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Damenzug

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Als ich fast sechs Jahre alt war, zogen meine Eltern in eine Kleinstadt. Unser Haus lag an der Grenze zu einer Bauernschaft. Hinter dem Haus, direkt an unserem Garten, lag ein großes Feld, vor dem meine Eltern mich oft warnten. Es gab dort viele Mäuse und Ratten, sowie jagende Katzen. Manche dieser Katzen waren riesengroß und total verwildert. Sie hatten seit Generationen allenfalls Sichtkontakt zu Menschen gehabt. Man konnte sich ihnen höchstens nähern, wenn sie gerade ein Fasan oder ähnlich schwere Beute wegschleppten. Ein Mann aus unserer Gegend hatte auf diese Weise eine Fingerkuppe verloren.

Eines Tages war ich allein hinter dem Haus und drosch meinen Fußball in einer dem Squash ähnlichen Manier immer wieder gegen die Wand. Da raschelte es hinter mir im Feld. Ich kriegte einen Schrecken, denn dem Geräusch nach mußte das eine unglaublich große Katze sein, die einem womöglich nicht ?nur? seinen Finger, sondern eine ganze Hand abbeißen konnte.

Ich drehte mich um und sah ein fremdes Mädchen. Sie zuckte gerade in dem Augenblick zusammen, als ich sie gerade eben wahrnahm, und mir kam es dadurch vor, als hätte sie sich soeben materialisiert, wie ich es von ?Raumschiff Enterprise? kannte. Wir starrten uns eine Weile an. Dann sagte sie was. Ihr Gerede hörte sich an, als würde jemand sanft eine ruhige Melodie summen.

Sie kam aus der Nachbarschaft und wohnte ein paar Häuser weiter in derselben Straße. Ihr Garten grenzte ebenfalls an das Feld. Sie hatte eine Freundin besuchen wollen und sich dabei im hohen Mais verlaufen. In solche Mädchen habe ich mich später immer wieder verliebt: hübsch, sanft, eloquent und ohne Orientierungssinn...

Sie verlief sich dann noch häufiger zu mir. Sie war wie eine Katze- sie kam und ging wie sie wollte. Man konnte sie nicht lenken, aber man mußte sie mögen. Melanie machte andauernd komische Sachen.

Leider besuchte sie eine katholische Schule, die mir versperrt war. Ein paar Wochen nach unserer ersten Begegnung zog sie fort, ohne sich zu verabschieden. Ich hörte nie zu hoffen auf, daß sie mich eines Tages wieder besuchte. Weil ich fürchtete, dann aus Versehen nicht zu Hause zu sein, entwickelte ich mich zu einem Stubenhocker, der fast seine ganze Freizeit mit Büchern über Schach verbrachte, was meine Eltern unaufhörlich beklagten.
"Wie willst du jemals ein nettes Mädchen kennenlernen, wenn du nie rausgehst?", fragte mein Vater oft. Ich war für seine Ratschläge verloren, denn ich träumte davon, daß Melanie in der Zeitung von meinen Erfolgen als Schachspieler las, mein Bild sah, und sich an mich erinnerte und zurückkam.

Nachdem ich zehn Jahre lang versucht hatte, ihretwegen ein berühmter Schachspieler zu werden, brachte das Spiel sie mir tatsächlich zurück.
Es war an einem Donnerstagabend im Frühling oder Herbst. Ich stand mit einem freundlichen, etwa 35 Jahre alten Herrn namens Sigi vor dem Vereinslokal unseres Schachklubs. Während wir darauf warteten, daß die Gaststätte öffnete, erzählte Sigi von seinem bevorstehenden Abschluß in Mathematik. Diese Story wurde seit zehn Jahren immer besser. Ich überlegte, ob es regnen würde, und sah in den Himmel. Als ich eine helle, melodische Stimme hörte, sah ich wieder nach unten.
"Das ist meine Nachhilfe-Schülerin Melanie", sagte Sigi stolz. "Und das ist Wolf."
"Ich kam gerade vorbei", flüsterte sie. "Lange nicht gesehen."
Ich nahm ihre Hand.
"Ich habe dich jeden Tag gesehen", sagte ich.
"Nicht im richtigen Leben", widersprach sie.
"Nein", gab ich zu. "Aber das ist viel besser."
Sie lächelte.


(Das ist ein überarbeiteter Auszug aus "Meine Frauen und meine Aktien", meinem Fortsetzungsroman im "SOFA"-Forum von "wallstreet-online.de".)
 
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Kommentare  

Hallo Joachim,
obwohl es nur ein kleiner Auszug von viel mehr ist, finde ich es läßt sich gut an. Dein Text läßt sich gut lesen, du bist in der Sprache sicher und man wird neugierig.
Für den Teil, den ich gelesen habe, bekommst du ohne Frage die vollen Punkte.


Charly (20.11.2003)

Hi @ll


Danke für die wohlmeinenden Kommentare. Ja, die Geschichte beruht auf realen Erinnerungen. Melanie kam vor Eva.

Wenn irgendetwas an der Geschichte unlogisch oder mißverständlich ist, stehe ich für alle Fragen zur Verfügung. Je nach Frage werde ich entscheiden, ob ich die Antwort hier öffentlich, oder per Mail gebe.


Wolfsbane (12.01.2003)

Schön.
Besonders der Anfang gefiel mir gut. Klingt autobiografisch...
5 Pts


Stefan Steinmetz (12.01.2003)

Sehr gut mus ich sagen.Du kannst sehr gute geschichten schreiben.Ein bischen habe ich nicht gans verstanden aber sie ist sehr gut.Super gemacht.Ein ganz fettes Komentar.Ich finde auch das sie sehr COOL ist.

Lisa (07.01.2003)

*ggg*
Kam Melanie nun VOR oder NACH Eva....?
Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.
5 Pts.


Gwenhwyfar (30.12.2002)

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