House Party
Prolog
Der Himmel über dem großen Garten des idyllischen Grundstücks an der Côte d’ Azur war strahlend blau, nirgends war eine Wolke zu sichten, nur ein leiser Wind brachte etwas frische Luft vom Meer herüber. Zwei Frauen saßen auf der Terrasse unter einem Sonneschirm und nippten gelegentlich an ihren mit buntem Inhalt gefüllten Cocktailgläsern. Nur selten drangen die Geräusche der Zivilisation von der weit entfernten Straße nach Marseille herüber, einige Insekten umschwirrten die bunten Blumen und Sträucher, und wenn man die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte man das Rauschen des Meeres fühlen, das sich nicht weit von ihnen wie ein großes, seidenes Tuch erstreckte und im Schein der Sonnenstrahlen geheimnisvoll funkelte.
Alles schien paradiesisch zu sein, nur war es leider nicht so, denn die Vorboten eines aufkommenden Streits lagen in der Luft. Die beiden Frauen wechselten kein Wort miteinander und tauschten auch keine Blicke. Sie beide fraßen ihren Frust in sich hinein und hingen ihren Gedanken nach. Die eine, weil es sie deprimierte, dass der Mensch selbst an einem Ort wie diesem, der wohl zu den schönsten Fleckchen auf dieser Erde gehörte, nicht zufrieden sein konnte, die andere, weil sie sich alles ganz anders vorgestellt hatte. Sie war hierher gekommen, weil sie glaubte, den Garten Eden gefunden zu haben, und ihre Träume verwirklichen wollte und nicht, um schließlich auch hier dem grauen Alltag mit all seinen zwischenmenschlichen Problemen und Zwängen ausgesetzt zu sein. Dies alles schwebte wie eine dunkle Gewitterwolke unausgesprochen zwischen ihnen in der Luft, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Blitze zucken würden. Doch bis jetzt schien noch die Sonne und bettete alles in helles, vielleicht blendendes Licht.
Während in Südfrankreich der Himmel blau war und wie gemalt aussah, war er in Osnabrück grau und Wolkenverhangen und wirkte wie die personifizierte Depression. Schon bald fielen die ersten dicken Regentropfen, und die Menschen sahen zu, dass sie in ihre Häuser kamen oder dort blieben, wenn es irgend möglich war. Ein leises Donnern ertönte in der Ferne und kündigte ein Gewitter an, das die Stadt bald erreichen würde, und dann würde es sich hier festsetzen und über der Stadt so lange kreisen bis ihm die Puste ausging, denn aus irgendeinem Grunde liebten Gewitter den Himmel hier mehr als anderswo.
Jeder, der jetzt noch zu Fuß unterwegs war, suchte sich einen Platz zum Unterstellen oder verschwand im nächsten Bus, um schnellstmöglich nach Hause zu kommen. Wenn es nach einem warmen Tag, an dem viele Leute in der Stadt unterwegs waren, plötzlich zu regnen begann, waren die Busse immer vollkommen überfüllt und der Sauerstoffgehalt äußerst knapp, so dass man froh war, wenn man endlich aussteigen konnte.
Yasmin und Julian saßen in einem dieser Busse, sie hatten zum Glück noch einen Platz bekommen, denn nach einem langen Arbeitstag auch noch stehen zu müssen, dazu hatten beide keine Lust. Schlechtgelaunt sah Yasmin sich um, sog prüfend Luft durch die Nase ein und stellte dann fest, dass der fette Mann vor ihnen entsetzlich nach Schweiß roch. Die beiden Teenager hinter ihnen hatten weiter vorne im Bus eine Freundin entdeckt und riefen ihr deshalb die neuesten Erlebnisse ihres trostlosen Tages zu, und direkt neben ihr stand eine alte Frau im Gang, die bei jeder Kurve umzukippen drohte. Yasmin hoffte, die Alte würde nicht auf sie fallen, wenn sie kippte, denn sie konnte alte Leute nicht ausstehen.
Julian hingegen starrte aus dem Fenster und ließ seinen Blick über die Häuserfronten schweifen. Jeden Tag fuhr er diese Strecke, jeden Tag dieselben Häuser mit denselben Fenstern, hinter denen sich wahrscheinlich jeden Tag dieselben Geschichten abspielten. Er jedenfalls wäre heute lieber mit seinen Arbeitskollegen auf Kneipentour gegangen, doch leider hatte er Yasmin ja versprochen, mit ihr ins neue Kino am Bahnhof zu gehen. Dazu hatte er zwar inzwischen keine Lust mehr, aber versprochen war eben versprochen, egal, wie langweilig es auch werden würde. Um sich abzulenken blickte er weiter in den Regen hinaus und begann die Fenster zu zählen und fragte sich, was sich wohl hinter ihnen abspielen mochte.
Als es das erste Mal blitzte, schaute Kira kurz von ihrer Arbeit hoch und aus dem Fenster. Sie schalt sich selbst eine Idiotin, denn, wenn sie pünktlich Feierabend gemacht hätte, wäre sie noch trockenen Fußes nach Hause gekommen. So aber würde sie patschnass werden und ihrer Freundin musste sie wohl auch absagen, weil es für den gemeinsamen Theaterbesucht längst zu spät war. Demnach würde sie heute Abend mal wieder alleine zu Hause sitzen und ihren Gedanken nachhängen. Und wenn es ein ganz schlechter Tag war, würde sie auch wie sehr häufig in der letzten Zeit wieder von ihren Alpträumen geplagt werden. Sie wusste nicht, was sie gegen diese Träume unternehmen sollte, und inzwischen hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass sie irgendwann von selbst aufhörten.
Als die Kreide nach einem scheußlichen Quietschen in der Hand des Professors abbrach, schreckte Tobias aus seinen Tagträumen hoch und versuchte sich wieder auf den Stoff der Vorlesung zu konzentrieren. Warum mussten denn auch ausgerechnet die langweiligsten Vorlesungen immer abends stattfinden, wenn man viel besser irgendwo in einer Kneipe hätte hocken und ein Bierchen hätte trinken können? Vielleicht sollte er die Veranstaltung nächste Woche einfach sausen lassen. Die Zeit konnte man jedenfalls sinnvoller nutzen, und das, was der Professor über Entwicklungspsychologie und frühkindliche Erziehung erzählte, interessierte sowieso niemanden.
Marius saß mit Lena in der Küche und wurde sich gerade wieder einmal darüber bewusst, dass Kindererziehung alles andere als einfach war. In einer Tour machte er Vorschläge, wie seine Tochter mit ihm den Abend verbringen konnte, aber das Mädchen war für nichts zu begeistern. Weder 'Mensch ärgere dich', noch die Aussicht, gemeinsam einen Disneyfilm zu gucken, riss sie vom Hocker, und leider hatte er auch keine Idee, was er ihr sonst bieten könnte.
Lena kaute gelangweilt auf den trockenen Keksen herum, die sie im Küchenschrank gefunden hatte und warf ab und zu einen traurigen Blick nach draußen. Es war richtig toll gewesen als sie vorhin mit ihrem Papa im Garten herumgetobt war und sich aus Spaß mit ihm geprügelt hatte, aber als es zu regnen anfing, mussten sie leider reingehen, und hier drinnen hatte ihr Vater leider keine Lust mehr zu kämpfen. Schade, dachte sie, denn jetzt schlug er ihr tausend Dinge vor, die sie machen könnten, nur leider war nichts dabei, was mit toben zu tun hatte. Dabei gab es doch nichts schöneres als gegen ihn zu kämpfen wie gegen einen großen Bären und dann zuzusehen, wie ihm langsam die Puste ausging.
Marc schaute seinen Gegner mit unnachgiebigem Blick in die Augen, wollte damit zeigen, dass er sich nicht einschüchtern ließ, auch wenn der andere um einiges kräftiger war als er selbst. Sein Gegner erwiderte den Blick und ging dann mit einigen schnellen Bewegungen zum Angriff über. Wenn Marc jetzt auch nur einen Fehler machte, würde er keine Chance mehr haben, denn technisch waren sie nahezu gleichgut, nur dass der andere den Vorteil hatte, kräftiger gebaut zu sein, was beim Judo durchaus entscheidend sein konnte. Nach dem Training und einem knapp gewonnenen Kampf, zog sich Marc rasch um und eilte dann zur Bushaltestelle, weil er keine Lust hatte, schon wieder den letzten Bus zu verpassen und im Regen nach Hause laufen zu müssen.
Das Gewitter tobte unvermindert weiter über der Stadt, während all diese Menschen ihren gewohnten Tätigkeiten nachgingen. Sie alle kannten sich nicht, und keiner von ihnen ahnte auch nur, dass sich das schon sehr bald ändern würde und ihr Leben im Begriff war, eine neue Richtung einzuschlagen.
*****
Sie waren das glücklichste Paar, das man sich vorstellen konnte, und das schon seit mehr als sieben Jahren als Karina von einem Tag auf den anderen aus dem großen Haus auszog. Kennen gelernt hatten sie sich bei seinem ersten größeren DJ-Auftritt in dem kleinen House-Club, in dem sie damals kellnerte. Jede Nacht hatte er seine Platten für die tanzende Masse aufgelegt und dabei ausschließlich mit diesem wunderschönen Mädchen hinter der Theke den Blickkontakt gehalten. Erst als der Club geschlossen wurde und er seine Turntables zusammenpackte und sie die Theke verließ, um wieder ihrer Ausbildung als Krankenschwester nachzugehen, hatten sie die ersten Worte gewechselt. Er war sogleich von ihr verzaubert gewesen, ohne dass er es gemerkt hätte, und sie war es ohnehin schon durch seine Musik. Sie waren monatelang Opfer des Tratsches gewesen, bevor sie endlich selbst gemerkt hatten, dass es zwischen ihnen nicht nur knisterte, sondern gewaltig funkte. Wenig später waren sie das Traumpaar der ganzen Stadt, und noch ein bisschen später, offenbarte sie ihm unter Tränen, dass sie schwanger war. Sie hatte nicht gewusst, wie sie in ihrer Situation, sie lebte damals noch bei ihren Eltern und war noch lange nicht mit der Ausbildung fertig, ein Kind zur Welt bringen sollte. Doch Marius hatte ihr seine volle Unterstützung zugesagt und das auch eingehalten, wodurch ihre Tränen schließlich versiegten und in neue Kraft umschlugen. Nicht nur nach außen hin schienen sie das glücklichste Paar der Welt zu sein, sie empfanden es selbst ebenso. Noch vor Lena-Sophies Geburt hatten sie geheiratet, Karina beendete ihre Ausbildung erfolgreich, und Marius hatte ein Theologiestudium begonnen. Und um das Glück perfekt zu machen, hatte seine geliebte Oma die junge Familie in ihr Haus einziehen lassen, das für sie alleine viel zu groß war. Es waren glückliche Jahre gewesen, in denen sie alle zusammen in dem großen alten Haus am Rande der Altstadt Osnabrücks gewohnt hatten, Oma hatte sich rührend um die Kleine gekümmert, und im Gegenzug hatten Marius und Karina ihr die Arbeiten abgenommen, die sie in ihrem Alter nicht mehr selbst erledigen konnte. Es kam so gut wie nie vor, dass Marius und Karina sich stritten, und wenn, dann ging es um Kleinigkeiten, und auch Lena-Sophie machte ihnen kaum Sorgen. Nur mit Omas Gesundheit ging es kontinuierlich bergab, und vor einem Jahr musste sie dann in ein Krankenhaus eingewiesen werden, aus dem sie nie zurückkehrte. Die Zeit der Trauer war lang, und die neue Situation verlangte allen dreien Opfer ab, aber sie waren sich immer sicher gewesen, dass sie es schon schaffen würden, wenn sie zusammenhielten. Zwar hatte Oma ihnen das Haus vererbt, so dass sich die finanziellen Schwierigkeiten in Grenzen hielten, doch da Karina sehr viel arbeiten musste, führte letztlich kein Weg daran vorbei, dass Marius sein Studium vernachlässigte, um mehr für Lena da zu sein. Trotz allem verzagten sie nicht, überwanden die Trauer um Oma, und Lena lernte früh, dass sie sehr selbständig sein musste. Oft, wenn Lena längst im Bett lag und Marius sich in seine Bücher vertiefte, um zu lernen, schmiegte sich Karina wie eine Katze an ihn, küsste ihn zärtlich und gab ihm zu verstehen, wie glücklich sie war.
Vielleicht hatte Marius es nicht gespürt, dass ihre Liebesbeweise mit der Zeit seltener wurden, vielleicht hatte er sich aber auch zu wohl gefühlt, um die Risse wahrzunehmen, auf jeden Fall aber traf es ihn wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht als Karina in dann an jenem Abend zurückwies als er sie, nachdem er Lena ins Bett gebracht hatte, küssen wollte. Sie wies ihn zurück und erklärte sehr sachlich, dass sie mit ihm reden müsse. Zuerst wollte er Scherze machen, da er sich gar nicht vorstellen konnte, was es denn für ernste Probleme zwischen ihnen geben sollte, doch dann kam sie sofort zur Sache und erklärte ihm ohne Umschweife und scheinbar ohne Emotionen, dass sie jetzt festgestellt hatte, dass sie auf Frauen stehe und von heute auf morgen mit ihrer besten Freundin zusammen ziehen wolle. Im ersten Moment wusste Marius nicht, ob er lachen oder weinen sollte, doch ihr entschlossener Gesichtsausdruck verriet ihm unmissverständlich, dass Lachen hier fehl am Platze war. Noch in der selben Nacht packte Karina ihre Koffer und verschwand, ohne auch nur den kleinsten Zweifel aufkommen zu lassen, sie könne es nicht ernst meinen.
