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3 Seiten

Kennt Ihr Cyrill?

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Nein? Nun, Ihr solltet ihn kennenlernen. Geboren in Argentinien von einer jetzt 90-jährigen Spanierin und einem verstorbenen Italiener, lebt er in unserem provencalischen Felsendorf. In seiner immensen Größe mißt er nur 158 Zentimeter.

Er ist voller Wärme und hat weder die Wärme seiner Mutter noch die einer anderen Frau jemals kennengelernt. Wenn man es wichtig fände zu erwähnen, daß er mulitkulturell ist, daß er sich auch in Italienisch, Spanisch, Deutsch oder natürlich in Französisch auszudrücken versteht, dann sage ich Euch, daß dies unwichtig ist. Denn er redet mit seinem Herzen und falls nötig mit seinen Händen. Er taucht in die Dinge ein und zerrt längst vergessene Bilder an die Oberfläche. Und manchmal denkt man, seine eigene Seele hält es nicht mit ihm aus. Das sind dann jene Augenblicke, wo man ihm Schutz in den eigenen Armen gewähren möchte. Aber er würde es nicht zulassen. Er zieht es vor, in unserem Dorf mißverstanden zu werden. Er weiß, daß man sich keine Mühe mit ihm geben will.

Eines Tages hat er versucht, den amtierenden französischen Präsidenten Jacques Chirac anzurufen: "Hier spricht Cyrill, ich möchte mit Jacques sprechen." " Monsieur, was ist Ihr Begehren?" "Nun, ich möchte von Jaques die Telefonnummer von Juan Carlos, seinem spanischen Kollegen haben." "Monsieur, der Präsident hält gerade seinen Mittagsschlaf. Aber warum wollen Sie die Rufnummer des spanischen Königs haben?" "Nun, man sagt, daß Juan Carlos eine Bezugsquelle für reinstes Kokain hat." Cyrill fand es sehr unhöflich, daß man die Leitung danach unterbrochen hat.

Ich freue mich sehr darauf, ihn heute zu treffen. Man sagt, der Nordhang des Luberon, an dem wir alle wohnen, hat es in sich.

Dann kam Cyrill den Berg herunter zu mir. Er humpelte. Wortlos setzte er sich mir gegenüber an den Tisch vor meinem Haus. Unsere Blicke begegneten sich, bis ich eine Frage fand: "Willst Du es mir nicht erzählen?" "Was soll ich Dir erzählen?", erwiderte er mit seiner hohen kehligen Stimme. Ich sah, wie er wortlos Sätze bildete, und sich dann für diesen entschied: "Kennst Du das Leben?" Das Leben, wie sollte ich das Leben kennen? Das, was es gnädig an die Oberfläche gespült hatte, war doch nur Illusion. Doch ich antwortete: "Vielleicht kennt man das Leben, wenn die Fragen, denen man begegnet ist, eine Antwort gefunden haben. Aber bei mir häufen sie sich. Und was dann, wenn man Antworten auf den Großteil seiner Fragen in diesem Leben gefunden hat. Dann ist auf dieser Erde kein Platz mehr für Dich. Und die nächste Runde beginnt."

Cyrill sah mich mit seinem schweren Blick fragend an, auf den ich entgegnete: "Es sind die Fragen, die uns am Leben halten. Man sollte sie nicht mutwillig abschneiden, denn dadurch würde einem nichts erspart bleiben. Ich habe das Leben nicht erfunden und seine Spielregeln nicht aufgestellt. Aber soviel ahne ich, daß es erträglicher ist, wenn man mit ihm fließt." Es entstand eine Pause.

"Weißt Du, Klaus, wie es ist, wenn zwischen Tag und Nacht kein Unterschied mehr besteht?" "Nein, nicht wirklich, mein Freund. Aber ich kenne den Schmerz, der so lange dunkle Schatten wirft, der schier nie enden will, der einen mit jenem undurchdringlichen Panzer umgibt, so daß man in diese bodenlose Einsamkeit fällt.
Aber sage mir, warum Du mir all diese Fragen stellst. Du kannst sie selbst alle viel besser beantworten, als ich es vermag."

Cyrill senkte den Blick und sprach leise, wie zu sich selbst: "Es mag schon sein, daß ich vieles selbst beantworten kann. Aber ich mag meine Antworten nicht, deshalb hatte ich auf die Antworten von Dir gehofft. Bitte gestatte mir noch eine Frage. Ist Dir die Liebe begegnet?"

"Ach, Cyrill, das ist die allerschwierigste Frage. Denn der Erfolg einer Beantwortung ist vorab davon abhängig, ob man sich denn zumindest selbst liebt. Im übrigen müßte man wissen, um was es sich bei der "Liebe" eigentlich handelt. Jeder sucht seine eigene Antwort. Mir will scheinen, daß dieser Begriff der am häufigsten mißbrauchte ist. Jeder befrachtet ihn mit seinen eigenen Bedürfnissen. Im übrigen erscheint die Liebe oft scheu und meist flüchtig. Und selten besteht sie ihre mannigfaltigen Prüfungen. Und wenn sie einem dann begegnet, dann hält man sie oftmals nicht aus, weil man sich ängstigt. Die Angst ist ihr Tod, und nicht etwa der Haß, dieser ist ihr Bruder.
Ob ich ihr begegnet bin? Feststeht, daß ich sie manchmal erst erkannt habe, wenn es für sie zu spät war. Alles hat seinen Preis. Alles. Nicht selten bezahlt man mit Schmerz. Also sind jene vielleicht die Glücklicheren, denen sie nie begegnet ist. Ich weiß es nicht."

Cyrills Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Ich fragte ihn: "Warum humpelst Du?" Die Tränen begannen zu laufen, und lächelnd erwiderte er: "Die Höhe war nicht ausreichend."

Unsere Blicke begegneten sich.
 
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Kommentare  

Zu Anfang hatte ich mit einem Tier gerechnet (einem Hund oder so).

Das Ende ist ziemlich gut, aber das mit Juan Carlos ist mir unklar.

Gut, für das Ende.


Redfrettchen (30.11.2003)

Hallo Heidi,
Dank für Deine positve Reaktion. Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich mein Geschriebenes ankommt. Nun ja, die Liebe.... Das absolut Wichtigste ist, daß man sich zuerst selbst liebt.
Eine andere Form der Liebe habe ich in "Akeleia" zwischen Vater und Tochter beschrieben.
Lieben Gruß
Klaus


Klaus Asbeck (04.11.2003)

...aber diejenigen, die die Liebe nie begegnet haben, leben ihr ganzes Leben nur halb, nicht so intensiv, nicht richtig lebendig - wie Schlafwandler zeihen sie von einem Tag zum nächsten. Die Anderen, die der Liebe begegnet sind, aber sie verloren haben, schlafwandlern zwar auch durch den Rest ihres Lebens, aber zumindest durften sie einmal wunderschön träumen...
Welche sind nun die Glücklicheren?

5 Punkte und liebe Grüße,
Heidi StN


Heidi StN (01.11.2003)

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