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10 Seiten

Die innere Sicherheit

Schauriges · Kurzgeschichten
© Orphne
In unserem kleinen Wohnzimmer tummeln sich Menschen. Vor allem alte, aber auch einige Mittdreißiger, die mich noch um ein paar Jährchen beneiden können. Alle in Schwarz, erwecken sie den Eindruck einer gedrillten Armada: willenlos, ausdruckslos, farblos. Aber so soll es scheinbar sein, wenn jemand dahingerafft wird. Ich weigere mich, „uns verlässt“ zu sagen, da man ja nicht bloß durch eine irdische Tür geht, sondern durch d i e Tür überhaupt. Die Tür zwischen den Welten. Und das meist nicht freiwillig.
Es war noch nie jemand bei uns zu Besuch. Nur Hilde kam regelmäßig. Sie bestand immer darauf, als Pflegerin gesehen zu werden. Es missfiel ihr, wenn ich abwertend über ihren Aufgabenbereich sprach. Dabei bin ich der Überzeugung, dass s i e es war, die meine Großmutter jahrelang ums Eck bringen wollte. Und letztendlich hat sie sich sicherlich auch einen fetten Anteil von Omas Hinterlassenschaft erwartet. Vielleicht hat sie auch ausgesorgt, i c h habe zumindest noch nichts von Omas Geld gesehen.
Die engen Räumlichkeiten triefen förmlich vor menschlichem Atem. Auch wenn das alles sehr aufregend und neu für mich ist, wünsche ich mir doch irgendwie, dass die Besucher wieder gehen.
Die Leute, die da sind, habe ich großteils noch nie zu Gesicht bekommen. Auch wenn sie sich vorstellen und zu erläutern versuchen, wer wessen Bruder oder wessen Vater ist, dessen Schwester die Tante von soundso war, stimuliere ich meine Mundwinkel zu einem verzogenen Lächeln und gehe weiter. Mit Menschen reden war noch nie meine Stärke. Mich verstellen jedoch schon.
Jetzt, nach einem weiteren ostentativen Lächeln meinerseits, dessen Falschheit mir bewusst ist, höre ich kurz darauf hinter meinem Rücken die Worte: „Auch wenn es ein großer Schock für sie gewesen sein muss, scheinbar ist sie so freundlich wie eh und je!“. Als ob mich diese Leute je zuvor gesehen hätten. Eigentlich will ich ja darauf hinaus, dass ich mich nur mit meiner Oma gut unterhalten konnte. Vor allem als sie in diesen Dämmerzustand verfiel. In jenen Zeiten musste ich Hilde regelrecht aus dem Hause jagen um mit Oma ungestört allein sein zu können. War das erledigt (und es konnte schon mal eine halbe Stunde dauern, bis mein Geschrei Hildes Nervenenden erreichte), setzte ich mich immer auf Omas Schoß, so wie früher, und fing an zu erzählen. Ich erzählte ihr von all den Dingen, die ich so erlebte. Von all den Leuten, die ich traf. Sie saß immer ganz still da, eingesunken in das lasche Kissen ihres Schaukelstuhls, und starrte auf die Wand mit den alten Gemälden. Ich merkte förmlich, wie sie sich in meine Erlebnisse hineinversetzte. Manchmal nickte sie sogar, um mich zu ermuntern weiter zu sprechen. Ich denke es machte ihr nichts aus, dass das meiste erfunden war. Immerhin war ich sehr überzeugend und teilweise selbst im Glauben, all dies wirklich erlebt zu haben.
„Wie ich von Frau Hilde höre, spielen Sie Cello.“ Eine steif gekleidete Frau mittleren Alters zupft an meinem Ärmel. Bevor ich überhaupt reagieren kann, fordert sie mich schon auf, etwas vorzuspielen. Plötzlich sind alle Blicke auf mich gerichtet. Ich schaue in die Runde. Ein reifer Herr pafft an seiner Zigarre, eine gebrechliche alte Frau versucht ihren Stock neben dem Sofa abzustellen, auf dem sie Platz genommen hat, ein Hund streift meine linke Wade. Für kurze Zeit fallen meine Augen zu. Ich stelle mir vor, wie ich all das meiner Oma schildern würde. Da sehe ich wie mir die Leute Platz machen, neugierig auf meinen Instrumentenkasten blicken, um das von mir herausgeholte Cello zu bewundern. Es funkelt wie nie zuvor. Langsam und selbstsicher setze ich mich auf einen Stuhl, den man für mich frei gemacht hat. Im Zentrum des überfüllten Wohnzimmers. Ich merke, dass meine Hände nicht einmal zittern. Unter dem andächtigen Lauschen aller, selbst der tauben älteren Herrschaften, und trotz des Gekläffs zweier Schoßhunde, entlocke ich dem Stück Holz, das mir der liebste Gegenstand ist, wie du ja weißt, Oma, die wunderbarsten Töne, die diese farblosen Pinguine je gehört haben.
Als ich am Ende meiner Konzentrationsphase wieder vom Boden aufblicke, sehe ich in den Augen der versammelten Trauergemeinde aufrichtige Begeisterung aufblitzen. Sie ist wirklich da. Die unerwartete Übereinstimmung von Wunschdenken und Realität ruft einen sanften Druck in meiner Magengegend aus, und lässt mich hurtig ins Badezimmer laufen.