Marius und Lena standen also von einem Tag auf den anderen alleine da, ohne Verabschiedung, ohne Erklärung und ohne Verständnis. Als er in den nächsten Wochen bei ihrer Freundin anrief, ließ Karina sich zunächst verleugnen, dann sagte sie ihm, dass sie ihn nicht sprechen wollte, und nur wenig später bekam er Post von ihrem Anwalt, der ihr mitteilte, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Sie verzichtete großzügig auf eine Abfindung, überließ ihm das Sorgerecht für Lena und bat lediglich darum, dass sie nie wieder etwas von ihm hören müsste. Marius stand da wie ein begossener Pudel, seiner Tochter erging es nicht viel besser, er verstand nicht, was eigentlich passiert war, Lena noch viel weniger, doch beide konnten sie nichts dagegen tun. Das letzte, was er von Karina hörte, war, dass sie mit ihrer Freundin in die Provence gezogen war, ihre Adresse oder Telefonnummer bekam er allerdings nicht.
*****
Inzwischen waren mehrere Monate vergangen, Marius und Lena-Sophie hatten sich so gut es eben ging mit der Situation arrangiert, doch hatte er inzwischen sein Studium und auch das auflegen ganz aufgeben müssen, um genügend Zeit für seine Tochter zu haben. Auf Dauer konnte es so nicht weitergehen, denn auch wenn er von seiner Oma das Haus und einen Großteil ihres Vermögens geerbt hatte, musste er irgendwie zu Geld kommen. Mehrfach hatte er versucht, einen Beruf innerhalb der Kirche zu erlangen, doch ohne ein abgeschlossenes Studium war das aussichtslos, und auch fast jeder andere Job war nur schwer zu halten, wenn man alleinerziehender Vater war. Seit einigen Wochen arbeitete er jetzt in einem Kino, saß dort abends an der Kasse, riss die Karten ab oder verkaufte auch das Popcorn, nur leider bedeutete das auch, dass er Lena jeden Abend alleine lassen musste. Zum Glück war seine inzwischen siebenjährige Tochter relativ selbständig, was ihm die Sache erleichterte, und dennoch fühlte er sich nicht wohl, so wie es jetzt war. Oft dachte er an die Zeit mit Karina zurück, erinnerte sich an die ersten Jahre, in denen Oma ihre Familie unterstützt hatte und grämte sich, weil es jetzt so still in dem großen, alten Haus geworden war. Niemals hätte er es gewagt, das Anwesen seiner Großmutter zu verkaufen, denn immerhin war die alte Dame hier aufgewachsen und hatte ihr ganzes Leben hier gewohnt, und auch er selbst hing an dem Gebäude, das für ihn das Symbol einer glücklicheren Zeit war. Manchmal redete er auch mit Lena darüber, dass er gerne sein Studium wieder aufnehmen würde, um ihr eine bessere Zukunft zu ermöglichen, und auch wenn sie noch ein Kind war, verstand sie ihn nur zu gut und bemühte sich, ihm Vorschläge zu machen, was sie tun könnten. Einmal hatte sie ihm angeboten, dass sie sich eine neue Mama suchen könnten, aber er hatte an ihrem Blick gemerkt, dass sie das nur sagte, weil sie sich Sorgen um ihren Papa machte. Marius konnte ja nicht ausschließen, dass er sich eines Tages neu verlieben könnte, allerdings war er noch nicht so weit, und darüber hinaus wäre es sicher kein gutes Zeichen für eine neue Partnerschaft, wenn er sie nur einginge, um nicht mehr alleine zu sein. Er hing noch zu sehr an Karina, liebte sie immer noch, und wusste, dass keine Frau sie so leicht ersetzen können würde. Das erzählte er auch Lena, und sie verstand, was er meinte, und gab ihm recht, dass niemand, ganz gleich, wer es war, den Platz ihrer Mama einnehmen konnte, denn ihre Mutter war nun einmal die größte gewesen. Mit der Logik einer Siebenjährigen fuhr sie aber fort, wenn kein Mensch gut genug war, sie zu ersetzen, so müssten sie eben nach mehreren Leuten Ausschau halten, die dann zusammen vielleicht wenigstens fast ein Ersatz für Mama waren. Unwillkürlich musste Marius lachen und machte ihr dann klar, dass selbst mehrere hundert Leute keinen geliebten Menschen ersetzen konnten, und damit war das Thema für ihn zunächst abgetan.
Je länger er aber allein in dem einst so vom Leben erfüllten Haus war, desto öfter wünschte er sich einen Gesprächspartner, denn auch gute Freunde können die Einsamkeit immer nur zeitweilig vertreiben. Mehr und mehr dachte er über Lenas Idee nach, wälzte sie im Kopf hin und her, und kam so schließlich zu einer Entscheidung. Das Haus konnte er nicht verkaufen, soviel stand fest, aber es sprach noch lange nichts dagegen, einige Zimmer zu vermieten, denn schließlich war es in der Tat für zwei Personen viel zu groß. Die Zimmer im oberen Stockwerk nutzten sie beide eh kaum, was würde es also schaden, wenn sie bewohnt würden. Ohne größere Umbauten könnte er vier oder fünf Mieter aufnehmen, so eine Art Wohngemeinschaft gründen, und selbst wenn das vielleicht keine Lösung gegen seine Einsamkeit war, so war er zumindest nicht mehr allein, und hatte noch dazu eine gesicherte Einnahmequelle, die ihm vielleicht sein Studium wieder ermöglichte. An jenem Abend als er Lena davon erzählte, war sie sofort begeistert, denn auch ihr war es schon viel zu lange viel zu ruhig hier, und sie machte sich ernsthafte Sorgen um ihren Vater, der schon lange nicht mehr so fröhlich war wie früher. Die Mieter mussten selbstverständlich gründlich ausgewählt werden, denn wenn alles so kam, wie Marius sich das vorstellte, hatte zwar jeder sein eigenes Zimmer, doch die Küche und das Wohnzimmer würden sie gemeinsam nutzen. Er hatte keine Ahnung, ob es richtig war, was er vorhatte, aber Lenas Begeisterung machte ihm Mut, und knapp zwei Wochen später setzte er eine Annonce in die Zeitung.
*****
Tobias stand erst gegen Mittag auf, quälte sich aus dem Bett und taumelte sofort ins Badezimmer, um eine Kopfschmerztablette zu nehmen. Danach setzte er sich mit einem heißen, starken Kaffee in die Küche und wartete geduldig auf die ersten Nörgeleien seiner Schwester. Als Constanze in die Küche trat, blieb das Nörgeln zwar aus, dafür warf sie ihm aber die Morgenzeitung auf den Tisch, was so viel zu bedeuten hatte wie: such dir endlich eine Wohnung, du elender Parasit! Sie sagte: „Hier, vielleicht hast du ja heute Glück.“, aber der genervte Unterton in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Seit knapp zwei Wochen hatte er jetzt hier Unterschlupf gefunden, am Anfang war auch alles gutgegangen, aber inzwischen stritten sie sich wie zuletzt in Kindertagen, und beiden war klar, dass er ausziehen musste, bevor sie noch mit den Messern aufeinander losgingen. So blätterte Tobi also lustlos in der Zeitung herum, überflog den Lokalteil, vertiefte sich einen Moment in den Sportteil und blieb dann doch bei den Wohnungsanzeigen hängen. Das meiste, was dort angeboten war, war schlichtweg zu teuer, immerhin war er nur ein armer Student, die meisten anderen Angebote lagen zu weit außerhalb, was ohne Auto ebenfalls eine schlechte Wohnlage war, und so ging das nun schon seit Tagen. Doch dann stieß ihm plötzlich eine Annonce regelrecht ins Auge. Es handelte sich um ein Haus, nicht weit vom Stadtzentrum, in dem angeblich Zimmer zur Untermiete frei geworden waren. Das konnte zwar bedeuten, dass ihn dort die alte, schrumpelige Hausbesitzerin jeden Tag ausspionierte, andererseits war der Preis sagenhaft günstig, und die Angabe „zwecks WG-Gründung“, klang nicht unbedingt nach einer tauben alten Dame. Nach seinem ausgiebigen Frühstück und als Constanze längst schon aus dem Haus war, zog er sich an und machte sich dann auf den Weg. Er rief kurz unter der angegebenen Nummer an, fragte nach, ob er die Wohnung sofort besichtigen könne und setzte sich in Bewegung. Wozu hätte er das auf die lange Bank schieben sollen, wenn er es auch sofort erledigen konnte, denn so hatte er den Nachmittag frei, und außerdem konnte es nie schaden, der erste Interessent zu sein.
Der Mann, der ihm die Tür öffnete und sich als Marius vorstellte, schien kaum älter zu sein als er selbst, wirkte ruhig, gemütlich und vielleicht ein wenig langweilig, aber das war immer noch besser als unter dem Dach einer alten Schachtel zu leben, die sich wegen jeder Kleinigkeit aufregte. Tobi erfuhr, dass Marius Theologie studiert hatte, das Studium wegen seiner kleinen Tochter hatte aufgeben müssen, und nun Mitbewohner für das viel zu große Haus suchte. Selbstverständlich stimmte Tobi ihm zu, dass es eine Qual sein musste, in so einem geräumigen Altbau allein zu leben, er erzählte ein wenig von seinem eigenen Studium und wie anstrengend es heute überhaupt sei, Philosophie zu studieren, und so dauerte es keine halbe Stunde, bis er seinen Mietvertrag in den Händen hielt. Das Zimmer, das er bewohnen würde war klein, lag zur Straße hinaus und schmückte sich mit einer Tapete, die noch aus Vorkriegszeiten zu stammen schien, aber immerhin war es günstig, und er konnte es schon bald sein Eigen nennen.
Zufrieden mit sich und der Welt, machte er sich auf den Heimweg, fing an, in der Wohnung seiner Schwester seine Klamotten zu packen und genehmigte sich dann ein Bierchen in der Kneipe um die Ecke. Er traf noch einige Bekannte, aus einem Bierchen wurden zwei, und als er schließlich schwankend wieder nach Hause kam, oder besser gesagt in die Wohnung, die er künftig nicht mehr sein Zuhause nennen musste, saß Constanze vor dem Fernseher und musterte ihn mit einem geringschätzigen Blick.
„Na, was ist?“, fragte sie, „Hast du dich um eine Wohnung gekümmert?“
„Übermorgen bist du mich los“, antwortete er und verdrückte sich dann in die Küche, bevor sie sein überlegenes Lächeln bemerken konnte.
Wie er erwartet hatte, folgte sie ihm nur wenige Sekunden später, bat ihn, das gerade gesagte noch einmal zu wiederholen und konnte es kaum fassen. Während Tobias seinen leeren Magen mit etwas Essbarem füllte, überlegte er, ob sie wohl eine Party geben würde, wenn sie ihn endlich los war, oder ob sie sich auch mit einer Flasche Sekt begnügte. Allerdings war sie es nicht allein, die sich über die Neuigkeiten freute, denn auch er war mehr als erleichtert, endlich bei dieser Spießerin ausziehen zu können. Wenn er vorher geahnt hätte, dass sie sich als die große Märtyrerin aufspielen würde, nur, weil sie ihm für einige Zeit Unterschlupf gewährte, wäre er doch sowieso niemals bei ihr eingezogen. Aber wie auch immer, jetzt war es vorbei, und es warteten hoffentlich angenehmere Mitbewohner auf ihn.
*****
„Also die Küche würden wir alle gemeinsam nutzen, und ein Badezimmer gibt es sowohl hier oben als auch unten.“
Yasmin sah sich in den beiden geräumigen Zimmern um und hörte den Ausschweifungen dieses Marius, der ihr die Wohnung scheinbar um jeden Preis schmackhaft machen wollte. Ein Seitenblick auf Julian sagte ihr, dass er sich wie immer noch immer nicht zu einer entgültigen Entscheidung durchringen konnte, aber für sie stand die Sache fest. Immerhin hatte sie lange genug auf ihren Freund einreden müssen, bis er schließlich einwilligte, dass sie sich nach einer gemeinsamen Bleibe umsehen würden. Bis heute hatte sie nicht verstanden, was ihn an dem Gedanken störte, immerhin waren sie inzwischen seit fast zwei Jahren zusammen, und es war mehr als nur unwirtschaftlich, wenn sie nach so langer Zeit immer noch jeder in seiner eigenen Wohnung lebten.
„Also, Hasi, was meinst du?“, fragte sie, aber bevor er noch den Mund aufmachte, wusste sie genau, was er antworten würde. Sie sollten nichts übers Knie brechen, immerhin war das ein großer Schritt, und so eine Überlegung musste sorgfältig getan werden.
„Ja sicher“, antwortete er, „das Haus ist toll, und die beiden Zimmer auch, aber so eine Entscheidung kann man einfach nicht aus dem Bauch heraus treffen.“
Manchmal kam es ihr vor als würde sie ihn nicht erst seit zweieinhalb Jahren, sondern schon viel, viel länger kennen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie ihn damals in dieser Disco zum ersten Mal gesehen hatte, und sie wusste auch noch genau, was ihr als erstes durch den Kopf gegangen war als sie sich an der Bar neben ihn gesetzt hatte. Wow, war es ihr durch den Kopf geschossen, hier gibt es ja doch nicht nur Bauerntrampel und Langweiler, sondern auch richtig schnuckelige Jungs, den willst du haben. Und was sie haben wollte, das hatte sie schon immer bekommen, denn sie war nun einmal zielstrebig und eine echte Kämpferin. Sie hatte darauf gewartet, dass er sie ansprechen würde, und als auch nach zehn Minuten noch nichts passierte, hatte sie diesen Part übernommen und es bis heute nicht bereut. Julian sah gut aus, verstand es, sich zu kleiden und sich zu benehmen, und dass sein Vater der Chef einer großen Modefirma war, war sozusagen ihr Bonusgewinn. Sicherlich gab es auch Seiten an ihm, die sie bis heute nicht verstand, so zum Beispiel, warum er ausgerechnet bei H&M arbeitete, wenn er doch sowieso eines Tages die Firma seines Vaters erbte, aber er war der liebste Kerl, den sie kannte, und es gelang ihm oft, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Es gab kaum etwas, was sie an ihm zu beklagen hatte, und wenn, dann war er zumindest so kompromissbereit, an sich zu arbeiten. Nur die Sache mit der gemeinsamen Wohnung war in den letzten Wochen immer wieder zum Streitpunkt geworden, und sie verstand nicht, wieso er sich so sträubte. Immerhin war er auch nicht unglücklich mit ihr, sie sah blendend aus, hatte sogar schon etliche Angebote als Model bekommen, und blöd war sie auch nicht, immerhin hatte sie sich in der Zeit, seit sie zusammen waren, zur stellvertretenden Verkaufschefin der edelsten Boutique der Stadt hochgearbeitet.
