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6 Seiten

Abigail

Fantastisches · Kurzgeschichten
© Lessy
(Dieser Text beschreibt Abigails Gedanken und Eindrücke während einer Unterhaltung mit Claudé, einem neugierigen, wissensdurstigen jungen Mann)

Ich soll dir also über mich berichten, sagst du. Meine Kindheit, meine Umgebung, in der ich aufwuchs, die ganze Historie dieser Zeit, meine Leiden und Lieben bis zu diesem Zeitpunkt, als ich aus dem sterblichen Leben trat und mir das mystische, unendliche in der Finsternis, die Dunkle Gabe, geschenkt wurde...DAS, willst du wirklich alles wissen? Ach, mein schöner Sterblicher, dessen Blut heiß und vergänglich ist, mit dem seidig-kastanienbraun schimmernden langen Haar, dass dir luftig leicht und sanft um deine Schultern wallt und einzelne, feine Strähnen dein jugendliches, erstaunlich reines und gebräuntes Gesicht, dessen Haut im silbernen Schein des abnehmenden Mondes gülden-matt glänzt, erstrahlen lassen und deine tief-blauen Augen, so blau und warm wie das Wasser des Ozeans, verbergen, aus denen du hervorlugst und mir selbstbewusst und mit stolz erhobenem Haupt gegenüberstehst - mit einem Bündel Papier in der einen Hand, deren feingliedrigen, langen Finger das Papier nur leicht umschließen mögen, und einer Tasche aus reiner Baumwolle, in der sich Dutzende von Tintenfässern in Königsblau und mehrere Füllhalter befinden, in der anderen. Mon chére, ich prophezeihe dir: es würde nicht eine Sekunde brauchen, nicht einmal ein Stück Papier benötigen, dass du mir freundlicherweise mitgebracht hast, bis meine gesamte Biographie geschrieben ist. Denn mein Leben - das sterbliche und nun dieses hier - ist nur in ein Wort zu fassen, dass du dir ausmalen kannst, wie du willst: die Hölle! Du denkst vielleicht - sowie jedes andere Wesen es auch tun würde - an diese \'eine\' Hölle, an die, in der der Satan Herr ist und unschuldige verstorbene Seelen quält, die es wagten, in sein dunkles Reich einzudringen, ihnen mit seinen langen, eisernen und glutenheißen Krallen fürchterlich schmerzende Wunden auf ihren unsichtbaren Leibern zufügt und sich diese Leid zu seiner eigenen Wohltat mit doppeltem Leiden und mit einem lauten, sarkastischen Lachen zurückholt...nein, soweit geht es nicht. Ich meine eher die \'Hölle auf Erden\'. Kannst du damit etwas anfangen? Nein...vielleicht auch doch...hör mir zu: Ihr sterblichen, tief emotional gebundenen Wesen: es gibt sicher viele arme Seelen unter euch, denen dasselbe Schicksal ereilte wie mir damals; dass sie keine wohlbehütete und schöne Kindheit hatten, nie diese Geborgenheit fühlten, nie Vertrauen und Liebe erhielten und empfanden...nichts von alledem. Was gibt es dann zu erzählen? Soll ich erzählen, wie geprügelt und geschlagen wurde, nachdem ich meine Arbeit nicht getan oder vollbracht hatte und welch schrecklich schmerzende und blutende Wunden und Flecke ich davontrug? Oder soll ich vielleicht erzählen, wie meine über alles geliebte Schwester Nele von unserem eigenen, leiblichen Vater misshandelt, wie Dreck angeschrien und gestoßen und sogar vor meinen bloßen und entsetzten Augen vergewaltigt wurde? Sag mir, mein lieber Claudé, der du immer noch in aufrechter und stolzer Haltung, ohne einen Funken Angst oder Unbehagen auszudrücken, vor mir stehst und mir vielfragende Blicke aus deinen schönen, blauen, runden Augen zuwirfst, ohne auch nur zu wissen, wie mies es mir in diesem Moment geht, als all diese verletzenden Erinnerungen erneut meine Sinne und meinen Verstand rauben - sag mir, was willst du nur wissen? Was bin ich schon? Ich bin mehr oder weniger nichts anderes als ein wandelnder, wiederauferstandener Leichnam, der ohne Ziel seinen unendlichen Weg durch die Jahrhunderte fortsetzt; eine arme Seele, zerissen, verzweifelt und vergewaltigt von der Einsamkeit und der Schuld und Pein, ein junger unsterblicher Mann, der nur diese sündige Ekstase, das heiße, süssliche Quell, das durch deine Adern fließt, genießen kann und so für einen Moment seine Gedanken und Erinnerungen, all die Sorgen und Leiden, vergessen und überwältigen kann...

