte er sich auf den Weg zu mir aufgemacht, da fasste mich Satanel bei der Hand und zog mich in eine neue Engeltraube. Er hätte viele neue Weggefährten gefunden, die ich unbedingt kennen lernen musste, hatte er mir ins Ohr geraunt. Hoffnung und Zuversicht lagen in seiner Stimme. Ich sollte jetzt prüfen, ob sie es wert wären, an unserer Verschwörung teilzunehmen.
So hatte mich der Alltag ganz schnell wieder eingeholt.
Verweht waren die Gedanken an Liebe, Zärtlichkeit und dem Dahinschmelzen in starken Männerarmen. Zerreitet der Wunschtraum nach stundenlangen Küssen.
Ein letztes Mal fuhr ich wehmutsvoll mit den Fingerspitzen über meine goldenen Lippen. Anstelle von Hasstriaden hätten sie heute Morgen gerne etwas Anderes gegeben.

Satanel, der oberste Engel Gottes, führte mich in die Gruft eines nahegelegenen Tempels. Drinnen saßen über fünfzig männliche Engel der Cherubim. Anhand der breiten Schultern und kräftigen Oberarme war unschwer der Krieger zu erkennen. Schwert und Schild wussten diese Engel zu führen. War ihr Geist aber auch auf unserer, oder besser Satanels Seite? Das zu ergründen war meine Aufgabe.
Und hierbei war Vorsicht angebracht.
Der Spitzel gab es zuhauf.
Zu unserem Vorteil war unsere Bewegung noch relativ jung und unsere umstürzlerischen Absichten kannte bisher nur unser Führungsstab. Hingegen ging der Großteil unserer Gefolgschaft - ob weibliche oder männliche Engel – davon aus, dass wir lediglich gewisse Bereiche der Gesellschaftsordnung reformieren wollten.

Uns war das nur recht.
Solange die Masse an eine Reformation glaubte, unterstützte sie uns. Nur unsere Krieger mussten zur rechten Stunde unsere wahren Ziele wissen. Sofern es sie denn wirklich interessierte.
Selbst mich interessierten Satanels Beweggründe nur am Rande. Mir war wichtig, den Muff der letzten tausend Jahre endlich beiseite zu fegen und für ein klein wenig mehr Freiheit einzutreten. In Satanel sah ich den Führer, dem dieses gelingen könnte. Deshalb gehörte ihm meine absolute Loyalität.
Nach einer Stunde Diskutierens gab ich ihm das Zeichen, sich auf diese neuen Krieger verlassen zu können.
Mit einer förmlichen Umarmung entließ er mich in die Sonne.
Mittlerweile war sie sehr heiß geworden.
Überall waren große, weiße Leinwände als Schattenspender aufgespannt. Sie waren aus dünnem Tuch, dämpften nur schwach das Licht, hielten die Wärme aber draußen. Zusätzlich wehte eine sanfte Brise die aufgestaute Hitze fort.

Ich steckte die Haarnadeln in meinem Dutt neu, zog wieder die verwegene Haarsträhne hervor und tastete mit meinen Fingern an meiner Wange entlang abwärts, ob alle Goldblättchen noch festsaßen. Gerne würde ich mich jetzt im Wasser sehen. Wollte kontrollieren, ob ich wirklich so hübsch war, dass ein fremder Engel Gefallen an mir finden könnte.
Kurzentschlossen schlenderte ich über die tuchbespannte Festwiese. Wie bei allen öffentlichen Plätzen gingen die kleinen Gassen der Stadt strahlenförmig weg. Die Architekten mussten Kinder gewesen sein, die einen Kreis in den Sand zeichneten, ihn mit einem Kranz aus geraden Linien versahen und behaupteten, es sei das Abbild der Sonne.
Ich wiederhole mich gerne, Individualität war in unserer Gesellschaft nicht gerne gesehen. So waren unsere Städte ein Mosaik aus vielen kleinen Kindersonnen, in denen man sich wunderbar verlaufen konnte.
Den Weg zum Waschbrunnen jedoch kannte ich als Frau auswendig.