Aber jetzt hatte sie ihn ja wenigstens soweit, dass er sich gemeinsam mit ihr Wohnungen ansah, und dieses Haus, auch, wenn sie nur zwei Zimmer darin bewohnen würden, hatte ihn sichtlich beeindruckt. Sie verabschiedeten sich von Matthias, Markus oder wie immer er hieß, fuhren ins Cafe Mondo und kauten dabei das Thema noch einmal durch.
„Kannst du mir bitte mal erklären, was so schlimm daran sein soll, mit mir zusammenzuziehen, Hasi?“
Julian zuckte ob ihres forschen Tons leicht zusammen, dann antwortete er: „Darum geht es doch nicht, Schatzi, ich bin nur der Meinung, dass wir uns das reiflich überlegen sollten.“
Yasmin schüttelte verständnislos den Kopf.
„Was heißt denn hier reiflich überlegen? Ich meine, wie lange willst du denn noch überlegen? Komm schon, wir werden erstens nicht jünger, und zweitens debattieren wir schon ewig über das Zusammenziehen.“
Julian wollte ihr etwas entgegnen, wurde aber von der Bedienung unterbrochen, die ihnen ihren Kaffee servierte. Als die Kellnerin wieder verschwunden war, erklärte ihm Yasmin, wie schön es doch wäre, wenn sie endlich nicht mehr jeden Abend überlegen mussten, ob sie nun bei ihm oder bei ihr schlafen würden. Außerdem sei dieses Haus ein echter Traum, und noch dazu in einer hervorragenden Lage, kaum zehn Minuten von ihrem Arbeitsplatz entfernt, da müsse man zugreifen, bevor jemand anders es tat. Er erwiderte, dass sie ja Recht habe, er darüber dennoch in Ruhe nachdenken müsse, sie wiederholte abermals, dass er nicht denken bräuchte, bis er alt und grau sei, sondern endlich einmal handeln müsse, und als er seinen folgenden Satz erneut mit einem „Aber“ begann, fuhr sie sich gereizt durch die Haare, und es kam dieses Funkeln in ihre Augen, das sie immer hatte, wenn sie sich aufregte.
„Sag mal, Hasi, liebst du mich etwa nicht, oder was hindert dich?“
„Doch, sicher liebe ich dich, Schatzi...“
„Na also, warum musst du dann monatelang nachdenken, bevor du eine Entscheidung triffst?“
Julian handelte aus dem Bauch heraus, als er näher zu ihr rückte, ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange gab und ihr dann ins Ohr flüsterte: „Okay, wahrscheinlich hast du Recht. Lass uns die Wohnung nehmen.“
Den ganzen Abend war Yasmin daraufhin der glücklichste Mensch auf Erden, sie lud ihn zum Essen ein, und danach verbrachten sie eine wundervolle, heiße Liebesnacht in ihrer alten Wohnung, was somit auch Julian zum, na ja, zweitglücklichsten Menschen machte. Und auch wenn er sich in den folgenden Tagen sogar auf den Umzug freute, so nagte doch manchmal ganz tief hinten in seinem Kopf ein kleiner Zweifel, ob er sich nicht doch zu schnell entschieden hatte, denn immerhin hatte Yasmin die Idee, dass sie zusammenziehen sollten erst vor einer Woche gehabt.
*****
Gleich nach der Schule war Lena-Sophie nach Hause gelaufen, denn sie wollte dabei sein, wenn ihr Vater die neuen Leute für das Haus aussuchte. Leider war sie eh schon zu spät gekommen, denn beim Mittagessen hatte Marius ihr gesagt, dass er drei Zimmer inzwischen schon vermietet hatte. Lena quetschte ihn natürlich gehörig aus, was das denn für Menschen waren, mit denen sie künftig unter einem Dach leben musste, aber die Antworten ihres Daddys waren leider nur unzureichend. Er hatte die Leute nur gefragt, was sie arbeiteten und solche uninteressanten Erwachsenensachen, aber von keinem wusste er, ob er mit ihr spielen würde, ob er sich für Fußball interessierte oder ob er ihre Playstation reparieren konnte, die seit vier Monaten kaputt und nutzlos auf ihrem Schrank stand. Aber wenigstens versprach Marius ihr, dass sie bei den folgenden Interessenten, wie er sie nannte, dabei sein durfte. Am liebsten wäre es Lena ja sowieso gewesen, wenn jemand mit Kindern hier eingezogen wäre, am liebsten ein Mädchen in ihrem Alter, denn Jungs waren meistens doof.
Als es kurz darauf klingelte, rannte Lena aufgeregt zur Tür und stand einem ziemlich großen jungen Mann gegenüber, der sie sofort anlächelte und fragte: „Bis du diejenige, die hier ein Zimmer zu vermieten hat?“
Zuerst wollte Lena den Kopf schütteln und sagen, dass das Haus eigentlich ihrem Vater gehörte, aber immerhin war es schließlich ihr Vorschlag gewesen, neue Leute hier einziehen zu lassen, und außerdem hatte Daddy ihr ja gesagt, sie dürfe mitentscheiden.
„Ja komm rein. Ich kann dir auch gleich mal das Zimmer zeigen.“
Sie führte ihn nach oben, und als Marius nach einigen Minuten dazu stieß, konnte er seine Tochter dabei beobachten, wie sie dem jungen Mann gerade erklärte, dass sie im letzten Winter eine Maus gehabt hatten, die alles angefressen hatte und nur den Käse aus den Mausefallen geklaut hatte.
„Also eine Maus habe ich nicht, aber dafür ein Kaninchen, und wenn wir beiden uns anstrengen, können wir es vielleicht so dressieren, dass es Mäuse fängt.“
„Wie heißt es denn? Hast du gehört, Daddy? Ein Kaninchen!“
Marius trat jetzt ins Zimmer ein, streckte die Hand aus, wusste aber schon jetzt, dass das vierte Zimmer gerade seinen neuen Besitzer gefunden hatte.
„Tschaikowsky.“
„Ich bin Marius Ammer, und Lena-Sophie kennen sie ja schon. Tag, Herr Tschaikowsky.“
Der junge Mann lächelte irritiert und korrigierte Marius: „Nein, ich bin Marc. Das Kaninchen heißt Tschaikowsky.“
Marius klärte noch einiges mit Marc und erfuhr dann, dass er als Tanzlehrer arbeitete und nebenbei Judotrainer war. Außerdem nahm er in den Sommermonaten oft einen Job als Animateur in einem Hotel auf Gran Canaria an, spielte Handball und organisierte Zeltlager und Freizeiten für die Jugendlichen im Sportverein. Bisher hatte er auch in einer WG gewohnt, aber da er, wie er mit einem Lächeln eingestand, nicht der ordentlichste war und die anderen sich obendrein noch an seinem Gitarrespielen gestört hatten, sah er sich jetzt nach einer neuen Bleibe um.
Ganz egal, was Marius für Einwände gehabt hätte, Lena hätte es ihm nie verziehen, wenn er Marc das Zimmer nicht zugesagt hätte, und so wurde kurz darauf der Mietvertrag unterschrieben.
*****
Jetzt waren also alle Zimmer bis auf eines vermietet, und am Wochenende herrschte so großes Gedränge wie schon seit Jahren nicht mehr, weil alle neuen Hausbewohner ihre Möbel in die Zimmer schleppten. Unten auf der Straße herrschte Chaos, Yasmin und Julian hatten einen Möbelwagen anrollen lassen, Marc hatte sich einen Van gemietet, und Tobi transportierte all sein Hab und Gut in seinem Kleinwagen hin und her. Die Nachbarn standen an ihren Fenstern und glotzten hinter ihren Gardinen hervor, die Autofahrer hupten verärgert, weil es auf der Straße kein Durchkommen gab, und Marius packte mit an, wo es ging, schleppte Schränke, Waschmaschinen, Sofas und haufenweise Kisten die Treppen hoch und im Grunde war er froh, dass endlich wieder Leben hier einzog. Lena und Tschaikowsky saßen zusammen im Garten und beobachteten amüsiert das hektische Treiben. Endlich war mal wieder was los hier, dachte sie, und sie erzählte dem Kaninchen, dass sie gespannt war, was noch alles kommen würde. Ab und zu half sie mit, etwas leichtes zu tragen, aber die meisten Sachen waren ihr zu schwer, und sie hatte das Gefühl, den anderen nur im Weg herumzustehen. Davon abgesehen war das Spielen mit Tschaikowsky viel interessanter. Sie hatte noch nie ein Haustier gehabt, wollte früher immer einen Hund haben, aber ihre Mama war allergisch gegen Hunde gewesen. Schade nur, dass niemand von den anderen ein Tier hatte, dann hätten sie einen richtigen Zoo aufmachen können, aber was nicht war, konnte ja noch werden. Erstmal musste sie sich jetzt sowieso um das Kaninchen kümmern, das ihr immer ausbüchsen wollte. Marc hatte ihr erklärt, dass es gerne gestreichelt wurde, aber auch genügend Auslauf brauchte, sie sollte nur aufpassen, dass Tschaikowsky nicht irgendwann unter dem Zaun hindurch verschwand.
Als es langsam dunkel wurde, waren sie noch immer nicht mit allem fertig, aber Marius stellte kurzentschlossen den Grill und eine Kiste Bier auf die Terrasse und verordnete eine Zwangspause. Der größte Teil der Arbeit war eh geschafft, und es wurde Zeit, dass nicht mehr nur alle schwerbepackt aneinander vorbeiliefen, sondern sich endlich kennen lernten. Es gab Bratwürstchen, Kartoffelsalat und Bier, für Lena Orangensaft und für Tschaikowsky Löwenzahn. Ein Gespräch entwickelte sich recht schnell, es wurde darüber geredet, woher sie alle stammten, und was sie so im Leben machten, und Marius musste zugeben, dass es schon ein ziemlich bunter Haufen war, den er sich da ins Haus geholt hatte.
Yasmin zum Beispiel stammte aus der Nähe von Hamburg, während Julian aus Stuttgart kam., Tobi war in Oberhausen geboren worden und in Düsseldorf aufgewachsen, bevor er zwecks Studium vor fünf Jahren hierher zog, und Marcs Eltern lebten in Magdeburg, von wo er aber aufgrund der schlechten Arbeitsmarktchancen weggegangen war. Marius musste leider zugeben, dass er noch nicht besonders weit herumgekommen war, er war lediglich in Westfalen geboren und in den letzten neunundzwanzig Jahren gerade mal bis nach Osnabrück gekommen. Es wurde ein sehr schöner und sehr langer Abend, sie saßen zusammen so als wären sie gute Freunde, die sich schon ewig kannten, und als es schließlich zu spät war, um noch weiter Möbel zu rücken, wurden alle übrigen Kisten in das noch leerstehende Zimmer getragen und die Arbeit auf später verschoben.
Nur schwer war Lena von dem Kaninchen zu trennen als Marius sie ins Bett bringen wollte, und auch wenn Marc ihr erlaubt hätte, Tschaikowskys Käfig in dieser Nacht in ihr Zimmer zu stellen, war ihr Papa strikt dagegen.
„Warum soll Tschaikowsky denn nicht bei mir schlafen dürfen?“, quengelte sie und hoffte auf Unterstützung der anderen.
„Weil du dann die ganze Nacht mit ihm spielst und nicht schläfst. So einfach ist das.“
Der erhoffte Protest der anderen blieb aus, wie Lena traurig feststellen musste, und leider konnte sie ihrem Vater nicht einmal widersprechen. Bevor sie ins Badezimmer ging, um sich die Zähne zu putzen, sah sie noch ein letztes Mal hilfesuchend von einem zum anderen, doch niemand außer Yasmin rührte sich.
„Sei doch froh, wenn die Ratte nicht in deinem Zimmer schläft, wahrscheinlich hat das Vieh sogar noch Flöhe.“
„Tschaikowsky ist keine Ratte“, protestierte Lena, aber da von hier keine Hilfe mehr zu erwarten war, verzog sie sich ins Bad.
Während sie sich die Zähne putzte, dachte sie noch einmal an den schönen Abend und fragte sich, wann sie zuletzt mit so vielen Leuten gegrillt hatten. Ja, früher, als Mama noch da war, da hatten sie manchmal Besuch, aber so lustig wie heute war es mit Mamas Freundinnen nie gewesen, und außerdem hatte auch keine von denen ein Kaninchen gehabt. Lena spülte sich den Mund aus, ging in ihr Zimmer und legte sich zufrieden ins Bett, doch noch kuz, bevor sie einschlief, beschloss sie, dass sie Yasmin nicht leiden konnte, weil die Tschaikowsky eine Ratte genannt hatte.