Solch ein Gefühl hat mich schon lange nicht mehr überkommen. Das letzte Erlebnis von ähnlicher Bedeutung liegt zwei Monate zurück. Es war an jenem Tag, an dem Paul meinen Brief gefunden und gelesen hat. Dem Brief waren allerdings noch einige Ereignisse vorausgegangen. Ungefähr ein Jahr zuvor hatte ich entdeckt, dass mein bester Freund aus Kindertagen, David, noch immer am Leben ist und sogar in meiner Nachbarschaft lebt. Er hat sich kaum verändert, ist ein wenig älter geworden und jetzt so um die sechzehn Jahre alt. Dafür trägt er einen neuen Namen, Paul Finn. Weshalb er diese Tarnung gewählt hat und sogar umgezogen ist, konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen. Ich vermutete, dass er eines unserer Spiele von damals fortführte und meine detektivischen Fähigkeiten auf die Probe stellen wollte. Ich nahm die Herausforderung gerne an, zumal es Oma liebte, von David, der jetzt Paul hieß, zu hören. Die erste Begegnung mit David seit fünfzehn Jahren spielte sich folgendermaßen ab:
An einem heißen Sommertag spazierte ich die Hauptstraße unseres kleinen Örtchens entlang, nachdem mich Hilde wieder einmal aus dem Haus getrieben hatte, mit der Bemerkung, ich sähe wie eine Leiche aus und solle endlich an die frische Luft. In meinem Ohr pulsierte eine ganze Weile über eine Melodie, die ich häufig auf dem Cello spielte. So verloren in ihren Klang, der sich an meinen Herzschlag schmiegte, bemerkte ich nicht, dass auf dem gegenüberliegenden Gehsteig ein Radfahrer stürzte. Erst als ich die Lider hob, die ich in gewohnter Manier auf den heißen Asphalt unter meinen Füßen fixiert hatte, entdeckte ich eine kauernde Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite. Sie wirkte hölzern, drahtig und unbeholfen. Noch dazu war sie mit einem Fuß unter das Fahrrad geraten und versuchte diesen mit der Kraft beider, sehr schmächtiger (wie ich anmerken muss) Arme zu befreien. Die Zähne fest zusammengebissen, riskierte der junge Mann mit dem schwarzen Wuschelhaar, das mich sofort an David erinnerte, nur einen kurzen flüchtigen Blick in meine Richtung um danach laut aufzusäufzen und mit schiefer Miene die Ankunft weiterer Jungs auf Fahrrädern hinzunehmen, die scheinbar umgekehrt waren um ihm zu helfen. Sie ordneten sich rund um ihn an und versperrten mir die Sicht. Gelächter war zu vernehmen und ehe ich mich darauf einstellen konnte, stand der Junge auch schon auf und schwang sich auf sein Fahrrad. Seine Kumpels radelten voraus, er hingegen fuhr mit einem sichtlich geröteten Knie langsam und unsicher hinterher. Noch einmal sah er in meine Richtung, mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, als ob er sagen wollte: Wieso musstest du mich in dieser misslichen Lage sehen?! Ich lächelte nur sanft und ermunternd, worauf er errötete und den Tritt in die Pedale beschleunigte. Es war mir unbegreiflich, wie ich David so lange Zeit in unserer Nachbarschaft hatte übersehen können. Unser Aufeinandertreffen war nun ein Ansporn für mich, öfter als gewohnt das Haus zu verlassen. Allerdings musste ich mir allerlei Tricks einfallen lassen, um Hilde während meiner Abwesenheit trotzdem noch unter Kontrolle zu halten. So klemmte ich Kartonstücke zwischen die Schranktüren, um in Erfahrung zu bringen, ob sie nicht doch das Herumstöbern in fremden Kästen zu ihrem Aufgabenbereich zählte.
Eine Woche nach dem Fahrrad-Vorfall entdeckte ich David, wie ich den Jungen damals noch aufgrund seiner Haarpracht insgeheim nannte, im Bus. Er fuhr scheinbar, wie ich, zurück nach Hause, hatte sogar eine Trainingstasche mit dabei. An dieser baumelte eine Beschilderung mit der Aufschrift „Paul Finn. FC Lothburg“. Bei näherer Betrachtung von Pauls Gesicht stellte ich fest, dass es sich hierbei tatsächlich um einen reiferen David handelte. (Ein Mann war in all den Jahren noch immer keiner aus ihm geworden.)
Ich beschloss, ihm unauffällig zu folgen, um zu erfahren, wo er momentan wohnt. Er durchschritt ein wackeliges Gartentor, das zu einem der ältesten Anwesen unserer Gegend gehörte. Ein großes weißes Pflaster, das das Sonnenlicht reflektierte, zierte sein rechtes Knie.
Pauls Heim lag nur drei Straßen von unserem Haus entfernt. Diese Neuigkeit stimmte mich sehr zuversichtlich. Nachdem er in der Eingangstür verschwunden war, spähte ich noch auf den Briefkasten. Der Name Finn thronte dort in altgotischer Schrift.
Zuhause angekommen, kontrollierte ich zuerst die Schränke. Natürlich waren die meisten Kartonstückchen auf dem Boden gelandet, auch innerhalb der Kästen herrschte Unordnung zwischen den von mir sonst peinlichst genau geordneten Kleidungsstücken. Hilde konnte ihre Finger eben nicht von fremden Sachen lassen. Zwischen meinen roten Blusen entdeckte ich sogar ein verschimmeltes Stück Brot.
Nach den Strapazen der Busreise war ich jedoch nicht mehr in der Lage, Ordnung zu schaffen. Ausserdem machte sich Oma schon im Schaukelstuhl bemerkbar – ihre Augen sprachen Bände – und so eilte ich zu ihr um ihr die Nachricht von Davids Verwandlung in Paul zu erzählen. Ich kuschelte mich an ihre luftige Bluse und hörte, wie sich ihr Herzschlag veränderte, als ob sie genau verstanden hätte, dass die Geschichte von Paul keine Erfindung war. Ich war froh darüber, dass wir uns gemeinsam an meinen Fortschritten im Leben erfreuen konnten.