\'Ja, Herr, erzählt mir alles über euch, erzählt mir über eure Familie, über Freunde. Es wird - ich glaube es - eine bewegende Geschichte, die mir einen Einblick in euer Leben gewährt.\' Oh, wie leuchten deine mandelförmigen Augen, umrandet von unzähligen, schwarzen, dichten Wimpern, die sich entzückt an den Lidern flink auf- und abbewegen; wie leuchten deine dunkelblauen Iris\', als du mir antwortestet. Eine bewegende Geschichte - allerdings. So bewegend und emotional aufwühlend, die dir zu verstehen gibt, wie grausam das verdammte Leben sein kann, wie herzlos und von Sünde eingeflochten das kranke Herz, dessen Atem nur noch schwach, ohne jegliches Gefühl, nach Leben haucht, der Menschen sein kann. Schweigen. Ich gebe dir keine Antwort. Nicht jetzt. Nachdenklich ruht mein Blick auf dir, er scheint durch den deinen wie ein Dolch, der das zarte Fleisch durchschneidet, zu dringen, vergeblich nach einer Antwort suchend... \'Gut...\', Ich höre meine eigene Stimme, wie sie verschwommen, kaum hörbar und gequält davon, dass diese Erinnerungen mich wieder einnehmen könnten - sekundenschnell laufen diese Bilder wie ein kompletter Film vor meinen Augen ab, wie in diesen heutigen \'Kinocenter\', in denen man eintritt und die Welt auf einer Leinwand sieht - und ich spüre wie meine Stimme durch jede einzelne Faser, jede Ader meines Leibes hallt, dir entschlossen und bewusst darüber, was ich nun tun werde, zu verstehen gibt, dass meine Antwort klar und deutlich \'ja\' sagt. \'Ich werde dir mein Leben, mein verlorenes Leben, auf diesen Papierrollen, die du mir mitgebracht hast, niederschreiben - jedes Detail, jedes noch so kleinste, sündige, süsse Detail meiner Taten und meiner Erlebnisse...alles!\' Die letzten Worte sprudeln unbewusst aus mir heraus, ja, ich hauche sie aus, tief aus meinem Inneren rinnen sie nun aus meiner Kehle. \'Übergib mir deine Papierrollen, ich werde sehen, wie weit ich es schaffe, ohne eine Gedenkpause einzulegen...\'. Mit einer der Situation entsprechenden Geste, deute ich mit meinem ausgestreckten Zeigefinger auf das Bündel, welches du noch immer sanft umschlossen hältst und es mir schon förmlich unter die Nase hältst. \'Ah, ich bin sehr erfreut. Ich lege es euch auf den Tisch, dort hinten in der Ecke, dann werde ich gehen. Ich denke nicht, dass ihr wollt, dass ich ich euch Gesellschaft leiste...\' \'Oh, es macht mir gar nichts aus, Claudé, wirklich nicht.\' Ich breche ab. Mir wird klar, dass ich während des Schreibens meine Ruhe haben möchte - nur so könnte ich mich nicht ablenken. \'Aber, mein lieber Freund, es wäre für mich einfacher, wenn du mich alleinlässt.\' Dein geheimnisvoller Blick ruht beruhigend auf den meinen; in diesem Moment fühle ich mich zu dir hingezogen, würde dich jetzt in meine Arme schließen und nie wieder loslassen wollen. In deinen ozeanblauen Augen spüre ich dein Verständnis, deine Zustimmung zu meinem Anliegen, doch spiegelt sich in ihnen auch leichte Enttäuschung- nur ein Funke, ganz wenig. \'Ist gut, mylord, nun, dann werde ich jetzt gehen.\' Flüchtig legst du die Papierrollen und die Baumwolltasche mit ihren Tintenfässern und Füllhaltern auf den Tisch, wolltest gerade auf dem Absatz kehrt machen, als du dich noch einmal wandtest und hinzufügtest: \'Ach ja, morgen, wieder hier um acht?\' Ich nicke schweigend, demonstriere mit einer schnellen Geste mit meiner Hand, dass du gehen sollst. \'Gute Nacht.\' Ach, herrlich wie du diese Worte ausgesprochen hast. Gehaucht hast du sie. Sanft, leise und doch spürte ich deine Männlichkeit, die nur von Selbstbewusstsein und Stolz sprotzt. Schweigend, ohne jeglichen weiteren Gedanken, ohne einer Regung auf meinem kalten, glatten Gesicht, sehe ich dir nach. Dein knielanger Mantel, der dem eines heutigen Spiones gleicht, grau und mit unzähligen Implikationen, wallt dir schwer an deinem Rücken hinterher, als du dich in gleichmäßigen Schritten und mit zu Boden geneigten Kopf zur Tür, die nur wenig geöffnet ist, sodass ein kleiner Spalt die letzten roten Strahlen der Abendsonne das Zimmer in einen warmen Farbton taucht, begibst. Nach jedem Tritt fliegen dir deine schulterlangen, kastanienbraunen Haare auf - so elegant, so schwerelos - und werfen dir erneut feine Strähnen ins Gesicht, die du dir mit deinen langen Fingern hinters Ohr streichst. Bis deine Hand hinter der Türklinke verschwindet, bis ich nur noch deinen dunklen, huschenden Schatten sehen kann, wende ich meinen Blick nicht von dir ab. Keine Sekunde verstrich, ohne dich unbeobachtet zu lassen. \'Nun, jetzt werde ich mich an die Arbeit machen...\'

