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2 Seiten

DER SPIEGEL

Schauriges · Kurzgeschichten
© Middel
Sie betrachtet sich ausgiebig im Spiegel. Ihre glatten roten Haare zu einem Zopf gebunden versucht sie sich an den Tag zu erinnern, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Sie öffnet den Wasserhahn ... und schreckt zurück. Kalt! Es dauert um diese Uhrzeit, es ist kurz vor sechs Uhr in der früh, ziemlich lang, bevor das Wasser eine für sie angenehme Temperatur erreicht hat. Während ihr Blick immer noch in ihrem eigenen Spiegelbild gefangen ist, wandern ihre Gedanken weit hinaus. Ihre Bewegungsabläufe sind automatisiert und sie nimmt sie gar nicht mehr wahr.

Sie erinnert sich an einen warmen Sonntagvormittag im Park, er hatte sie angesprochen während sie auf einer Bank die Tageszeitung las. Er war so süß gewesen und hilflos. Sie wusste gleich, dass er etwas von ihr wollte. Lange bevor er sich traute sie anzusprechen. Als er es endlich tat, wirkte er unbeholfen und tapsig. Sie schluckt. Versucht dieses Wort zu verdrängen: tapsig.

Sie lässt etwas Wasser in ihre geschlossenen, zu einem Korb geformten Hände laufen und wäscht sich das Gesicht. Es schmerzt an früher zu denken. An all das was einmal war. Sie blickt wieder in den Spiegel, betrachtet ihre rotunterlaufenen Augen. Während sie die Zahnbürste aus dem Becher nimmt, schweifen ihre Gedanken wieder ab. Das erste Treffen im Cafè zwei Tage später. Unverfänglich sollte es ein. Beinahe romantisch wurde es. Er hatte Rosen mitgebracht. Zu früh wie sie dachte. Trotzdem fasste sie es als nette Geste auf. Stundenlang unterhielten sie sich. Über Gott und die Welt. Sie hörte ihm aufmerksam zu, wenn er von seinen Zukunftsvisionen erzählte. Der Villa am Strand, der eigenen Firma, der Jacht und der Limousine. Wenn sie erzählte, hörte auch er zu und das ließ sie vergessen, dass er eigentlich gar nicht ihr Typ war. Etwas zu klein, zu dick und trotz seines Anzugs machte er keinen seriösen Eindruck. Und wenn er sie auch zum lächeln brachte, so war er doch meilenweit davon entfernt, ihr Traummann zu sein.

Sie greift nach der Zahnpasta. Während sie die Tube drückt, bemerkt sie die blauen Flecken auf ihrem Unterarm. Und an ihrem Handgelenk. Ihr Blick wandert wieder gen Spiegel. Im Schützenverein war er. Sie hatte Waffen immer gehasst. Nun nahm er sie mit auf Schützenfeste, bei denen er sich oft sinnlos betrank. Sie führt die Zahnbürste bedächtig in ihren Mund, vorbei an den schmerzenden Lippen. Die erste Nacht. Gleich beim zweiten Treffen war es soweit gewesen. Sie hatte nicht viel Erfahrung gehabt. Doch auch so war ihr schnell klar, dass er nicht der liebevolle Liebhaber war, den sie sich so sehr wünschte. Es ging alles sehr schnell. Es tat weh. Sie vermutete, er wünschte sie würde stöhnen, also tat sie es. Ganz leise, dann lauter und schließlich schrie sie fast. Ohne Gefühl. Er schlief danach sofort ein. Sie ging duschen und überlegte, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Der Spiegel zeigt ihr, dass sie keine Schuld trägt.

Sie nimmt die Bürste, öffnet den Zopf und kämmt ihr Haar. Dann spült sie ihren Mund aus. Zahnpastaweiß und blutrot vermischt sich zu einem hellroten Mix, den sie nur zu gut kennt. Sie hat es schon oft gesehen dieses Gemisch. Rot war einmal ihre Lieblingsfarbe gewesen. Damals, als sie noch an Träume glaubte. Sie legt die Bürste beiseite und wäscht ihren Oberkörper. Früher hätte sie diese Schmerzen nicht ausgehalten, jetzt sind sie beinahe wohltuend. Sie zeigen ihr: Ich habe überlebt.