Als ich aus dem Badezimmer komme, beschließe ich für mich, dass ich von der Trauerfeier genug habe. Ich bereite mich geistig darauf vor, alle Leute zu bitten, unser Haus zu verlassen. Oma würde es bestimmt auch so wollen. Doch als ich mich einige Schritte auf die Menge zu bewege, ergreift eine ältere Frau meinen Arm und zerrt mich in eines der Speisezimmer. Gleichzeitig lassen wir uns auf ein Sofa fallen. Mein Fall wird vom Druck, den ihre Hand auf mein Handgelenk ausübt, gesteuert. Sie grinst mich glückselig an und meint: „Sie spielen wunderbar. Es ist ein trauriger Anlass, aber im Grunde haben wir nie etwas so Schönes aus Ihrem Kreise der Familie gehört. Ihre Großmutter hat sich ja ihr ganzes Leben lang von uns abgewendet, müssen Sie wissen, Kind. Aber Sie haben es nicht nötig. Sie haben eine besondere Gabe, die Sie mit anderen teilen sollten.“ Ich blicke in ihre hypnotischen, eisblauen Augen, die aus Unmengen von Fältchen zu mir herausstechen. „Ich habe jahrelang am Konservatorium von G. gearbeitet. Mein Mann und ich, wir könnten etwas arrangieren.“ Sie redet noch eine Weile auf mich ein. Ich bin wie gelähmt, als mir bewusst wird, dass diese Frau eine Veränderung meines bisherigen Lebensablaufs bezwecken will. Übermannt von Schrecken und nie gekannter Hoffnung, versuche ich zu lächeln. Es ist ein ehrliches Lächeln, doch es kommt mir so vor, als wirke es gekünstelt. Die ältere Frau lächelt auch. Wie freundlich doch all diese Leute sind. Manche von ihnen gehen an uns vorüber und nicken, andere nähern sich um mir, ermunternde Worte flüsternd, auf die Schultern zu klopfen. Nur kurz huscht Hilde an uns vorüber, gebeugt, mit einem Tablett in der Hand. Niemand beachtet sie.