*****
Die folgenden Tage vergingen bei allen Hausbewohnern damit, dass man sich an die neue Umgebung gewöhnte, sich ins Haus und aufeinander einlebte und versuchte, gewisse Regeln für das stressfreie Miteinander aufzustellen. Marius hatte zunächst nicht so genau darüber nachgedacht, aber schon in den ersten Tagen, ja Stunden, musste er feststellen, dass es unzählige offene Fragen zu klären galt. Wer musste den Müll runterbringen, und wohin überhaupt? Wann war wer dran mit Treppe putzen? Gab es auch einen allgemeinen Putzplan für die Küche, oder machte jeder sofort sauber, was er dreckig gemacht hatte? Wurde Lena-Sophie auch in diesen Plan aufgenommen oder was hatte sie überhaupt für Pflichten? Wie war das mit der Benutzung der Bäder? Benutzte jeder das Bad, das seinem Zimmer am nächsten war oder gab es andere Aufteilungen? Wer hatte welches Bad sauber zu halten? Wie sollte man sechs Zahnbürsten mit dazugehörigem anderem Zeug in nur zwei Bädern unterbringen? Wie lief das mit dem Kochen? Sorgte jeder für sich oder kümmerte sich jeweils einer um das Essen für alle? Wer war für die Auffüllung des Kühlschrankes zuständig? Warum hatte man jetzt in der WG drei Waschmaschinen, vier Mikrowellen aber nur einen Kühlschrank? Wie laut durfte man die Musik aufdrehen? Was war mit Partys? Mussten dazu obligatorisch alle Bewohner eingeladen werden oder nicht? Versuchte man generell jetzt eine große Familie zu werden oder zog jeder sein eigenes Ding durch? Wie wurden Absprachen, die für alle galten, getroffen? Beschloss man sowas demokratisch oder hatte Marius als Hausbesitzer den Status eines Monarchen? Durfte Tschaikowsky frei im Haus herumlaufen? War es in Ordnung, dass Yasmin und Julian morgens im Bad länger brauchten als alle anderen zusammen? Wie lange durfte Marc ungestört Gitarre üben? Hatten alle leise zu sein, wenn Lena abends ins Bett musste? Durfte der Garten einfach so benutzt werden, oder gab es auch hierfür Absprachen? Wer durfte morgens als erstes die Zeitung lesen? Und wem gehörte überhaupt der Caramel-Ananas-Joghurt, der seit Tagen im Kühlschrank stand und dessen Deckel sich bedenklich beulte?
Diese und mindestens tausend weitere Fragen mussten dringend geklärt werden, und auch, wenn sie alle abends meistens zusammen in der Küche hockten und bis tief in die Nacht hinein quatschten, kam sich Marius zeitweilig wie in einem Kindergarten vor.
„Sag mal, hatten wir nicht noch Chips?“
„Also eigentlich müssten noch welche da sein.“
„Und wo sind die?“
„Wenn sie keiner weggenommen hat, dann stehen die oben im Schrank.“
„Da sind aber keine.“
„Dann haben wir wohl keine mehr.“
„Gestern hatten wir aber noch eine ganze Tüte, wo kann die denn sein?“
„Ich weiß es nicht, dann hat sie wohl wer gegessen.“
„Okay.“
„Gut.“
„Und was ist mit Keksen?“
Marius verließ die Küche und ließ Tobi auf seiner suche nach etwas Essbarem allein. Er war vielleicht der Vermieten und auch der älteste hier, aber das machte ihn noch lange nicht zur allwissenden WG-Mutti. Bevor er sich aber aufregte, lächelte er nur bei dem Gedanken, plötzlich fünf Kinder, statt einem erziehen zu müssen, so schlimm würde es schon nicht werden. Und außerdem war da ja immer noch sein grenzenloser Optimismus und die Fähigkeit, aus jeder Situation das beste zu machen.
„Hey, Marius, gut, dass ich dich treffe“, begrüßte ihn Julian als er ins Wohnzimmer kam, um ein paar neue Vinyls anzuhören. Er hatte sich seit langem endlich mal wieder einige Platten gehört, doch bisher war er noch nicht dazu gekommen, sie zu hören. Auch jetzt schien ihm das leider nicht vergönnt zu sein.
„Hm?“
„Wie war das noch mit dem Müll?“
„Was für Müll?“
„Ich habe gerade noch eine halbe Tüte Chips im Schrank gefunden. Wo kommt jetzt noch das Papier rein?“
„Papier gehört in die blaue Tonne.“
„Ja, aber das ist doch kein Papier, das ist doch Folie.“
„Dann kommts in den gelben Sack.“
„Ich dachte, da kommen die Flaschen rein.“
„Was soll Tobi denn im gelben Sack?“
Und selbst, wenn solche Gespräche alles andere als erbaulich waren, war Marius froh, dass es so lief, wie es lief. Endlich war wieder leben in der Bude, und das half ungemein, um über den Schmerz hinweg zu kommen, der tief in seinem Inneren noch immer an ihm nagte. Unter dem Strich betrachtet, hatte er seine Frau gegen neue Freunde eingetauscht, und das war weit besser als allein zu sein. Wenn es ihm jetzt noch gelang, ein wenig Ruhe in das Chaos zu bringen und das letzte Zimmer zu vermieten, war eigentlich alles perfekt. Und vielleicht, irgendwann einmal, würde es ihm ja auch gelingen, nicht mehr jede Nacht von Karina zu träumen und schweißgebadet aufzuwachen.
*****
„Nein, nein, verdammt! Erst der linke Fuß, dann der rechte, und danach die Drehung. Ist das denn so schwer?“
So sehr Marc das Tanzen auch liebte, so sehr hasste er es auch, pubertierenden Teenagern ohne jegliches Talent die einfachsten Schritte beizubringen, die sie niemals erlernen würden, solange sie die Musik nicht spürten. Zum Glück hatte er diesen Anfängerkurs nur aushilfsweise übernommen und durfte ansonsten die Fortgeschrittenen trainieren. Er wartete jedenfalls sehnsüchtig auf übernächste Woche, wenn seine Kollegin aus ihrem Urlaub wieder zurück war.
„Okay, das reicht für heute“, verabschiedete er seine wenig gelehrigen Schüler, „macht’s gut, wir sehen uns nächste Woche.“
„Und danach hoffentlich nie wieder“, fügte er in Gedanken dazu, bevor er die Lichter löschte und sich auf den Weg in die Sporthalle machte, um nicht auch noch zu spät zum Judo zu kommen. Angeblich war es ja bei Kampfsportarten nicht förderlich, wenn man aufgestaute Aggressionen mitbrachte, nur ließ sich daran heute nichts mehr ändern. Egal, gegen wen er heute antreten musste, der ärmste würde es nicht leicht haben.
Als sich Marc wenig später umgezogen hatte, erwarteten er und einige andere die Jungs der Gruppe B, gegen die sie heute antreten würden. Es war lediglich ein Übungskampf, bei dem es um nichts ging als darum, seine eigenen Leistungen bei unbekannten Gegnern zu testen, nichts besonderes also, aber bei Marc gab es nun einmal keine halben Sachen. Entweder kämpfte er, um zu gewinnen, oder er konnte es gleich bleiben lassen. Das war doch der Sinn des Sports oder genaugenommen von allem, was man tat. Entweder zeigte man ganzen Einsatz, oder die Sache war es nicht wert, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.
Nachdem Marc sich aufgewärmt hatte, traten auch schon die anderen ein, und er staunte nicht schlecht, als er sah, wer sein Gegenüber war.
„Hi Marc“, begrüßte ihn Julian, „ich wusste gar nicht, dass du auch Judo machst.“
„Hi. Ist aber so. Als Ausgleich zum Tanzen sozusagen.“
„Getanzt habe ich früher mal, aber ich hab’ es aufgegeben, weil mir beides zu viel wurde. Außerdem lag mir Judo irgendwie mehr.“
„Jedem das seine...“
„Und? Worin bist du besser?“
„Das wirst du gleich merken.“
Die Kämpfe begannen, und wie immer balgten die meisten nur so zum Spaß herum, ohne ihr Können richtig zu testen. Julian sah das offenbar genauso, und so dauerte es nicht lange, bis er das erste Mal unsanft auf der Matte landete. Danach wollte er sich beschweren, wovon Marc sich jedoch keinesfalls beeindrucken ließ, denn kämpfen ohne Kampfgeist gab es für ihn nicht. Als Julian zum dritten Mal auf dem Rücken landete, wurde seine Abwehr endlich entschlossener und seine Angriffe wurden ernsthafter. Jetzt begann das Ganze endlich Spaß zu machen.
Knapp zwei Stunden später fiel die Tür der Sporthalle hinter Julian ins Schloss, und als die frische Luft ihn in Empfang nahm, merkte er erst, wie geschafft er war. Er warf sich seine Sporttasche über die Schulter, kramte in seiner Jackentasche nach dem Autoschlüssel und ging zum Parkplatz. Beinahe wäre er mit Marc zusammengestoßen als er um die Ecke zu seinem Wagen bog, und offensichtlich hatte der auch genau das geplant.
„Na, was ist“, fragte er, „hast du es etwa so eilig, nach Hause zu kommen?“
„Nein, im Grunde nicht, aber ich schätze mal, Schatzi wartet auf mich.“
„Wie sieht’s aus? Kommst du noch mit, ein Bierchen trinken?“
„Ich habe doch gesagt, Yasmin wartet bestimmt auf mich.“
„Und ich habe gefragt, ob du mitkommst, ein Bierchen trinken.“
Als Marc ihn daraufhin auch noch belehrte, dass es ja wohl so üblich war, dass der Gewinner den Verlierer einlud, und dass es unhöflich sei, wenn der Verlierer dies ablehnte, sah Julian keine andere Möglichkeit und willigte ein. Etwas zu Trinken hatte er sich als Entschädigung redlich verdient, außerdem war er immer noch ein wenig sauer, dass Marc für ein Training viel zu ernst an die Sache herangegangen war. Da konnte er wenigstens blechen.
Sie fuhren in die nächste Kneipe, bestellten sich je eine Currywurst mit Pommes und ein Bier, und Julian versuchte, Marc nicht merken zu lassen, wie kaputt er war.
*****
Äpfel schneiden, Fett erhitzen, Leber dazu, leicht salzen, aber nicht zu viel, dann die Äpfel und Zwiebeln hinein und aufpassen, dass nichts anbrennt. Tobi war immer noch am Kochen als Yasmin in die Küche kam und angewidert die Nase rümpfte.
„Igitt, was stinkt denn hier so?“
„Es stinkt nicht, es riecht nur nach Leber.“
„Das ist ja widerlich, du willst das doch nicht etwa essen, oder?“
„Ja natürlich will ich es essen, oder dachtest du, ich mache das, um es hinterher an die Wand zu hängen?“
„Wie bekommst du das bloß runter? Und außerdem ist zu viel Fleisch überhaupt nicht gesund.“
„So? Was gibt es denn bei dir? Schon wieder Salat?“
Tobi wusste, dass Yasmin seinen geringschätzigen Unterton sehrwohl bemerkt hatte, auch wenn sie sich das keinesfalls anmerken ließ. Es war ja nicht bloß boshaft von ihm gemeint, denn er konnte es nun einmal nicht ausstehen, wenn Vegetarier anderen Leuten ihr Essen vermiesen wollten. Und außerdem hatte sie schließlich mit den Sticheleien angefangen.
„Nein, keinesfalls, ich wollte uns Sushi bestellen, aber Hasi lässt ja leider auf sich warten.“
„Oh nein... böser Hasi. Wie kann er nur? Aber vielleicht hat er sich ja eine hübsche Häsin gesucht, bei der es nicht bloß Löwenzahn zu futtern gibt.“
Jetzt fiel es Yasmin schwer, ihren Ärger zu verbergen, und Tobi fiel es mindestens genauso schwer, sich das Lachen zu verkneifen. Seine Bemerkung hatte gesessen, das merkte er mehr als deutlich an ihren giftigen Blicken. Nur gut, dass Blicke nicht töten können, sagte er sich, obwohl er sich in der Beziehung bei Yasmin nicht so sicher war.
„Mach du dich nur lustig.“
„Mache ich ja auch.“
„Gut, aber ich erinnere dich bei Gelegenheit mal wieder daran, wenn du mal wieder bei einer Frau wegen deines Bauchansatzes abblitzt.“
Damit verließ sie hollywoodreif die Küche und Tobi mit einem erstarrten Lächeln auf den Lippen zurück. Sie hatte ihn genau da getroffen, wo es wehtat. Wenn ihre Blicke schon nicht töten konnten, so konnten sie einen mindestens durchbohren und zielsicher die Schwachstelle eines jeden herausfinden.
Tobi wandte sich wieder seinem Abendessen zu und tat als wären ihm ihre Spitzen egal. Dabei aber hielt er unbewusst die Luft an und zog den Bauch ein. Na gut, ein bisschen mehr Sport könnte nicht schaden. Aber er war ja schließlich nicht fett. Und außerdem konnte ja nicht jeder so aussehen wie sie. Noch während er seine Leberstückchen wendete, war ihm der Appetit vergangen, und er kratzte sich nachdenklich am Kinn, wobei er feststellte, dass er sich auch wieder einmal rasieren müsste.
Gerade als er mit dem Essen fertig war, kam Yasmin erneut in die Küche.
„Na, was ist? Möchtest du doch noch was von meiner Leber haben?“
„Du willst mich wohl um Preis vergiften oder wie? Nein danke, ich warte auf Hasi, aber er ist immer noch nicht da.“
„Dann wird ihm wohl was dazwischen gekommen sein. Wo wollte er denn eigentlich hin?“
„Er ist zum Judotraining gefahren, denn andere Leute tun ja etwas für ihre Figur und treiben Sport. Außerdem kommt ihm nie etwas dazwischen, und wenn, dann ruft er an.“
„Dann ruf du ihn doch einfach an und frag nach.“
„Ich soll ihm auch noch hinterher telefonieren?“
„Du bist doch diejenige, die Hunger hat, oder?“
Er bekam darauf keine Antwort. Yasmin hatte Hunger, so viel war klar, und auch, wenn er Frauen in der Hinsicht bisher nie verstanden hatte, konnte er ihr nachfühlen, wie blöd es sein musste, hier zu sitzen und zu warten.
„Ich hab noch ne Tütensuppe im Schrank“, bot er ihr deshalb an, „ Ist nichts Besonderes, aber wenn man sie ein wenig verlängert, schmeckt es wohl.“
Nach einigem Zögern und skeptischen Nachfragen, womit er sie denn dabei vergiften würde, nahm sie sein Angebot an, und ihre Laune besserte sich sichtlich, nachdem sie etwas im Magen hatte. Danach wurde sie sogar richtig umgänglich und gesprächig.