Sie schließt den Wasserhahn, trocknet sich ab. Ein letzter, fragender Blick in den Spiegel. Sie weiß, was zu tun ist. Sie wird sich jetzt anziehen, den Telefonhörer nehmen und die Polizei anrufen. Sie wird sagen: Hier ist Annemarie Kaiser, ich möchte einen Mord melden. Ich habe heute Morgen meinen Mann mit seinem Gewehr in den Kopf geschossen.
 
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Kommentare  

Hallo Middel,
ich hab das Ding heute erst entdeckt und ich bin positiv überrascht.
Es ist Dir gelungen, mit relativ kurzen Sätzen die Situation recht plastisch zu beschreiben und auch das Ende ist Dir überaus gut gelungen.
Eigentlich mag ich so knappe und wortkarge Beschreibungen nicht besonders, aber hier paßt dieser Stil perfekt zur Situation.
Im Gegensatz zu einigen anderen Kommentatoren finde ich, daß Du auch die Motive für die Hochzeit ausreichend dargelegt hast.
Ja, so sollte eine gute Kurzgeschichte aussehen!

Bemängeln würde ich lediglich einige unbedeutende Kommatafehler, aber das ist eine Deiner Eigenarten, dafür bist Du bereits bekannt.


Minotaurus (14.11.2006)

Oh mein Gott! Super, echt super! Genial, wie du so viel Aussage so prägnant und kurz darstellst. Ein sehr tragisches Thema, an das du dich da gewagt hast, mit echt gutem Ergebnis!
5 Punkte zum Abo-Preis ;-)


Lena N. (18.01.2005)

Ich denke es bedarf keiner Erklärung, warum man sich mit jemandem "einlässt".
Manche Menschen sind so unsicher, so ängstlich, dass sie froh sind einen Menschen gefunden zu haben, der ihnen - wenn auch nur scheinbar - das Gefühl von (Selbst-)Sicherheit gibt. Sowas muss man, denke ich, erlebt haben um es zu verstehen ...


Middel (19.04.2003)

Auch mich bewegt nach der Lektüre Deiner Geschichte die Frage, weshalb die Frau sich näher mit dem Mann eingelassen, ja ihn sogar geheiratet hat, obwohl er nicht ihr Typ ist und die erste Nacht auch so entsetzlich daneben gegangen ist.
Da so vieles in dieser Geschichte offen geblieben ist, was hätte erklärt werden müssen, nur drei Punkte, obwohl Du die Stimmung der Situation ausgezeichnet rübergebracht hast.


Norma Banzi (18.04.2003)

Also mir gefällt es gut- allerdings ist es nicht wirklich neu. Habe schon vorher gewusst das es ungefähr so enden wird....Ein wenig ausführlicher(bildlicher) gefällt mir besser um tiefer in die Situation eintauchen zu können. Würde Dir dafür 3 von 5 Pkt. geben!

minimonster (01.02.2003)

die Geschichte läßt mich gut in das "danach" eines Mordes eintauchen.
Allerdings würde sie sich auch gut als Teil einer längeren Geschichte machen.
Danke.


Oliver (09.01.2003)

Ich bin normalerweise kein Fan solcher Geschichten, aber diese gefällt mir trotzdem. Sie weckt im Leser eine Neugier auf das, was geschehen ist, so daß man einfach weiterlesen muß.

...gut gemacht!


Tobias (06.01.2003)

Überraschende Wendung. Schlüssige Erzählstruktur. Doch mir fehlt ein Hinweis, der auf ihre seelische Situation verweist, die erklären würde warum sie sich, obwohl er absolut nicht ihr Typ, war auf ihn eingelassen hatte. Das Ende ist mir zu ausführlich. Es wäre nicht nötig sie erwähnen zu lassen, daß sie ihm in den Kopf mit seinem Gewähr geschossen hatte. Allgemein aber gut zu lesen.

Lene (05.01.2003)

Hey, sehr dramatisch!!!! Tenessee Williams wäre stolz auf dich!!!!! Mal die anderen lesen...

Svette (04.01.2003)

PENG und dann zierte seinen Hals ein matschiges Etwas. Harmlos beginnt die Geschichte und wandelt sich klammheimlich zu einem kleinen Drama.
Jo, prima gemacht. Leider etwas zu kurz, der Inhalt, der Grund, kommt zwar lückenlos rüber, aber ein paar in die Länge ziehende Details hätten der Story gut getan.
Dennoch gestatte ich mir, Dir 4 Punkte zu überreichen.


Maxson (30.12.2002)

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