Das Kopfsteinpflaster drückte sich durch meine dünnen Ledersandalen. Meine Fußsohlen genossen es. Förderten die Durchblutung, weckten meinen von der Hitze ermüdeten Körper wieder auf. Dazu der kühle Schatten in den Gassen. Sofort kondensierte der dünne Schweißfilm auf meiner Haut. Unzählige kleine Tröpfchen waren Labsal für meine Hautporen.
Unsere Gassen waren immer zwei Meter breit, die Häuser immer dreistöckig, mit einem Flachdach, auf dem in kleinen, tuchbeschatteten Beeten Obst, Gemüse und Kräuter gezüchtet wurden. Getreide und Wein wurde außerhalb der Stadt angebaut. Dort waren auch die großen Kuh- und Ziegenweiden.
Der Waschbrunnen war das Erdgeschoss dreier aneinander liegender Häuser. Es war ein breites, langes Becken, u-förmig umschlossen von einer Steinbank. Auf ihr wurden die Waschkörbe gestellt, ausgewrungene Wäscherollen abgelegt oder sich zu einer Verschnaufpause hingesetzt. An der bergwärts liegenden Stirnseite floss durch eine armdicke Rinne neues Wasser zu, am gegenüberliegenden Ende gab es knapp überm Boden drei kleine Abflusslöcher sowie oberhalb der Wasserfläche einen Überlauf. Diese Konstruktion ermöglichte ein kontrolliertes Abfließen des Brauchwassers.

Doch ich war nicht hierhergekommen, um über unser Wasserleitungssystem zu referieren. Ich wollte mein Bild im Wasser sehen. Am Rand zur Gasse drang noch so viel Licht auf das Wasser, dass Frauen wie Männer gerne auf kleinen Holzstühlen saßen, um ihr Haar zu richten oder ihr Ebenbild zu bewundern. Und mir wurden auf einmal die Knie weich. Nicht, weil das Schleppen des Stuhls meine Kraftreserven verbraucht hätten. Nein. Ich musste schon wieder an Raphael denken.
Würde er mich wirklich leiden?
Ängstlich schaute ich ins Wasser. Eine wunderhübsche Frau blickte mir entgegen. Jeder halbwegs moderne Mann musste mich einfach gernhaben.
Ich richtete erneut mein Haar, kontrollierte meine Schmuckplättchen, zupfte ein paar lange Augenbrauen aus, stärkte mit einer winzigen Bürste meine Wimpern.
Zufrieden bummelte ich zurück zum Fest.

Dort angekommen, verspürte ich großen Durst.
Ich füllte mir ein Glas mit Fruchtbowle.
Gedankenverloren fischte ich mit einem kleinen Holzspieß die Früchte. Vor meinen Augen sah ich nur einen: Raphael. Es hatte mich auf dem ersten Blick erwischt. Ich zitterte sogar in diesem Moment, wo ich an ihn dachte. Nervös wie ein kleines Schulmädchen legte ich mir Worte zurecht, wie ich ihn in ein Gespräch verwickeln könnte. Sollte ich ihn auf sein tolles Schwert ansprechen? So ein Blödsinn. Auf seine breiten Schultern, die ein kleines Mädchen beschützen könnten? Vollkommener Quatsch. Ihn nach dem Befinden seiner Mutter fragen? Wie unglaubwürdig.
Wieder einmal war ich so mit mir selber beschäftigt gewesen, dass ich die Schritte nicht gehört hatte und vor Schreck das Glas fallen ließ, als seine Stimme hinter mir ertönte: „Du bist wunderhübsch, Mädchen. Magst du mir nicht deinen Namen verraten?“
„L-Lu-Lucille“, brachte ich mit Mühe und Not heraus.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, liebste Lucille. Darf ich dich auf ein neues Glas Bowle einladen?“
„Nein . . . ja . . . weiß nicht“, stammelte ich weiter.
Fürwahr, von meiner Seite aus begann unsere Liebschaft sehr holprig.

(Dieses ist der erste von vier Teilen. Die anderen folgen in Kürze)

Diese himmlischen Geschichten der Reihe „Himmelsturz“ sind im Dezember 2022 in dem E-Book „Schwarzer Engel – Verlorene Seele“ von Mats Hoeppner bei allen bekannten E-Book-Vertreibern erschienen.
 
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Kommentare  

Hallo Ingrid, Hallo Marco,

vielen Dank für eure tollen Feedbacks. So werde ich mich diese Woche ransetzen, den zweiten Teil rauszubringen.


Frank Bao Carter (16.05.2021)

Ich mag die Geschichte, die Engel sind so menschlich, so schön, so eitel - und auf Revolte aus. Bin gespannt, wie's weitergeht ...
Lieben Gruß


Ingrid Alias I (15.05.2021)

Ein toller Schreibstil. Deine Worte sind druckreif. Alles ist gefühlvoll und nachvollziehbar beschrieben. Lucille überzeugt. Kurzum, diese Geschichte zieht einen in den Bann. Ich bin gespannt, was noch folgen wird.

Marco Polo (11.05.2021)

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