„Du, sorry, Yasmin“, fuhr er ihr dazwischen, „aber ich muss noch mal weg.“ Und dann setzte er mit einem übertrieben freundlichen Lächeln hinzu: „Ich muss noch nach Frauen suchen, die mich nicht nur nach meinem Bauchansatz beurteilen.“
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Julian wollte eigentlich ablehnen, als sie zum wiederholten Male gefragt wurden, ob sie noch etwas trinken wollen, aber Marc war schneller und bestellte ihnen noch zwei Wodka-O. Wenn das so weiter ging, würde Julian nachher nicht mehr wissen, wo sein Bett war, und schon jetzt störte es ihn, dass er sein Auto hier stehen lassen und zu Fuß nach Hause gehen musste. Dabei war er gar nicht der Typ für spontane Kneipentouren, schon gar nicht, wenn sein Schatz sich bestimmt schon Sorgen um ihn machte. Andererseits machte es auch Spaß, und er verstand sich mit Marc richtig gut. Im Grunde war es ja auch so eine Art Bildungsreise, denn er hatte vorher nicht einmal gewusst, dass Osnabrück so viele Kneipen hatte. Angefangen hatten sie im Countdown, danach waren sie in der Lagerhalle gewesen, von dort aus ging es ins Tiefenrausch, dann fehlten Julian ein paar Stationen, und inzwischen saßen sie im Trash, definitiv dem letzten Laden, den er heute Abend betreten würde. Zumindest wohl der letzte, den er auch aufrecht wieder verlassen würde. Lag es nun tatsächlich daran, dass er so selten und wenn, dann nicht viel Alkohol trank, oder schüttete Marc das Zeug in sich hinein als wäre es Wasser? Er überlegte sich, ob Marc von Anfang an vorgehabt hatte, ihn abzufüllen, und es schien fast so, er wusste nur noch nicht zu welchem Zweck.
Jetzt wurden ihre Gläser gebracht, sie prosteten sich zu, und Marc erzählte weiter von seinem Trip im letzten Jahr nach Neuseeland. Er war dort mit einigen Freunden als Rucksacktourist drei Monate lang durch Land gestreift, nachdem er im Jahr zuvor in Afrika gewesen war, um den Kilimandscharo zu besteigen, und im nächsten Sommer sollte es in die endlosen Wälder Kanadas gehen, in eine einsame Berghütte ohne jeglichen Komfort, um wieder einmal von der Zivilisation abschalten zu können. Julian hörte ihm schon seit Stunden gespannt zu, vor allem, weil Marc nicht einfach nur Urlaub zu machen schien, sondern jedes Mal etwas herausragendes erlebte. Er wagte es kaum, von seinem eigenen Urlaub zu erzählen, der ihm dagegen blass und zu wenig spektakulär erschien. Sicher, auch er war schon rumgekommen, früher zusammen mit seinen Eltern und inzwischen gemeinsam mit Yasmin, aber das waren immer nur Ziele gewesen wie Ibiza, Kreta oder die Dominikanische Republik, also typische Touristenorte, die mit Marc Adventure-Tours wohl kaum mithalten konnten. Außerdem ließ sein Gegenüber ihn sowieso kaum zu Wort kommen, sondern erzählte mit einer Begeisterung, die Julian nur ungern unterbrechen wollte. Und selbst, wenn er nicht im Urlaub war, schien Marcs Leben ein ständiges Wechselbad der Gefühle zu sein, egal, welches Thema Julian anschnitt, Marc wusste aus eigener Erfahrung oder vom Hörensagen etwas dazu zu ergänzen, so dass Julian teilweise das Gefühl bekam, er habe die letzten vierundzwanzig Jahre seines Lebens im wohlbehüteten Schoß seiner Eltern gesessen und nichts von der Welt um ihn herum mitbekommen. Zum Glück aber ließ Marc ihm keine Zeit, weiter über dieses Thema nachzudenken, und außerdem wurde es mit jedem weiteren Glas schwächer und verschwand schon bald ganz, ebenso wie sein Zeitgefühl und der Gedanke an Yasmin, die zuhause vermutlich schon die Wände hochging.
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Marius hatte gerade Lena noch eine Geschichte vorgelesen, und sich dann ein wenig mit seinen Turntables beschäftigt, bevor er eigentlich ins Bett gehen wollte. Leider kam ihm aber sein Magen dazwischen, der jetzt hungrig knurrte, und so trieb es ihn in die Küche. Im Grunde wollte Marius ja abnehmen, das hatte er sich schon seit langem vorgenommen, denn er hatte mehr als nur ein paar Gramm zu viel auf den Rippen. Nur leider aß er viel zu gerne, und der Gedanke an den Becher Mousse au chocolat, der noch im Kühlschrank stehen musste, ließ all seine Pläne wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
Den Becher fand er sofort als er die Küche betrat, allerdings nicht im Kühlschrank, so wie er es erwartet hatte, sondern mitten auf einem hohen Berg nicht abgewaschenen Geschirrs, der sich über den gesamten Tisch erstreckte. Vor dem Tisch saß, zufrieden den Löffel ableckend, Yasmin.
„Oh, hey Marius, ich wusste gar nicht, dass du zuhause bist.“
„Bin ich aber“, entgegnete er tonlos, „Hat es denn geschmeckt?“
„Danke der Nachfrage, in Mousse au chocolat kann ich mich reinsetzen.“
„Schön. Ich könnte das auch.“
Yasmin sah ihn fragend an, dann schien sie zu verstehen und wechselte sofort betont unauffällig das Thema.
„Sag mal, hat mein Hasi dir vielleicht was gesagt, wo er heute noch hin wollte?“
„Nein, hat er nicht, sorry, ich weiß nicht, wo er steckt.“
Es interessierte ihn nicht im geringsten, wo Julian steckte, vielmehr trauerte er immer noch seinem Imbiss hinterher, aber er beschloss, Yasmins Themenwechsel als Entschuldigung anzunehmen und ihr zu verzeihen.
„Ähm... aber wenn du hier fertig bist, kannst du doch noch eben abwaschen, oder?“
„Was denn abwaschen?“
„Na was schon? Das Geschirr natürlich, was denn sonst?“
„Oh, ach das. Nee, das gehört mir nicht, das hat Tobi benutzt.“
Das sollte wohl so viel heißen wie: mach’s selbst, wenn es dich stört, und Marius fragte sich, ob er mit dem Verzeihen vielleicht etwas voreilig gewesen war. Yasmin nutzte die Gelegenheit des Augenblicks und verschwand, allerdings nicht, ohne vorher darauf hinzuweisen, dass Tobi schließlich auch nichts für andere tat, erst mittags aufstand, dann faul herumsaß und sich abends dann aus dem Staub machte, bevor ihn jemand vielleicht an seine Pflichten erinnern konnte. Ganz Unrecht hatte sie ja nicht, aber trotzdem war Marius der Auffassung, dass sie alle nicht ganz so schnell aufs Chaos zusteuern würden, wenn jeder auch mal bereit war, ein paar Aufgaben für den anderen zu übernehmen. Offenbar schien Yasmin davon allerdings nichts zu halten, und so machte er sich selbst daran, das Geschirr zu spülen und wieder an seinen Platz zu ordnen. Überhaupt mussten sie noch mal darüber nachdenken, wie sie Ordnung in die Küche brachten, denn im Moment hatte jeder seine Sachen in irgendeinen Schrank gestellt, und sobald man etwas suchte, musste man dafür genügend Zeit einplanen, da nichts mehr dort war, wo es noch gestern gestanden hatte.
Gerade als Marius den letzten Teller abgewaschen und weggeräumt hatte, hörte er die Haustür so laut ins Schloss fallen, dass er sich sicher war, Lena würde davon aufwachen und dann nicht wieder einschlafen können. Es waren Marc und Julian, die da müde und nicht mehr ganz gerade in den Flur schwankten, aber ihr vom Alkohol hervorgerufenes albernes Lachen verstummte urplötzlich als sie Yasmins wütendes Gesicht vor sich sahen.
„Wo kommst du denn her?“, fragte sie ihren Julian, ohne Marc auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Ach... äh... wir waren nach dem Training noch etwas trinken. Ich hoffe, du hast nicht auf mich gewartet, Schatzi.“
Sie schüttelte entnervt den Kopf und presste dann zwischen den Zähnen hervor: „Nein, natürlich nicht, Hasi, ich hatte sowieso nichts besseres zu tun als hier zu sitzen und mir Sorgen um dich zu machen.“
„Okay, entschuldige, aber ich wusste nicht, dass du dir Sorgen gemacht hast. Und außerdem hättest du mich ja anrufen können, ich hatte mein Handy dabei.“
„Ja, du hattest es dabei. Aber wie bitte soll ich dich erreichen, wenn du es ausgeschaltet hast?“
Ihre Stimme glich jetzt dem Fauchen eines Tigers, und Julian, Marc und auch Marius wichen gleichermaßen vor ihr zurück.
„Entschuldige, Schatzi, ich hätte anrufen sollen.“
„Das fällt dir erstaunlich früh ein.“
„Hey, sowas kann doch mal vorkommen“, rechtfertigte sich Julian, wobei ein flehender Unterton in seiner Stimme kaum zu überhören war, „Jetzt mach da doch bitte kein Drama draus.“
„Ich mache daraus bestimmt kein Drama, aber wenn dich mal anguckst, dann siehst du, dass du hier das Trauerspiel bist. So, und jetzt komm mit nach oben, ich bin müde.“
Gehorsam folgte Julian, und Marc und Marius ließen sie ratlos im Flur stehen. Als oben die Tür zuknallte, sah Marc Marius an, beide zuckten mit den Schultern, dann verschwanden auch sie in ihre Zimmer.
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Schon als Tobi aufgestanden war, hatte er schlechte Laune gehabt, und die hatte sich bisher noch nicht verflüchtigt. Angefangen hatte es damit, dass er zum Frühstücken in die Küche gegangen war, sich einen Kaffee machen wollte, und als er die Kaffeedose öffnete, spiegelte er sich im blechernen Boden. Toast war natürlich auch nicht mehr da, Milch sowieso nicht, wieso machte man dann überhaupt einen Einkaufsplan, wenn sich niemand daran hielt? Den Nachmittag hatte er vor dem Computer zugebracht, wo er sich in sein neues Spiel eingearbeitet hatte, doch nicht einmal das war ihm gelungen. Er war immer wieder im dritten Level rausgeflogen und wusste bis jetzt nicht, woran es lag. Inzwischen war er schon kurz davor, aufzugeben und im Internet nach einer Lösung zu suchen, nur leider hatte er heute Abend noch nichts vor, und wenn er jetzt schon mit dem Spiel durchkam, musste er sich für später noch einen Videofilm ausleihen, um nicht gänzlich gelangweilt herumzusitzen.
Gerade als er sich die Fernsehzeitung aus dem Wohnzimmer holen wollte, hörte er einen Schlüssel in der Haustür. Es waren Marc und seine Freundin Anna, außer den Avataren in seinem spiel die ersten Menschen, die er heute zu Gesicht bekam. Leider brachten auch sie keine Abwechslung, sondern verschwanden sofort in Marcs Zimmer, so dass sich Tobi wenig später auch noch die Geräusche ihres Liebesspiels anhören durfte. Zu seiner Laune trug das wenig bei, und eine Welle unbändigen Neids ergriff ihn. Warum um alles in der Welt hatte dieser Idiot von Marc eine Frau, bei der jedem Mann die Spucke wegblieb, und er saß hier alleine herum? Und dabei war Anna ja nicht einmal die einzige, die Marc nach der Pfeife tanzte, nein, immer dann, wenn Anna gerade keine Zeit hatte, schleppte er eine andere ab und später dann hier an. Was bitte wollte diese personifizierte Verführung von einem Kerl, der ihr nicht einmal treu war? Vielleicht wusste sie von den anderen Frauen ja auch gar nichts, auch wenn Marc immer wieder beteuerte, dass sie eine offene Beziehung führten und ihr das nichts ausmachen würde. Das schlimmste an der Sache war aber, dass Marc ja noch nicht einmal der einzige in diesem Hause war, dem es in dieser Hinsicht besser ging als ihm, denn immerhin hatte auch Julian eine Freundin, die zwar zickig, aber keinesfalls unattraktiv war. Ganz im Gegenteil, denn wenn man nicht auf das hörte, was Yasmin so von sich gab, ihr also den Mund zuklebte und sie an einen Stuhl fesselte oder so, dann war auch sie jemand, der gerne mal in seinen Träumen auftauchen dürfte, oder sogar mehr als bloß das. Somit war er der einzige hier, der völlig auf dem Trockenen saß. Naja, außer Marius, aber der war immerhin schon einmal verheiratet gewesen und hatte eine Tochter. Was bitte hatten Marc und Julian, was er nicht hatte? Okay, Marc konnte reden ohne Ende und war super sportlich, und Julian sah echt toll aus und hatte einen Vater, der ihm das Geld förmlich in den Hintern blies, aber das konnte doch schließlich nicht alles sein, was Frauen an Männern schätzten. Er konnte immerhin kochen, war ein guter Zuhörer, und wenn er seiner Schwester glauben konnte, war er durch nichts aus der Ruhe zu bringen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sie das tatsächlich als Kompliment gemeint hatte.
Jetzt hörte er, dass Marc und Anna sich in die Küche verzogen hatten, und bevor sie seine Weinvorräte plündern konnten, stieß er zu ihnen und begann ein belangloses Gespräch. Ihm war nur zu deutlich bewusst, dass er störte, und die Blicke seines Mitbewohners ließen keine Zweifel offen, doch die Küche war immer noch ein Gemeinschaftsraum, und wenn die beiden lieber allein sein wollten, stand es ihnen frei, sich zu verdrücken. Tobi überlegte, ob Anna überhaupt bewusst war, dass sie längst nicht die einzige für Marc war. Nur weil Marc immer wieder betonte, dass sie eine offene Beziehung führten, musste das schließlich noch längst nicht heißen, dass sie sich auch darüber im Klaren war, was das genau bedeutete. Vielleicht sollte er sie darüber aufklären, dachte er sich. Schließlich war sie in seinen Augen zu schade, um nur eine unter vielen zu sein, und da Marc kein Geheimnis aus seiner wirklich sehr offenen Beziehung machte, brauchte Tobi nicht ein mal ein schlechtes Gewissen haben, wenn er es zur Sprache brachte.