Im Grunde hätte ich tatsächlich fast mit dem Cello Spielen aufgehört. Als Oma noch voll zurechnungsfähig war, hatte sie mir verboten, das Instrument zu benutzen. Teilweise hatte ich mich daran gehalten. Doch nach ihrem Unfall füllte meine Musik die Stille, die im Haus eingekehrt war. Wenn mich besondere Lust überkam, schlich ich mich einfach in mein Zimmer und verriegelte die Tür. Dort spielte ich dann so laut und exzessiv wie ich wollte. In letzter Zeit hatte ich Oma jedoch so viel zu erzählen, dass mein Cello ein wenig in den Hintergrund rückte. Die Geschichte mit Paul ließ in unser beider Adern das Blut mit frischer Energie zirkulieren.
Durch ihn hatte ich seit langer Zeit wieder das Bedürfnis, meine Abende zum Ausgehen zu nutzen. Hilde hatte dies mitbekommen und verschaffte sich mit ihrem Zweitschlüssel vermutlich auch häufig Zutritt zu Oma, wenn sie sah, dass ich außer Hause war. Es fiel mir schwer diesen Gedanken, der mein Bewusstsein belastete, zu verwerfen. Trotzdem waren mir zu jener Zeit meine eigenen Sinneswahrnehmungen wichtiger als die Bestätigung dessen, was sich möglicherweise in unserem Haus abspielte.
So krabbelte ich nun jeden zweiten Abend durch ein Loch im Zaun der Finns in Pauls Garten. Die Öffnung war nur klein gewesen, deshalb hatte ich bei meinem zweiten Besuch eine alte Zange, die ich auf unserem Dachboden gefunden hatte, mitgenommen, um mir ein würdiges Tor zu reißen. Im wild bewachsenen Garten angekommen, setzte ich mich, von Gebüsch und Geäst teilweise verdeckt, ins Gras. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ich den idealen Platz gefunden hatte. Von hier aus war es mir möglich, zu Pauls Fenster hinauf zu blicken. Manchmal konnte ich erkennen, wie er seine Nachtischlampe aus- oder einschaltete. Ab und zu nahm ich ein Buch und eine Taschenlampe mit und las die Kindergeschichten, die mich und David früher so fasziniert hatten, halblaut in den Garten hinein. Erst wenn alle Lichter aus waren und das Haus der Finns in Dunkelheit versank, brach ich nach Hause auf. Meistens saß ich noch bis vier Uhr früh auf Omas Schoß und erzählte ihr von meiner Nachtwache in Pauls Garten. Ich liebte diese Nächte. Wenn der Mond durch Omas Fenster direkt in ihre Augen schien, erstrahlten ihr Interesse und ihre Anteilnahme in noch größerem Glanz.
Im Frühling diesen Jahres tauchte Hilde jeden Tag bei uns auf. Sie erweckte den Eindruck, besorgt wirken zu wollen. Ständig tänzelte sie um Oma herum, brachte komische Gerätschaften aus dem Krankenhaus mit, wirkte angespannt und ließ häufig einen ihrer düsteren Blicke auf mir ruhen. Ich ahnte, dass sie etwas vorhatte, deswegen fiel es mir schwer, sie tagsüber aus den Augen zu lassen. Diese neue Situation wirkte sich auf meinen Tagesrhythmus aus. Ich stand nun jeden Tag um fünf Uhr früh auf, um noch vor Hildes Ankunft alle Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, alle Schränke noch einmal zu überprüfen und zu ordnen, um dann jegliche Veränderung besser erkennen zu können. Dieser neue Lebenstrieb veranlasste mich nun dazu, mich Paul ausschließlich abends zu widmen, bei der Nachtwache in seinem Garten, die nicht selten um Mitternacht endete. Da Oma jedoch in dieser für uns wichtigen Angelegenheit auf dem Laufenden gehalten werden wollte, blieb ich bis zwei Uhr früh in ihrem Schaukelstuhl und schlief dort, nachdem ich alles bis ins Detail erzählt hatte, meistens auch ein. Es war ein Balanceakt. Der Preis für meine Sicherheit. Ich behielt Hilde im Auge und machte gleichzeitig Fortschritte mit Paul. Wenn mir morgens eine bleiche Gestalt aus dem Spiegel entgegenstarrte, versuchte ich mir einzureden, die Blässe stünde mir ausgezeichnet und würde bald verschwinden, wenn ich erst mit Paul durch seinen Garten toben würde.
Eines Nachts beschloss ich im Garten der Finns für Paul zu beten. Nicht dass ich ein gläubiger Mensch wäre, obschon ich getauft bin. Ich hatte Hilde neben Omas Stuhl sitzen und mit gefalteten Händen beten sehen, und so schien es mir einleuchtend, dass auch Paul ein Gebet verdiene. Doch für ihn musste es schon ein bisschen mehr sein. So packte ich vier Kerzen und Streichhölzer in einen Rucksack und gestaltete einen kleinen Altar aus Ästen und Zweigen auf meinem Beobachtungsplatz unter seinem Fenster. Die roten Kerzen stellte ich exakt nebeneinander auf und zündete sie an. Es war wahrlich eine große Feierlichkeit. Das Haus der Finns ragte dunkel und träge vor mir in die Höhe. Ich hatte mein elegantes Kleid angezogen und fühlte mich wie eine echte Priesterin. Die ganze Atmosphäre hatte mich so eingenommen, dass aus dem anfangs geflüsterten Gebet bald eine laute Lobeshymne für meine Freundschaft mit Paul wurde. Indem ich mich aus der Hocke erhob, durchbrach ich die Deckung, die mir das Gebüsch rundum gegeben hatte. Ich war so aufgeregt. Ich war so stolz. Ich hatte eine Gänsehaut, der Mond schien und dann wurde mir so warm.
Ich wusste, dass Paul auf mein Gebet antworten würde. Seine Reaktion kam alsbald. Die Nachtischlampe in seinem Zimmer wurde angeknipst. Kurz später taumelte eine schlacksige Figur zum Fenster. Ich kochte. Mein Herz pumpte wie wild. Paul drückte sein Gesicht an die Scheibe. Ich starrte ihn an und sah wie seine Augen glühten. Ich blickte zu meinem Kleid herab. Funken sprühten rund um mich, ich war wie aufgeladen. Ich sah wie sich Worte auf seine Lippen drängten. Er rief mir etwas zu. Dann drehte er sich um. Jemand war noch in seinem Zimmer. Ich erschrak. Schon setzte ich mich in Bewegung. Meine Füße trugen mich in die dunkelste Ecke des Gartens, hin zu meinem Ausgang. Leicht und flink streifte ich die Zweige, Blätter schmiegten sich an mein Haar. Nur am Rande vernahm ich Geschrei: „Feuer, Feuer!“