Nach einer Weile liegt alles bereit, was ich fürs Schreiben brauche. Der auffüllbare Füllhalter mit königsblauer Tintenfarbe liegt fein säuberlich neben dem leicht gewellten weißen Schreibpapier, dass ich ausgerollt und glattgestrichen hatte, und wartet darauf, benutzt zu werden. Noch sammle ich meine Gedanken, starre nur regungslos auf das weiße Etwas vor mir auf dem rauhen Holz des kleinen Eichentisches, versuche, mich wieder daran zu erinnern, wie es war, als Sterblicher die Erde zu berühren und die warmen Strahlen der Sommersonne zu genießen. Es ist noch gar nicht lange her, doch scheint es mir eine Ewigkeit vorzukommen, wenn ich so darüber nachdenke. Allmählich fasse ich mich wieder und beginne zu schreiben, sehe zu, wie flink meine Hand über das Papier huscht und fein geschwungene Zahlen und Buchstaben darauf zaubert. Ja, da wirst du deine Geschichte haben, Claudé, hier wird bis morgen um acht alles blau sein, bis in die letzten Ecken dieser Bündel. Nun zur Erzählung...

Nahe Orleans im Winter 1851

Nass, wohin man sieht. Die ungepflasterten Straßen und Wege sind aufgeschwemmt und tragen große Pfützen vom strömenden Regen davon, der seit Tagen durch das Dorf wütet und in langen, kalten Linien hinab plätschert, sodass nicht einmal der beste und modernste Regenschirm diesem Wetter standgehalten hätte. Es ist nach vier Uhr nachmittags und die Umgebung mit ihren wunderschönen Eichen und Buchen, die die Straßen einsäumen und diesen ein mystisches und romantisches Flair verleihen, wirkt jetzt schon sehr dunkel und unheimlich - nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, allerdings wird dieser Eindruck von den schweren grau-schwarzen Wolken, die den sonst herrlich blauen Himmel verbergen, verstärkt. Ein richtiges Schmuddelwetter - das war das einzige Kommentar meiner Mutter, als sie mir in meiner Kindheit erzählte, an welchem Tag ich denn geboren wurde. Ja, das war es ganz sicher. Auch mein folgendes Leben würde von eisigem Regen geplagt werden, verursacht durch die Tränen erdenklichen Leides und Schmerzen, einsamer, stiller Trauer. Doch dazu später. Wenige Menschen tummeln sich vergnügt in den Gassen mit ihren unzähligen Boutiquen, ausgestattet mit den teuersten und edelsten Kleidern aus aller Welt: schöne, weitgeschnittene Roben, die gülden-rot leuchten, feine, maskuline Anzüge aus Satin und Seide und Rüschenblusen in aller Art und Farben, überwiegend in modischem Schwarz und Weiß. Hat man eine dieser Boutiqen betreten, entfaltete sich eine atemberaubende Atmosphäre, ganz anders als diese, von der man überwältigt wird, wenn man in