Er überlegte leider einen Augenblick zu lange, wie er das Thema anschneiden sollte, ohne plump zu wirken, denn gerade als er ansetzen wollte, hörte er einen Schlüssel im Schloss, hörte die Haustür zuschlagen, und kurz darauf stand Lena-Sophie vor ihnen.
„Hi Marc“, begrüßte sie die Runde, „ich habe mich extra beeilt, weil du mir versprochen hast, dass ich Tschaikowsky füttern darf, wenn ich rechtzeitig da bin.“
Marc lächelte gönnerisch und beschwichtigte sie dann: „Du hättest dich aber nicht so hetzen müssen, ich hätte nämlich auch auf dich gewartet. Du weißt doch ganz genau, dass Tschaikowsky sich lieber von dir als von mir füttern lässt.“
Daraufhin zwinkerte er Anna verschwörerisch zu, und die drei verschwanden in Marcs Zimmer. Schade, dachte Tobi, aber vielleicht hatte dieser blöde Zufall ihn ja auch davor bewahrt, etwas Unfaires zu tun, was er hinterher bereut hätte. Schade war es trotzdem. Wie lange dauerte es eigentlich noch bis Ostern? Er erinnerte sich nämlich dunkel an ein tolles Rezept, das prima zum Fest passen würde. Hase mit Rahmkartoffeln.
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Das Telefon klingelte, niemand nahm ab, es klingelte weiter, und schließlich erbarmte Marius sich doch, das Gespräch entgegen zu nehmen. Selbstverständlich war es nicht für ihn, wie immer, sondern für Yasmin. Vielleicht sollte er doch mal die Idee zu Sprache bringen, in jedem Zimmer ein eigenes Telefon aufzustellen. Vorher rief er jedoch Yasmin an den Apparat, setzte sich zurück an seinen Schreibtisch, doch gerade als er die Stelle in seinem Buch wiedergefunden hatte, an der er vom Telefon unterbrochen worden war, klingelte es erneut. Natürlich ging auch diesmal niemand ran, so dass er sich erneut vom Lesen abbringen ließ, diesmal jedoch nicht, ohne vorher einen Knick in die Seite zu machen.
„Ammer“, meldete er sich kurzangebunden.
„Tag, mein Name ist Hebeling...“
„Und wen wollen sie sprechen?“
„Wenn es möglich ist, den Hausbesitzer bitte.“
Na, das war doch mal etwas Neues, ein Anruf, der auch tatsächlich für ihn bestimmt war. Und er hatte schon überlegt, ob er sich nicht beim nächsten Mal mit „Hotel Ammer, was kann ich für sie tun?“ melden sollte. Allerdings sagte ihm der Name der Anruferin nichts, so dass er nachhakte. Es stellte sich heraus, dass die junge Frau wegen der Wohnungsanzeige anrief, sich also für das letzte freistehende Zimmer interessierte. Da Marius schon glaubte, es würde für alle Zeit leer stehen und als Abstellkammer dienen, vergaß er sofort, dass er lernen wollte und war ganz bei der Sache.
„Ja, das Zimmer ist noch zu haben. Wann wollen sie es sich ansehen?“
„Ich weiß nicht, ich will ja nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber wie wäre es mit heute Abend?“
Nichts lieber als das, nur würde das bedeuten, dass das Zimmer bis dahin leer sein müsste, sprich, all das Gerümpel auf die anderen Räume verteilt werden müsste. Aber egal, Hauptsache, er fand endlich einen Mieter, und schließlich waren sie ja genug Leute, die beim Aufräumen helfen konnten.
Der Termin wurde also gemacht, danach legte Marius auf und trommelte seine Mitbewohner zusammen. Wie durch ein Wunder, waren sogar mal alle zuhause. Er erklärte ihnen, was Sache war, und erwartete schon fast, dass sich jetzt einer nach dem anderen unter fadenscheinigen Ausflüchten verdrücken würde, aber nichts dergleichen passierte. Sie verdrückten sich schon, aber nicht, um die Flucht anzutreten, sondern schnurstracks nach oben, um dort mit anzupacken. Beinahe wie im Zeitraffer wurden Kartons, Kisten und Möbelstücke weggeschleppt, es wurde aufgeräumt, der Fußboden wurde gesaugt, und Lena schlug sogar vor, die Fenster zu putzen, was sie mit Yasmins Hilfe dann auch tat.
Eine Stunde später blitzte der Raum wie frisch renoviert, und ebenso die Augen der Hausbewohner, die nun alle in der Küche hockten und gespannt auf ihre neue Mitbewohnerin wartete. Und als es an der Tür klingelte, wollten Julian und Marc fast gleichzeitig aufspringen, um zu öffnen. Dummerweise kam Lena ihnen zuvor, so dass sie sich wieder hinsetzten, um nicht noch mehr wie kleine Kinder zu wirken, die auf den Osterhasen warteten. Die junge Frau, die Lena mit in die Küche brachte, lächelte etwas verwundert als sie ihr Empfangskomitee erblickte, und ähnlich erging es den anderen auch. Den Herren der Runde, insbesondere Marc und Tobi, klappte fast die Kinnlade herunter, weil sie sich wer weiß was versprochen hatten, und die junge Frau, die jetzt in der Tür stand, entsprach wohl nicht so ganz ihren Erwartungen. Frau Hebeling war relativ groß, alles andere als schlank, zudem war sie in mittelalterlich angehauchte schwarze Gewänder gehüllt, ihr Gesicht war weiß geschminkt, wobei die Augen schwarz betont waren, und ihre ebenso schwarze Mähne hatte, wenn Marius nicht alles täuschte, einen Stich ins Lila. Mit einer waschechten Gothic hatte wohl keiner von ihnen gerechnet, und selbst Lena, die ja sonst die wenigsten Probleme hatte, auf Menschen zuzugehen, brauchte einen Moment, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
„Bist du eine Hexe?“, rutschte es ihr heraus.
„Nein, bin ich nicht“, entgegnete die Angesprochene ruhig lächelnd, so als sei ihr diese Reaktion nicht fremd, „ich bin eine Zauberin, aber eine gute, und ich beschütze die Menschen vor bösen Hexen.“
Na dann. Da die anderen noch immer nicht wussten, was sie sagen sollten, und mühsam um Fassung rangen, erhob sich Marius, in der Hoffnung, er hatte seiner neuen potentiellen Mieterin nicht jetzt schon alles vergrault. Immerhin war sie nur eine Gothic, und kein Wesen von einem anderen Stern, dachte er peinlich berührt von seiner eigenen Reaktion, und konnte dabei doch den Blick nicht von ihrem Nietenhalsband lassen.
„Also, ich glaube, dann sollte ich dir mal dein Zimmer zeigen... äh...“
„Kira.“
„... Kira.“
Sie folgte ihm nach oben, allmählich kehrte auch die Neugierde der anderen zurück, und schließlich standen sie alle in dem frisch aufgeräumten Zimmer mit der gemütlichen Dachschräge. Kira sah sich kurz um, erkundigte sich nach den Formalitäten, dann erklärte sie, an alle gewandt, dass sie das Zimmer nehmen würde, wenn sie sie denn als neue Mitbewohnerin akzeptieren würden. Da die Überraschung jetzt endgültig verschwunden war, und ihnen die Situation in der Küche ziemlich peinlich war, nickten sie sofort eifrig, womit also der Einzug der Neuen beschlossene Sache war.
Es wurde abgemacht, dass Kira am kommenden Freitag einziehen würde, viele Möbel besitze sie ohnehin nicht, dafür aber fragte sie, ob sie die Wände schwarz streichen dürfe, selbstverständlich könne sie das machen, wie sie wolle, einen Stellplatz für ihr Auto gab es natürlich auch, das brauche sie dringend, um zur Arbeit zu kommen, alles kein Problem. Was sie denn beruflich machte, wollte Marius noch wissen. Kira gehörte ein Tattoo- und Piercingstudio, hinten zur A30 raus, nicht groß, aber in der Szene relativ renomiert. Danach verabschiedete sie sich und ließ sechs verwirrte Hausbewohner zurück.
Marius schämte sich noch immer für seinen Auftritt beziehungsweise Nicht-Auftritt, sie alle hatten Kira angestarrt wie etwas außergewöhnliches, und das nur, weil ihre Kleidung vielleicht etwas weniger der Norm entsprach als die der anderen. Und dabei waren sie alle auch bestimmt nicht das, was man als Mainstream bezeichnete. Vielleicht würde er ja in Zukunft Gelegenheit finden, die Peinlichkeit wieder auszubügeln, denn immerhin schien Kira ja sehr nett, vielleicht bodenständiger als einige von ihnen und alles andere als eine Hexe oder Zauberin zu sein.
*****
Yasmin und Julian gingen ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, sie gingen shoppen. Natürlich nicht einfach so, eine gute Freundin von Yasmin feierte Samstag Abend eine Party, sie beide waren eingeladen, und dazu mussten sie sich eben noch neu einkleiden und vor allem ein Geschenk besorgen. Selbstverständlich führten ihre Wege sie nicht zu H&M, denn Yasmin wollte nichts von der Stange, aber auch nicht in die Boutique, in der sie arbeitete, denn das war ihnen beiden zu teuer, selbst wenn sie dort ihren Personalrabatt bekam. Also musste etwas dazwischen gefunden werden, zwar chic und ausgefallen, aber nicht zu overdressed, keine leichte Aufgabe, aber immer noch ein Kinderspiel im Vergleich zu der Suche nach einem passenden Geschenk. Im Moment nervte Yasmin ihn aber wieder einmal mit der ständigen Frage, warum er ausgerechnet in einem Laden arbeiten musste, der in jeder Stadt gleich aussah und sich nicht endlich um etwas bemühen konnte, was mehr Ansehen einbrachte. Immer wieder dieselbe Diskussion.
„Weil ich mit dir hier unterwegs bin, Schatzi, und das bringt mir mehr als genug Ansehen ein.“
„Ist ja schon gut, Hasi, ich meine es ja nur gut.“
Sicher, sie meinte es immer nur gut. Ab und zu ging ihm ihr Gutmeinen nur schrecklich auf die Nerven. Aber wenn er ihr das jetzt auch noch gesagt hätte, wäre der Tag gelaufen, die Stimmung im Eimer, und sie hätten gleich wieder nach Hause gehen können. Ohne Geschenk und ohne Klamotten.
„Wollen wir erst mal zu L&T reinschauen? Vielleicht finden wir da ja schon was.“
Sie stöberten also durch die Geschäfte, fanden schließlich auch etwas, was ihrer beider Ansprüchen genügte, nur die Idee für ein Geschenk fehlte ihnen immer noch. Julian machte einige Vorschläge, aber entweder besaß die Freundin das schon, oder Yasmin fand es zu albern, zu gewöhnlich, zu kitschig, zu unpersönlich, zu langweilig, zu armselig, zu üppig oder zu aufgesetzt. Was bitte kann an einem Geschenk aufgesetzt sein, wollte Julian gerne wissen, doch er formulierte die Frage nicht laut, wer weiß, was das wieder für Diskussionen ausgelöst hätte. Manchmal fühlte er sich richtig schlecht, wenn er so über Yasmin dachte. Sie war vielleicht schwierig, und eventuell war sie auch in manchen Dingen zu rigoros, trotzdem war das aber noch lange kein Grund für ihn, schlecht über sie zu denken, denn immerhin liebte er sie über alles und konnte in der Tat stolz sein, dass er mit ihr zusammen war.
„Können wir nicht mal ne Pause machen und im Extrablatt oder so einen Kaffee trinken?“, fragte Yasmin.
„Klar, gerne, Schatzi.“
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, kämpfte sich dann durch die Passanten und sicherte ihnen einen Tisch, von dem aus sie auf die Fußgängerzone blicken konnten. Andere Leute anzugucken und gegebenenfalls über sie zu lästern, war eine zu schöne Beschäftigung als dass sie sie sich hätte verkneifen können.
„Sag mal, Hasi“, fragte sie Julian, „was denkst du eigentlich über diese Kira?“
Julian schaute sie fragend an.
„Was soll ich schon denken, ich kenne sie ja noch kaum.“
„Ja, aber du hast immerhin einen ersten Eindruck. Und versuche mir nicht weiß zu machen, dass du den nicht hast.“
„Okay, im ersten Augenblick war ich schon etwas geschockt, das gebe ich zu...“
Yasmin musste lachen.
„Das wart ihr ja wohl alle. Ich möchte echt mal wissen, was ihr Jungs erwartet habt, wer da bei uns einziehen soll.“
Julian konnte sich ein Grinsen auch nicht verkneifen, redete sich dann aber damit heraus, dass er sich wohl von der Euphorie der anderen hatte anstecken lassen. Yasmin glaubte ihm das natürlich aufs Wort, denn erstens logen Männer nie, und zweitens denken sie, wenn sie in einer Beziehung sind, niemals an andere Frauen.
„Wenn ich aber länger drüber nachdenke, finde ich es gut.“
„Was findest du gut?“, hakte Yasmin nach, die jetzt den Faden verloren hatte.
„Na, Kira. Ich finde es klasse, dass sie ihr Ding durchzieht, dass sie individuell ist und sich nicht abschrecken lässt.“
„Da kannst du Recht haben. Es hat schon was mit Stärke zu tun, so zu sein wie man ist, und sich nicht zu verstellen.“
„Weißt du“, fuhr Julian jetzt nachdenklich fort, „manchmal möchte ich auch ganz anders sein. Einfach in eine andere Rolle schlüpfen und etwas völlig Neues ausprobieren.“
„Wie meinst du das denn jetzt? Bist du etwa so, wie du jetzt bist unglücklich?“
„Nein, natürlich nicht, aber trotzdem würde ich gerne mal etwas anders machen, anders sein, nur um zu sehen, wie das wäre. Du etwa nicht?“
Nein. Sie war so glücklich wie es war. Sie hatte einen tollen Freund, einen lukrativen Job, rosige Zukunftsaussichten und endlich sogar eine gemeinsame Wohnung mit Julian. Warum sollte sie da etwas anders machen wollen?
