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5 Seiten

Die Bedrohung

Schauriges · Kurzgeschichten
© Aphril
Der Regen prasselte auf die vor Nässe glänzenden Straßen hinab und der Wind peitschte Tim das Wasser hart ins Gesicht. Regentropfen rannen ihm die Wangen und den Hals herunter und tropften in den Kragen seines schwarzen, triefnassen Hemdes. Sein brauner Mantel blähte sich geisterhaft hinter ihm auf, als er die Straße entlang rannte.
Tim warf einen gehetzten Blick über seine Schulter, aber das spärliche Licht, das die vereinzelten Straßenlaternen spendeten, ließ ihn nicht das Geringste erkennen, nur Schemen und Schatten, die sich um die Lichtkreise der Straßenlaternen scharrten. Er floh weiter die Straße entlang, der Mantel flatterte hinter ihm leise im Wind, wie eine riesige, dunkle Flagge, aber plötzlich umfing er Tims Beine und Tim stolperte, spürte, dass er das Gleichgewicht verlor.
Er machte ein, zwei hektische Schritte nach vorne, um den Sturz abzufangen, aber es war bereits zu spät. Er knickte schmerzhaft mit dem Knöchel um, landete unsanft auf den Knien und rutschte über den Asphalt, schürfte sich dabei Hände und Beine auf und schlug mit dem Kinn hart auf das Kopfsteinpflaster.
Der tobende, brennende Schmerz durchzuckte Tim wie ein Stromschlag; er verzog gequält das Gesicht und richtete sich langsam, wie in Zeitlupe, wieder auf. Zaghaft hob er die rechte Hand an sein Kinn und befühlte es; er musste sich mindestens einen Zahn ausgeschlagen haben, wenn nicht mehrere, und hatte den Geschmack von warmem, süßem Blut im Mund. Angewidert spuckte er aus und betrachtete resigniert seufzend seine blutigen, mit Schürfwunden übersäten Hände.
Plötzlich beschleunigte Tim seine Schritte wieder, sah sich immer wieder um und hastete weiter, ohne sich weiter um seine Verletzungen zu kümmern. Er folgte einfach der Straße, den Blick zu Boden gerichtet und lauschte auf fremde Schritte. Aber er hörte nur seine eigenen.
Wo war er, sein Verfolger? Wo war dieses ... Monster?
Tim spürte, dass das Regenwasser mittlerweile in seine Schuhe eingedrungen war; ein saugendes Geräusch erklang bei jedem seiner Schritte und seine Zehen wurden klamm und steif. Seine pechschwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht, klebten an seiner Stirn und er war durchnässt bis auf die Knochen. Er fror erbärmlich und begann nun, am ganzes Leib zu zittern, verlor immer mehr an Geschwindigkeit, bis er schließlich vollends stehen blieb und sich umwand.
Die roten Augen waren nicht mehr da, sie waren einfach verschwunden.
Tim drehte sich stockend um sich selbst, aber nirgendwo konnte er die schwarze Gestalt entdecken, vor der er panisch die Flucht ergriffen hatte. Er schüttelte ungläubig den Kopf und stellte entsetzt fest, dass er nicht wusste, wo er war. So schnell, wie er versucht hatte davonzukommen, hatte er gar nicht gemerkt, dass er sich mittlerweile in einem Viertel befand, in dem er noch nie zuvor gewesen war. Nach einem kurzen Zögern drehte Tim sich wieder um und setzte seinen Weg langsam in die Richtung fort, in die er gelaufen war, um der unheimlichen Bedrohung zu entrinnen.
Die Stadt war wie ausgestorben. Dass ihm niemand auf den Straßen begegnete, wunderte ihn um diese Uhrzeit nicht, aber alle Häuser waren dunkel, die Vorhänge zugezogen und kein Geräusch zerbrach die mysteriöse Stille. Nur seine leisen Schritte hallten in den leeren Straßen wider.
Wo war er?
Plötzlich bemerkte er, dass die Häuser nicht mehr so nahe beieinander gebaut waren, wie es sonst üblich war, und Tim wurde klar, dass er sich dem Stadtrand näherte. Er wollte einen letzten Blick zurückwerfen, als er es sah: Ein pechschwarzer Fleck - mitten im Lichtkreis einer Straßenlaterne, vielleicht 80 oder 90 Meter entfernt. Und der Schatten schien sich auf Tim zuzubewegen, langsam zwar, aber stetig.
Ein Schatten. Eine Silhouette. Die Silhouette eines riesigen, bärenhaften Wesens mit glühenden, blutroten Augen, von dem sich Tim schon seit Tagen verfolgt und beobachtet fühlte und weswegen ihm der Hals trocken wurde vor lähmender Furcht, wenn er an diesen Schatten dachte, der stets zugegen war, wenn Tim alleine - hilflos, schutzlos - war...
Tim schluckte, drehte dem Schatten zitternd den Rücken zu und setzte seinen Weg mit erzwungener Ruhe fort. Die Häuser verschwanden und wichen einem kleinen Waldstück, das vor ein paar Jahren vor der Stadt angelegt worden war. Ohne lange zu überlegen, verließ Tim die betonierte Straße und schlug einen holprigen, unwegsamen Waldpfad ein, um seinen Verfolger abzuschütteln.
Sein Atem ging schnell, langsam versagte seine Kondition und er wusste, er würde das Tempo nicht mehr lange aushalten. Tims Beine wurden mit jedem Schritt schwerer und seine Lunge schmerzte höllisch bei jedem Atemzug - er hatte das Gefühl, sein Brustkorb würde explodieren, der Druck wurde quälend, ja unerträglich, gleich würde er stolpern, er würde fallen, fallen ...