Die eisblauen Augen sind auf mich gerichtet. Knochige Finger umklammern meinen bleichen Handrücken. „Sie sind noch jung. Und was haben Sie zu verlieren? Wie ich höre, haben Sie noch keine konkreten Zukunftspläne. Ich würde es nicht darauf anlegen, in ein paar Jahren auf der Straße zu landen, wo doch solch ein Potenzial in Ihnen steckt!“ Ich entreiße ihr meine gequetschte Hand. „Wissen Sie, das ist nicht so einfach...ich bin sehr beschäftigt...“ deute ich an. Die Dame hebt ihre spärlichen Augenbrauen. „Ach ja? Sehen Sie, das Konservatorium würde Sie auf neue Gedanken bringen. Frau Hilde meint, es wäre besser für Sie, wenn Sie nicht ständig in diesem Haus weilen würden. Es ist nicht gut für Sie. Und jetzt, wo Sie ihre Großmutter verloren haben, hält Sie doch nichts mehr hier.“ Ach, so ist das! Frau Hilde. Die will wahrscheinlich das Haus ausräumen während mich Leute, die ich noch nie zuvor gesehen habe, in ein Konservatorium stecken. Und ob mich hier etwas hält! Was ist mit Paul!? Ich kann ihn doch jetzt nicht verlassen, wo wir doch gerade erst zueinander gefunden haben!