„Kannst du nicht verstehen, dass man ab und zu auch mal über den Tellerrand gucken möchte?“
„Nein. Zumindest nicht, wenn alles zufriedenstellend ist.“
„Also ich würde trotzdem gerne mal in eine andere Haut schlüpfen.“
„Du hast dir gerade neue Klamotten gekauft. Schlüpf da rein und genieße das, was du hast. Besser wird es nicht.“
*****
Ihre neuen Mitbewohner staunten nicht schlecht als sie sahen, wie wenig Möbel und andere Besitztümer Kira aus ihrem kleinen Auto in ihr neues Zimmer zu bringen hatte. Tobi, Julian, Yasmin und Marius halfen ihr, und so dauerte es keine zehn Minuten, bis sie alles vertaut hatten. Kira kam nun einmal mit sehr wenig aus, den meisten Platz nahmen ihre Bilder ein, die sie zunächst alle in eine Ecke stellte. Welche sie davon aufhängen würde, konnte sie auch später noch entscheiden, wichtig war, dass ihre Staffelei einen Platz fand, und natürlich ihr Bett mitsamt der Stereoanlage, viel mehr brauchte sie nicht, da sie sich ohnehin meistens in ihrem Studio aufhielt. Trotz allem war sie froh, endlich aus ihrem alten Zimmer heraus zu sein, denn wenn sie noch länger dort gewohnt hätte, wäre sie vermutlich völlig vereinsamt. Sie musste dringend mal wieder unter Menschen, nicht nur, um ihre letzte gescheiterte Beziehung und den Aufenthalt im Krankenhaus zu vergessen, sondern auch, um sich nicht total aus der Wirklichkeit auszuklingen. Tattoos und Piercings stechen, in depressive Musikwelten zu versinken und Fantasybilder zu malen war zwar immer noch ihr Lebensinhalt, konnte jedoch bei weitem nicht alles sein, und darum war sie froh, endlich wieder Menschen um sich zu haben, deren Interessen weiter gefächert zu sein schienen. Zunächst lenkte sich deren Interesse allerdings ausschließlich auf ihre Bilder, und Tobi stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
„Sind die alle von dir?“
„Ja, klar, weißt du, ich brauche das Malen einfach, um mich manchmal in andere Welten zu versetzen.“
„Die sind wunderschön“, bestätigte jetzt auch Julian, „wie kommst du denn auf die ganzen Ideen?“
Kira zuckte mit den Schultern und antwortete lachend: „Ich habe doch gesagt, dass ich eine Zauberin bin. Das sind alles Landschaften, die ich schon mal besucht habe.“
Und dann setzte sie hinzu: „In meiner Phantasie zumindest.“
Jetzt wollte auch Marius einen Blick auf ihre Bilder werfen, am liebsten auf alle, und wenig später lagen unzählige Einblicke in die fremden Welten ihrer Phantasie auf dem Fußboden verstreut. Tobi war begeistert von ihrem Schlachtengemälde, auf dem einige Ritter gegen einen Drachen kämpften, Marius war von der alten Burg, die über einem endlos tiefen Abgrund thronte ganz angetan, Julian gefiel ihre Prinzessin besonders, die leichte Züge von Kira selbst aufwies, und Yasmin konnte sich an den Zeichnungen von Fabelwesen gar nicht satt sehen. Wenn sie nicht alle Bilder in ihrem Zimmer unterbringen könne, schlug Marius vor, dürfe sie auch gerne einige unten im Wohnzimmer aufhängen. Kira fühlte sich geschmeichelt, und sie musste sich anstrengen, um nicht rot zu werden.
Sie fühlte sich wie in eine große Familie aufgenommen, nur dass sie leider ihre neuen Freunde noch kaum kannte. Aber es tat ihr gut, soweit sie das bis jetzt beurteilen konnte, vielleicht würde sie zu ihnen echte Freundschaften entwickeln können.
„Wollen wir uns heute Abend, wenn Marc wieder da ist, nicht alle zusammen setzen, um uns ein bisschen besser kennen zu lernen?“, fragte Marius schließlich.
„Klar, von mir aus gerne“, stimmte Yasmin ihm nickend zu, „jetzt bin ich ja auch endlich nicht mehr die einzige Frau im Hause.“
„Und was habt ihr vor? Wollt ihr vielleicht lustige Kennlernspielchen spielen?“
„Na sicher, warum denn nicht?“, schlug Yasmin gutgelaunt vor, „Wir haben früher immer 'Wahrheit oder Pflicht' gespielt.“
Tobi bekam vor Lachen beinahe keine Luft mehr als er ihren Vorschlag hörte, dann stockte er kurz und kam zu der Einsicht, dass es zwar bekloppt, aber trotzdem ganz lustig sein könnte.
„Bei uns hieß das früher 'Leichen im Keller'“, erklärte Marius, „und ehrlich gesagt, konnte es dabei ganz schön zu Sache gehen, weil manchmal Sachen zur Sprache kamen, mit denen niemand gerechnet hatte.“
„Soll das jetzt heißen, du hast Angst, mit uns dieses Kinderspiel zu spielen?“
Auch Kira konnte sich noch gut an dieses Spiel erinnern, dass sie früher manchmal mit ihren Freundinnen gespielt hatte. Marius hatte schon Recht, denn manchmal waren dabei Leichen zutage gefördert worden, an denen später Freundschaften zerbrochen waren. Trotzdem willigte sie ein, mitzumachen, denn sie war gespannt, was dabei herauskommen würde. Bisher hatte sie zwar einen ersten Eindruck von jedem hier, schätzte zum Beispiel Yasmin und auch Tobi so ein, dass sie gerne mal für Streit sorgten, um die anderen zu testen, hielt Julian für ein kleines Weichei, und Marius war in ihren Augen zu gutmütig und ließ sich leicht ausnutzen. Aber das waren alles nur erste Eindrücke, die sich noch lange nicht bestätigen mussten. Vielleicht jedoch würden sie sich heute Abend festigen oder aber widerlegen, zumindest war sie sehr gespannt auf das Spiel, wenn auch gleichzeitig etwas skeptisch, weil sie auf keinen Fall jemanden zu nah an sich heranlassen wollte.
*****
Jetzt war er endlich den Anfängerkurs los, und nun klappte auch bei seinem Fortgeschrittenenkurs nichts so, wie es sollte. Marc war am Verzweifeln, denn egal, wie oft er seinen Schülern die Schritte erklärte oder vortanzte, sie bekamen es nicht auf die Reihe. Vielleicht stellte er ja auch zu hohe Ansprüche, wie ihm sein Chef neulich tröstend gesagt hatte, aber wenn man tanzen lernen wollte, sollte man gefälligst auch ein wenig Engagement an den Tag legen. Black Music hören und jeden Satz mit „krass, Alter“ zu beginnen, machte leider noch keine HipHop-Formation aus. Heute war jedenfalls echt der Wurm drin. Bis auf die Kleine in der letzten Reihe, die ihn immer so anhimmelte, und deren Namen er sich bis heute nicht merken konnte, tanzten sich hier alle den größten Müll zusammen. Also machte er es nochmals und nochmals vor, probierte eine Reihe von Musikstücken aus, um die Gruppe dadurch anzuspornen, aber es half nichts, wenn sie auch die Standarttänze hinbekamen, zum HipHop reichte es einfach nicht aus.
Um nicht völlig entnervt zu sein, machte er zehn Minuten eher Schluss, schickte die Truppe nach Hause und freute sich, dass er dadurch wenigstens einmal pünktlich beim Judotraining sein würde. Offensichtlich hatte er sich zu früh gefreut, denn nachdem er seine Sachen gepackt und den Vordereingang abgeschlossen hatte, lief ihm die Kleine aus der letzten Reihe mit flehendem Blick über den Weg. Ihre Schwester wollte sie abholen, erklärte sie, aber da sie ja eher Schluss gemacht hatten, war sie noch nicht da, und weil es so dunkel war, hatte sie angst, alleine hier zu warten. Marc stöhnte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken, und wartete scheinbar geduldig mit seinem Schützling auf dem Parkplatz. Zum Glück nur fünf Minuten, denn dann traf ein Auto bei ihnen ein, hinter dem Steuer die Schwester der Kleinen und ihr genaues Ebenbild, nur eben zehn Jahre Älter und damit eine echte Belohnung fürs Warten. Marc begrüßte sie kurz, tat völlig unbeeindruckt, obwohl er seine Blicke kaum von dieser Schönheit lassen konnte, und dann fragte er ganz beiläufig, warum sie denn nicht auch tanze. Ihre Schwester sei ja so gut darin, und oftmals liege sowas doch in der Familie. Er fragte sich schon, ob er zu dick aufgetragen habe, doch er erntete ein geradezu umwerfendes Lächeln, das ihn vom Gegenteil überzeugte. Scheinbar war sie einigermaßen angetan von seinen Komplimenten, und so hatten sie es beide nicht eilig, wegzukommen. Sie hatte etwas Fesselndes, musste er sich eingestehen, es war ihr Aussehen, ihre Art, einfach alles, was ihn in ihren Bann zog, und offenbar fand sie ihn auch nicht gerade abstoßend, denn als ihre kleine Schwester schließlich drängelte, bat sie sie nur knapp, sie solle sich gedulden.
Marc war es zu blöd, sie hier und jetzt, und noch davor vor seiner Schülerin anzubaggern, aber da er sie auch nicht einfach so fahren lassen wollte, bat er sie, doch wenigstens mal früher vorbeizukommen und sich zu überlegen, ob sie nicht doch mit dem Tanzen anfangen wollte. Den Hinweis, dass er ihr auch liebend gerne Privatunterricht geben würde, verkniff er sich, denn schließlich hatte auch er seinen Stolz. Mit einem Lächeln willigte sie ein, erkundigte sich noch, wann er denn hier wäre, um sie zu beraten, dann gab sie dem Drängeln ihrer Schwester nach und gab Gas.
Es fiel Marc schwer, sich nach dieser Begegnung noch voll aufs Training zu konzentrieren, viel lieber hätte er sich die ganze Zeit geohrfeigt, weil er sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte und sich ja auch an den ihrer Schwester nicht erinnern konnte. Und als Julian ihm dann auch noch offenbarte, dass sich heute Abend alle Hausbewohner zusammensetzen würden, um mit der Neuen Kennlernspielchen zu spielen, war der Ansatz von guter Stimmung, den er eben noch verspürt hatte, auch schon wieder verflogen.
*****
Marius war mehr als gespannt, was der Abend noch bringen würde. Bis auf Marc und Julian, die noch beim Training waren, saßen sie alle in der Küche und checkten die Vorräte an Wein und Knabbersachen für den Abend. Marius kannte seine Mitbewohner inzwischen gut genug, um zu wissen, dass es vermutlich nicht bei einem harmlosen Spiel bleiben würde.
Als Marc und Julian eintrafen, wurden kurz die Spielregeln erklärt. Es ging darum, einen aus der Gruppe zu nominieren, dieser durfte dann zwischen Wahrheit und Pflicht wählen, und je nachdem, wie er sich entschieden hatte, musste er entweder eine Frage beantworten oder etwas tun, was ihm auferlegt wurde. Marc schien zunächst gar nicht begeistert, aber er ließ sich dennoch überreden, mitzuspielen, und schon ging es los. Yasmin fing an.
„Tobi.“
„Ich nehme Pflicht.“
„Oh, so mutig hatte ich dich gar nicht eingeschätzt. Gut, dann mach mal die Chips auf und schenk uns allen was zu trinken ein.“
Tobi tat wie ihm geheißen, was Yasmin sichtlich genoss, und als für das leibliche wohl gesorgt war, fuhr er fort.
„Ich nominiere Kira.“
„Wahrheit.“
„Okay, gut. Dann erklär uns bitte, warum du so in Schwanz herumläufst. Willst du einfach auffallen, ist es bloß die Gothicszene oder was steckt dahinter?“
„Was soll schon dahinter stecken? Es ist so, dass mir das gefällt, ich höre die passende Musik und kann mich mit der Szene anfreunden, warum sollte ich mich also nicht so anziehen? Okay... ich nehme Marc dran.“
„Ich hätte gerne die Pflichtaufgabe.“
„Ach du Schande. Na gut, also du schließt jetzt die Augen, machst den Mund auf und schluckst, egal, was ich dir gebe.“
„Das ist doch kindisch.“, platzte es Marc heraus, der keinen Hehl daraus machte, dass ihm das spiel nicht gefiel.
„Das ist nicht kindisch, du traust dich nur nicht.“, stachelte Yasmin.
Irgendwann ließ er sich aber breitschlagen, schluckte brav den von Kira gereichten Mix aus Wein und einem Schluck Milch, verzog angewidert das Gesicht, und es konnte weitergehen. Anfangs blieben die Fragen und Pflichten noch auf dieser Ebene, irgendwann fiel dann niemandem mehr etwas blödes ein, was man als Pflichtaufgabe hätte verlangen könnte, die Option wurde bald fallengelassen, und dafür wurden dann die Fragen subtiler und erreichten ein in Marius Augen gefährlicheres Niveau.