Dann würde alles vorbei sein, dann würde das Wesen ihn einholen - dann müsste er sterben. Müsste er das?
In Tim machte sich von einer Sekunde auf die andere eine alles überwältigende Wut breit, alle anderen Emotionen verschwanden restlos, die unbändige Furcht, die ihn bis vor einen Augenblick beherrscht hatte, wich einem tiefsitzenden Zorn auf diese Kreatur.
"Was habe ich dir getan, dass du mich jagst? Was habe ich dir getan? Antworte! Warum verfolgst du mich?" keuchte er atemlos, erregt vor Schmerz und Kälte und so wütend, wie er es noch nie in seinem ganzen Leben gewesen war. Er wollte laut aufschreien, aber schließlich wurde seine Stimme kläglich leise und versagte ihm den Dienst.
Niemand antwortete. Kein Laut, nichts.
Genau so wollten nun auch seine Beine nicht mehr weiter, sein Körper schien sich entschlossen zu haben, nun zu rebellieren und Tim war gezwungen, stehen zu bleiben. Er beugte sich lauschend vor und zuckte bei jeder Erschütterung zusammen; er stand jetzt flach atmend auf einer kleinen Lichtung.
Hinter sich hörte er die Schritte der fremden, feindlichen Kreatur. Der Erdboden schien unter jedem einzelnen seiner Schritte zu erzittern und Tim spürte, wie die Gefahr immer näher kam. Er hörte das knackende Geräusch von zerbrechenden Ästen und ein Vogel flog verschreckt auf, nicht mehr als dreißig Meter von ihm entfernt.
Tim begann erneut zu laufen, drehte sich immer wieder nach dem Fremden um. Panisch stolperte er über Wurzeln und abgebrochene Äste.
Warum musst du auch so spät nachts mit diesem Haufen Schrott unterwegs sein? schalt er sich selbst in Gedanken.
Nach einem Discobesuch war ihm das Auto auf der Straße liegengeblieben und plötzlich war Es da - als hätte man Es gerufen. Oder als hätte Es nur auf diese Chance gewartet. Tim wusste es nicht. Aber ehrlich gesagt, wollte er es auch lieber gar nicht wissen.
Der gesamte Wald war verstummt; es war, als würde er den Atem anhalten und lauschen, als würde er stumm auf das warten, was unausweichlich schien - das Zusammentreffen Tims mit seinem Verfolger und damit Tims Tod. Keine Eule gab ihr klagendes Geschrei von sich und nirgendwo lugte der Kopf einer Haselmaus aus einem Loch.
Tims Atem ging schwer, doch trotzdem versuchte er immer noch, sein Tempo zu steigern, Ihm zu entkommen. Tims Jäger war eine schemenhafte Gestalt, die ihn stumm und zielstrebig verfolgte, ohne Unterlass, grausam und still, wie ein drohender, lebendiger Schatten. Tim konnte noch nicht einmal sagen, ob er von einem Traum oder einem realen, lebendigen Monster verfolgt wurde. Er wusste nur eins: das Wesen hatte böse Absichten und würde die Jagd nicht einfach irgendwann aufgeben.
Hilfesuchend blickte Tim sich um: er konnte nichts entdecken, was ihm hätte helfen können, sich solch einer Gestalt zu erwehren. Nur Stöcke und Laub bedeckten den feuchten Waldboden. Er hatte ein schmerzhaftes Stechen in der Brust und wusste, dass er nicht mehr lange einfach nur fliehen konnte. Er bückte sich, um einen Knüppel aufzuheben, eine klägliche Waffe gegen etwas, das nur aus Schatten und rot glühenden Augen bestand, aber Tim hatte beschlossen, sich dem Wesen zu stellen.
Er, der sich vor seinen Freunden immer als so stark und mutig rühmte, würde nicht mehr länger weglaufen. Er wollte der Gefahr ins Auge blicken, selbst wenn das seinen Untergang bedeutete. Er hatte eine unheimliche Wut auf diese dunkle Bestie, die ihn verfolgte, und wollte sich nicht länger selbst demütigen, indem er floh wie ein kleines Kind, das es doch nicht besser wusste. Er stellte sich breitbeinig auf, mit dem Rücken zu einer gewaltigen Eiche und erwartete seinen Verfolger, zitternd zwar, aber entschlossen.
Doch die Sekunden vergingen, ohne dass das Wesen sich zeigte; Tim hörte es näher kommen, aber er sah es nicht. Oder war alles eine Sinnestäuschung? Vielleicht wurde er ja auch von niemanden verfolgt, vielleicht hatte er alles nur geträumt, sich in seiner ohnmächtigen Angst alles nur eingebildet. Für einen Augenblick zog er es ernsthaft in Erwägung, dass er bloß verrückt war, dass die Angst ihn Dinge glauben ließ, die nicht existierten, doch dann wurde ihm klar, dass es kein von der Angst erschaffenes Trugbild sein konnte, denn er fühlte keine Spur von Angst mehr, nur noch Zorn. Bodenlosen Zorn.
"Verdammt, zeige dich endlich, du Feigling!" schrie Tim; seine Augen funkelten in einem kalten Feuer und sein Herz raste - in diesem Augenblick tauchte ein riesiges, verschwommenes Gesicht vor seinem auf. Tim riss die Augen vor Schreck auf, spürte, wie die Furcht zurückkehrte und war wie gelähmt. Die Augen der Gestalt glühten für Sekunden blutrot auf, dann schrie Tim vor Schmerzen auf. Sein lebloser Körper sank lautlos zu Boden und nur der heisere Schrei einer Eule hallte durch die Nacht.
Der Wald atmete fühlbar auf, als die Kreatur ihm den Rücken kehrte und ihn verließ - ihre Arbeit war verrichtet.