Zwei Tage nach der feierlichen Messe in seinem Garten beschloss ich, ihm reinen Wein einzuschenken. Jetzt, wo er mich auf seinem Grundstück gesehen hatte, hielt mich nichts mehr zurück. Ich schrieb ihm einen Brief, in dem ich erklärte, dass ich seinen Plan entschlüsselt habe und nun weiß, wer er wirklich ist. Zusätzlich verfeinerte ich den Brief, wie es sich gehört, mit ein paar Anekdoten aus gemeinsam durchlebten Kindertagen. Das würde ihm endgültig die Augen öffnen. Den prallen Umschlag steckte ich abends in den rostigen Briefkasten vor dem Anwesen und machte mich gleich wieder auf den Weg nach Hause.
Hilde kam mir im Vorzimmer entgegen, wies mich an, regelmäßig einen Blick auf Oma zu werfen, sie sei nicht stabil. Dann steckte sie mir einen Zettel zu und murmelte etwas von Zeitmangel. Sie wirkte zerknirscht. Wahrscheinlich hatte sie mich nicht so früh zurück erwartet. Ich würde auch diesmal eine sorgfältige Kontrolle durchführen müssen.
Als ich Omas Zimmer betrat, fand ich sie nicht wie gewohnt in ihrem Stuhl. Sie lag, flach wie ein Blatt Papier, in ihrem Bett. Obwohl sie mit der Wand um die Wette starrte, fiel mir ihr neugieriger Blick sofort auf. Ich fühlte, dass sie auf Neuigkeiten wartete, doch jetzt wo alles so gut lief, wo Paul und ich uns tatsächlich näher kamen, wollte ich es für mich behalten. Ich erzählte ihr also nichts vom Brief, warf ihr bloß einen spöttischen Blick zu um zu verdeutlichen, dass es bei mir nichts für sie zu holen gab, und ging in mein Zimmer um Cello zu spielen. Hildes Zettel muss ich auf dem Weg durch das Haus irgendwo liegengelassen haben.
Am nächsten Tag konnte ich die Spannung kaum aushalten. Ein wenig unsicher war ich noch, ob ich Hilde mit Oma und dem Inventar alleine lassen sollte, doch an diesem Vormittag kam sie nicht, und so lief ich gleich zum Briefkasten der Finns. Er war leer! Ich lachte Tränen, drehte mich vor Freude im Kreis, und sprang auf der Bordsteinkante vor Pauls Haus auf und ab. Ich riss eine der Blumen, die sich durch Öffnungen im Zaun ihren Weg in Richtung Straße bahnten, aus und steckte sie mir ins Haar. Alle Zweifel waren verworfen, Paul hatte meinen Brief.
Strotzend vor Energie kam ich dann auch zu Hause an, um bald darauf die in Tränen aufgelöste Hilde anzutreffen. Ich konnte ihr Schauspiel nicht ertragen. Einen kurzen Blick warf ich in Omas Zimmer, konnte sie jedoch nicht erblicken, weil man sie von Kopf bis Fuß mit einem Leintuch bedeckt hatte. Ich hätte ihr ja sowieso nie wieder etwas erzählt. Ich war jetzt viel zu beschäftigt. Mein Leben hatte endlich angefangen. Endlich hatte ich es im Griff. Ich schloss die Tür und ging Cello spielen.