die auffallend bunt geschmückten Schaufenstern lugt. Kerzen tauchten den meist weiten Raum in schummriges, orangenes Licht; intensiv warm erschien es und höchst angenehm. Und dieser Duft. Frische Orangen oder kostbare Vanille verwöhnten die feinen Nasen jener Leute, die sich in den Räumen vergnügten, Kleider anprobierten und sich mit den Inhabern unterhielten, mit den Gleichgesinnten Gespräche führten und mit vollen Einkaufstaschen die Boutiqe verließen und sich wieder dem nasskalten Regen opferten. Der Verkehr ist still. Bis auf die dumpfen Unterhaltungen der Menschen, die sich unter Regenschirmen oder Dächern vor dem unvergänglichen Regen schützen und ihre Wege durch das Dorf suchen, ist keine Kutsche unterwegs, kein Pferdegespann, was sonst nie eine Seltenheit ist, wenn die Sonne ihr warmes Licht erstrahlt und die Straßen passierbar sind. Die großen Häuser, die unmittelbar an den Straßen grenzen, sehen kahl aus. Nicht einmal ihre leuchtendsten Farben mögen den Himmel angenehm erhellen. Große, rechteckige und matschige Felder erstrecken sich über das hintere Land, wenn man von den Hinterfenstern dieser prächtigen, nostalgischen Häusern hinaussieht: Nichts anderes als Land, auf dem im Spätsommer gelber Weizen und Hafer wächst und die armen Bauern mit ihren treuen Ochsen die Felder für die nächste Saat pflügen, weit weit weg von ihren Stuben, in denen ihre fleißigen Großmütter und Mütter während der Abwesenheit ihrer Männer den Haushalt pflegen und deren Kinder mithalfen oder sich amüsiert mit den Hausschweinen im Schlamm spielen. Ja, es ist ein herrlicher Anblick, vor allem in der dem Ende geneigten heißen Jahreszeit, in der die Natur ein letztes Mal mit ihrer Schönheit prahlt und der glühenden Sonne Konkurrenz zeigt, bis nächstes Jahr alles wieder von vorne beginnt. Nun ist alles aufgeschwemmt, kleine Seen schimmern auf den Ackern und scheinen mit jedem Tropfen, der vom Himmel fällt, größer zu werden, drohen, dass fruchtbare Land wegzuschwemmen.

Inmitten dieser Felder, in einem dieser heruntergekommenen Bauernhäuser mit ihren großen Höfen und den Ställen, in denen Kühe, Pferde und Schweine hausen und fraßen, ertönt ein verzweifelter Schrei. Ein stöhnendes Lechzen dringt dumpf aus einer weiblichen Kehle - aus der Kehle meiner Mutter. Schweißgebadet und schmerzerfüllt liegt sie im harten Holzbett, ihre zarten Finger krallen sich fest in das weiße Leinentuch, auf dem sie liegt.

(fortsetzung folgt vielleicht ;-))
 
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joachim schulz (18.11.2003)

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