Tim richtete sich abrupt in seinem breiten Doppelbett auf; neben sich sah er den schlanken Körper eines Mädchens, ihren Namen hatte er schon wieder vergessen. Aber er erinnerte sich dunkel daran, sie in der Disco kennen gelernt zu haben.
Er brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass er nicht tot war - dann brach er augenblicklich in Tränen aus und ließ sich zurück in sein Kissen sinken. Feine, silberne Streifen zogen sich über Tims Wangen, die Spuren seiner Tränen. Tim wischte sie gedankenverloren weg, aber sofort strömten neue nach.
Der junge Mann starrte an die Decke und weinte hemmungslos.
Alles war nur ein Traum ... Er zitterte vor Angst und schlang seine weiche Decke um seinen Körper, um sich zu wärmen. Er schluchzte.
Alles ... nur ein Traum ... lediglich ein Traum ...
Der Mond schien durchs Fenster auf Tim hinab und tauchte diese bizarre Szene in sein silbriges Licht, sanft, ruhig und gutmütig. Aber unten neben einer gewaltigen, uralten Eiche stand eine düstere, verschwommene Gestalt und blickte hoch, die rotglühenden Augen fest auf Tims Schlafzimmerfenster gerichtet.
 
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Kommentare  

hmmm... @chris stone: tim sieht das wesen draußen ja gar nicht, dh die frage stellt sich gar nicht...
..wer kennt das gefühl nicht, das gefühl, verfolgt zu werden, und dann das aufwachen mit einem schrecklichen herzrasen:D
gefällt mir ganz gut, aber erinnert mich an eine meiner stories (immer schön selbstkritisch bleiben!!!^^), in der einfach nur viel wind um nichts gemacht wird^^
naja ist aber ganz nett finde ich:)
lg darkangel


darkangel (09.02.2007)

Was ich damit meine ist folgendes: Tim erlebt die Bedrohung ja nicht wirklich, er träumt bloß. Dann wacht er auf und schaut aus dem Fenster. Dort sieht er etwas Verschwommenes mit rotglühenden Augen.
Mir stellt sich die Frage: Bildet er sich das nur ein? (Etwa so, als wenn man nach einem Horrorfilm in jeder Ecke einen Meuchelmörder vermutet.) Daher der Rat zu einem Psychiater.
Übrigens: Sind meine Kommentare wirklich so verwirrend? Sie sind von mir als Anregung und manchmal auch als Hilfestellung gedacht. Aber wer was nicht versteht, kann mir ja 'ne Mail schicken, dazu hinterlasse ich immer meine Adresse. Antwort ist garantiert.


Chris Stone (19.02.2005)

Vielleicht sollte Tim einen Psychiater aufsuchen.

Chris Stone (18.02.2005)

Angenehm zu lesende Kurzgeschichte ohne Mängel. Prima Aufbau, guter Schluß. 5 Pts

Dr. Ell (08.02.2004)

Spannend, wenn auch die Geschichte nur aus dem stetigen Rennen des Typen besteht. Der Schluss ist recht gut, sowie auch der gesamte Aufbau.
Vom inhaltlichen Aspekt eher mittel, aber ich gebe gut.


Redfrettchen (22.11.2003)

awesome dude!!!

waer vielleicht besser gewesen, nicht unbedingt "tim" als karakternamen zu waehlen, ich hab mich erstmal weggepackt...


INDER (26.09.2003)

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