„Nein, danke. Ich denke, das ist keine so gute Idee.“ Ich unterbreche die Frau vom Konservatorium und mache Anstalten zu gehen. Sie starrt verwirrt zu mir empor, als ich mich vor ihr aufstelle und in ruhigem, aber bestimmten Ton sage:
„Ich werde keine Zeit mehr für das Cello haben. Sie müssen wissen, ich habe David wiedergefunden. Das Konservatorium ist nichts für mich, ich will mein Leben anders gestalten. Und ich muss jetzt damit anfangen. Ich muss jetzt wirklich gehen, um an Pauls Tür zu klopfen!“
 
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Kommentare  

erstmal vielen dank für eure kommentare!
es freut mich, hier so verschiedene ansätze zu lesen, denn die geschichte war u.a. auch darauf ausgelegt, den leser bzw. seine phantasie zu fordern und ihm eigene interpretationen abzuverlangen.
@Tom: du liegst mit deiner sicht der dinge schon seeehr nahe an meiner persönlichen
version/(wahrheit?) ;-)).
@little arithmetics: gut, dass du den zwiespalt zur sprache bringst, der punkt war mir sehr
wichtig. die protagonistin sollte nicht ausschließlich eine positive identifikationsfigur
darstellen...und auch das ende ist wohl ansichtssache. also nochmal vielen dank für eure zeit und die eindrücke! wie's aussieht, hat die story ihre leser gefunden...


Orphne (13.09.2003)

tut mir leid, hab' unten meinen Namen vergessen...

Little Arithmetics (13.09.2003)

wow wie geil! Ich schwanke zwischen tiefer Sympathie und tiefer Abneigung für deine Protagonistin. Sehr gut beschrieben, wie sich die innere und die äußere Welt unterscheiden und man sich zwischen ihnen verlieren kann.

 (13.09.2003)

Hmm, ich weiß nicht, ob meine Vermutung richtig ist, aber es kommt mir so vor, als hätte deine Hauptperson Wahnvorstellungen. Die Oma, die im Wachkoma ist und doch so deutlich zuhört. David, der nur zur Tarnung Paul heißt und den sie so zweifellos erkannt zu haben glaubt. Für den sie Nächte durchwacht und betet und brennt. Auch die Kälte, mit der Sie den Tod der Oma hinnimmt wirkt nicht normal. Selbst ihre Sicht von Hilde könnte man anzweifeln.Von dieser Seite betrachtet wirkt die Geschichte sehr bedrückend.
Der Schreibstil gefällt mir sehr gut, ist angenehm ausschweifend. Die Story ist hintergründig, facettenreich, man muß sich damit auseinandersetzen.
Eindeutig fünf Punkte!


Tom (07.09.2003)

Hat mich ein klein wenig an die fabelhafte Welt der Amelie erinnert.... war das vielleicht ein wenig Inspiration hierfür? Es ist ein wenig traumtänzerisch, vom reinen Schreibstil her drei Punkte wert.... da mir während der ganzen Story nicht klargeworden ist wo das liegt, was dem Leser mit dieser Story gesagt werden soll (denn es ist zweifellos keine bloße Kurzweil), bleibt es auch bei drei Punkten.

Grüße vom Grafen!


Graf Zahl (04.09.2003)

Was soll ich sagen? Ich bin ziemlich, ziemlich begeistert. Noch keine Story hier hat mir dermassen beeindruckt, in den Bann gezogen und wird mir nachhaltig in Erinnerung bleiben wie diese. Ich wüsste nichts zu kritisieren. Sie ist supergeschrieben und die Geschichte an und für sich ist wunderschön. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich sie traurig oder als happyend verstehen soll. Irgendwie hat sie es nun endlich gerafft, dass sie etwas tun muss, wenn sie leben will, andererseits wenn Paul schon eine Freudin hat, oder sie nicht besonders mag (ist ja bisher eine doch recht einseitige Beziehung) könnte sie damit alles verspielt haben, das ihr bisher etwas bedeutet hat.
Nein, echt eine Wahnsinnsstory!!


kleiner möchtegernpoet (26.08.2003)

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