„Marc, wenn du mit einer Person, die du liebst, machen könntest, was du willst, was würdest du tun?“
„Wenn ich mit jemandem machen könnte, was ich wollte, würde ich ihn nicht lieben.“
Marc wählte Yasmin und fragte sie: „Sag mal, bist du mit Julian eigentlich nur zusammen, weil er dir aus der Hand frisst, oder gibt es noch andere Gründe?“
Yasmins Mine versteinerte sich für einen Augenblick, dann aber gewann sie ihre Beherrschung zurück und antwortete beiläufig: „Ich schätze mal, das Wort 'Liebe' sagt dir nichts, aber es trifft auf uns zu. Tobi, also wenn du mittags aufstehst, dann in den Spiegel schaust und wieder mal feststellst, dass du nichts aus dir machst, kommst du dir dann nicht manchmal selbst wie ein Versager vor?“
Tobi hatte ihr zuvor auch schon etliche gemeine Fragen gestellt, doch jetzt reichte es Marius und er erinnerte sie alle daran, dass dies hier ein Spiel und keine Schlammschlacht war.
„Okay, okay, ich mache weiter“, lenkte Tobi ein, „Julian...“
„Ja?“
„Denkst du beim Wichsen eigentlich immer an Yasmin oder manchmal auch an andere Frauen?“
Jetzt war es Julian, der kurzzeitig versteinerte, aber auch er fing sich wieder und antwortete dann ruhig: „Nein, ich denke ausschließlich an Yasmin dabei.“
„Wie bitte?“, brauste Yasmin jetzt auf und erntete damit fragende Blicke der anderen, „Seit wann hast du sowas denn nötig? Genüge ich dir etwa nicht?“
Bevor Julian noch etwas Beschwichtigendes sagen konnte, stand sie auf, verließ die Küche und knallte die Tür hinter sich zu.
Genau das hatte Tobi offenbar beabsichtigt, denn er kam aus dem Lachen nicht mehr heraus, und auch Marc fiel mit ein, worauf sich Julian reichlich pikiert auch aus dem Staub machte. Marius warf Kira einen Blick zu, um abzuschätzen, ob sie in diesem Moment daran dachte, gleich wieder aus diesem Tollhaus auszuziehen, doch sie lächelte nur.
„Ich schätze, wir sollten das nächste Mal besser im Wohnzimmer spielen, sonst fliegen am Ende noch Teller, Tassen und Messer durch die Gegend.“
*****
Wenn man schlecht drauf ist, sollte man auf keinen Fall den Tag mit Hausarbeit beginnen, und schon gar nicht mit dem Putzen des Klos. Es konnte dann nämlich passieren, dass beide Wirkungen sich multiplizierten und man heruntergesogen wurde in die tiefste Kanalisation einer Depression. Dummerweise hatte diese Weisheit noch niemand aufgeschrieben, und darum hatte Marius sie auch nicht lesen können, bevor er mit dem Saubermachen begonnen hatte. Gereinigt werden musste das Bad aber sowieso, und Dusche, Waschbecken und Toilettenschüssel war es ziemlich egal, ob er dabei gut oder schlecht gelaunt war.
Selbst wenn Kira gestern Abend gefasst reagiert hatte, ärgerte sich Marius über die lächerliche Show, die sie allesamt abgezogen hatten, und dass er jetzt den Dreck seiner Mitbewohner wegmachen musste, heiterte ihn nicht gerade auf. Wenn sich die männlichen Bewohner des Hauses doch wenigstens daran gewöhnen könnten, im Sitzen zu pinkeln, fluchte er vor sich hin, während er mehr oder weniger eifrig den Wischlappen schwang. Falls er noch einmal eine WG gründen würde, müsste er unbedingt darauf achten, nur Frauen bei sich aufzunehmen, denn bei denen kam es in der Regel seltener vor, dass sie im Stehen in die Keramikschüssel zielten. Vielleicht hatte es ja was damit zu tun, die Überlegenheit des eigenen Geschlechts zu demonstrieren, denn sonst gab es in dieser emanzipierten Welt ja selten genug Gelegenheit dazu.
Wenn er es sich früher, als Karina noch für die Reinigung der Räumlichkeiten zuständig gewesen war, erlaubt hätte, im Stehen zu urinieren oder auf jede erdenkliche andere Weise für Dreck oder Unordnung zu sorgen, die vermeidbar gewesen wäre, hätte das ein mittleres Erdbeben und einen kurzen aber präzisen Wutausbruch zur Folge gehabt. Daraufhin hätte er versucht, sein Verhalten zu ändern oder aber wenigstens zu verschleiern. Wenn er jetzt seine Mitbewohner darauf ansprach, dass er sich etwas schöneres vorstellen konnte als auf den Knien über die Badezimmerfliesen zu rutschen, erntete er nur müde Zustimmung, die zum Ausdruck bringen sollte, dass alle anderen es genauso sahen, aber Mittel und Wege gefunden hatten, diese Aufgabe auf ihn abzuwälzen.
Er war sich immer noch nicht sicher, ob man das, was er durchmachte als Gewöhnungsphase an eine veränderte Situation bezeichnen sollte oder ob er tatsächlich überlegte, ob es besser gewesen wäre, weiterhin allein mit Lena zu leben. Wie auch immer, er konnte die Uhr nicht zurückdrehen, auch wenn er sich das mehr als einmal im Leben gewünscht hätte. Zum Beispiel damals, als er mit seiner ersten großen Liebe in einem Anflug von Unzurechnungsfähigkeit Schluss gemacht hatte. Eine Woche später war er wie ein Hund zu ihr gekrochen, hatte um Gnade gewinselt und sie auf Knien angefleht, sie solle alles vergessen, was er gesagt hatte, denn er liebe sie immer noch und würde am liebsten seinen Fehler ungeschehen machen. Leider wurde sein Betteln nicht erhört und eine Maschine zum Zurückdrehen der Zeit hatte er trotz intensiver Nachforschungen auch nicht gefunden. Inzwischen hatte er gelernt, mit Fehlern zu leben und das beste aus einer neuen Situation zu machen. Zumindest dachte er das.
Wie hieß es doch so schön? Das Leben ist wie eine Klobrille – man macht viel durch. Nein, sagte Marius sich, während er den angeblich umweltfreundlichen aber dafür teuren Reiniger in die Kloschüssel kippte, ein paar Unterschiede zwischen dem Leben und seinem Klo gab es doch. Zum Beispiel konnte man den Dreck im Klo relativ leicht entfernen, während das im Leben meistens nicht möglich war. Und die Vorstellung einer Toilette, in der alles, was sie erlebt hatte, für immer sichtbar war, behagte ihm auch nicht sonderlich.
„Papa?“, hörte er plötzlich Lenas Stimme hinter sich, „was machst du denn da?“
„Ach, eigentlich gar nichts, außer, dass ich das Klo saubermache und dabei über das Leben philosophiere. Aber ansonsten bin ich völlig normal.“
Lenas Kopfschütteln deutete an, dass sie ihn nicht verstand, aber das war wohl auch nicht wichtig. Hauptsache, seiner Tochter ging es gut und er konnte verhindern, dass sie ihm später einmal Vorwürfe über eine schlechte Kindheit machen würde.
„Du hattest doch gesagt, wir wollen noch in die Stadt gehen, weil du dir ne neue Platte kaufen wolltest und ich sollte ein Spiel aussuchen, dass wir alle zusammen spielen können.“
Marius erinnerte sich an sein Versprechen, war erstaunt, dass Lena ihm wie selbstverständlich half, die Putzutensilien wegzuräumen, dann gingen sie gemeinsam einkaufen, und nach und nach stellte sich bei Marius die Erkenntnis ein, dass man auch im Leben manches zum Glänzen bringen konnte, wenn man nur lange genug schrubbte.
*****
Manchmal war sie unsicher, ob sie alles richtig machte. Oft genug sagten Freunde ihr, dass sie selbstsicher, zielstrebig und manchmal sogar arrogant wirkte, aber nur die wenigsten wussten, dass diese starke Persönlichkeit im Grunde nur ein Schutzmechanismus war. Schon als Kind hatte Yasmin gelernt, sich so zu verhalten, dass sie immer das erreichte, was sie wollte. Und meistens hatte sie genau das auch bekommen. Bei ihren Eltern hatte sie einen Schmollmund aufgesetzt oder ein paar Tränen hervorgequetscht, um ihre Ziele durchzusetzen, später hatte sie dann gelernt, die Waffen einer Frau beziehungsweise ein umwerfendes Lächeln oder aufreizende Blicke und Gesten ins Spiel zu bringen, und bisher war ihr alles gelungen, was sie sich vorgenommen hatte. Dennoch wusste sie nie, ob sie es ihretwegen oder nur aufgrund ihres Auftretens erreicht hatte. Selbst bei Julian war sie sich manchmal nicht sicher, ob er nun ihre Persönlichkeit liebte oder nur von ihrem Aussehen und ihrer Art beeindruckt war. Sie hasste es, wenn er vor Freunden und Bekannten immer wieder betonte, wie stolz er doch auf seine hübsche Freundin war, die sich noch dazu von niemandem etwas gefallen ließ. Wenn er so redete, kam sie sich oft vor wie eine oberflächliche, gefühllose Maske, hinter der sich nicht auch ein unvollkommener und oft unsicherer Mensch verbarg. Sicher hatte sie sich selbst diese Fassade aufgebaut, genau wie sich wahrscheinlich jeder andere Mensch auch ein Image zulegte, das seine Schwächen überspielte, aber wann immer sie aus ihrer Rolle schlüpfte und vielleicht einfach nur wie ein kleines Kind zärtlich in den Arm genommen werden wollte, reagierten ihre Mitmenschen mit Unverständnis und konnten die Situation nicht einordnen. Weder ihre Freunde, noch Julian wollten wahrhaben, dass auch sie ab und zu Schwächen zeigen musste, und sie selbst konnte nicht einfach aus sich heraus und andere um Zärtlichkeiten anbetteln. Vielleicht war sie ja oft nicht gerade einfach zu handhaben, eben weil sie ihren eigenen Kopf hatte, aber es kränkte sie, dass, wenn jemand aus ihrem Freundeskreis ein Problem hatte, sie die letzte war, die es erfuhr, oder die um seelischen Beistand gebeten wurde.
Und bei Julian war es ähnlich. Sie wusste, dass er sie liebte, und das war nicht das Problem, aber er fraß ihr sozusagen aus der Hand, war immer zur Stelle, wenn es um oberflächliche Dinge ging, nur den wahren Halt geben, das konnte er nicht. Wenn sie offen mit ihm über ihre Gefühle sprach, stimmte er ihr stets zu, gab ihr allerdings auch zu verstehen, dass sie sich doch um nichts zu sorgen brauchte, denn sie war ja die starke, selbstsichere Karrierefrau, der niemand etwas konnte. Und seine eigenen Probleme machte er auch entweder mit sich selbst aus oder schluckte sie herunter. Yasmin hatte im Grunde keine Ahnung, was in ihm vorging, denn darüber redeten sie nicht, das behielt er für sich und tat ihr gegenüber so als sei er ebenso gefestigt wie das Bild, das er von ihr hatte.
Inzwischen hatte sie sich mit der Situation abgefunden, redete sich ein, es müsse so sein, und im Grunde lief es ja auch. Der Punkt, der sie verunsicherte und aus der Bahn warf war Tobi. Seine ewigen Sticheleien, seine zynischen Kommentare, sein spöttisches Grinsen, all das ging ihr tiefer als sie zugeben wollte. Manchmal hatte sie das Gefühl, er machte sich über sie lustig, und dann kam es ihr wieder vor als könne er sie genauestens durchschauen und in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Es gab Momente, das war sie kurz davor, sich ihm in die Arme zu werfen, doch meistens machte er sie wütend. Es regte sie auf, dass er niemals direkt kritisierte, sondern immer nur bei Andeutungen blieb, und dann fragte sie sich auch, was ihn das alles überhaupt anging. Wenn sie mit Julian stritt, konnte sie sicher sein, dass Tobi nicht schwieg, und wenn sie mit ihm glücklich war, ließ Tobi garantiert einen Spruch ab, der sie, auch wenn es sie ärgerte, wie eine Pfeilspitze traf. Was fiel dem überhaupt ein, sich einzumischen? Sie hatte keine Ahnung, warum er es immer wieder darauf anlegte, sie auf die Palme zu bringen, sie war sich nur sicher, dass es, wenn das so weiterging, in nicht allzu langer Zeit gewaltig knallen würde.
*****
Die Schule hatte Lena immer Spaß gemacht, das Lernen fiel ihr leicht, Frau Lehmann, ihre Lehrerin, war wirklich nett, und außerdem sah sie hier jeden Tag ihre Freundinnen. Alles wäre sogar noch schöner gewesen, wenn die blöden Jungs nicht wären. Wozu waren die überhaupt gut? Die spielten den ganzen Tag nur Fußball, interessierten sich für nichts anderes als für ihre Playstation, machten im Unterricht nur Blödsinn und hielten den ganzen Tag Ausschau, wen sie als nächstes ärgern konnten. Am schlimmsten war dieser blöde Christian. Im Winter beschmiss er alle Mädchen immer nur mit Schneebällen, in der Schule war er schlecht, und wenn kein Schnee lag, fielen ihm immer wieder neue Gemeinheiten ein. Und heute hatte er es ausgerechnet auf sie abgesehen. Kaum war sie heute früh aus dem Bus gestiegen, hatte er ihr ein Bein gestellt, vorhin in Sachunterricht hatte er sich ein Spuckrohr gebaut und sie die ganze Stunde lang beschossen, und seit der großen Pause zog er sie damit auf, dass sie keine Mutter hatte.
„Meine Mama hat gesagt, wer keine Mutter hat ist asozial“, keifte dieser blöde Kerl jetzt über den ganzen Schulhof, und kurz darauf fielen auch einige andere in seinen Singsang mit ein.
„Lena ist asozial“, riefen sie und freuten sich, obwohl sie keine Ahnung hatten, was asozial bedeutete. Lena wusste es leider auch nicht, und darum fiel ihr auch nichts ein, was sie darauf hätte sagen können.
„Deine Mama ist bestimmt abgehaun weil du sone blöde Zicke bist!“, setzte Christian noch einen drauf, und wieder konnten sich die anderen Jungs vor Lachen kaum halten.
„Das stimmt ja gar nicht“, gab Lena kleinlaut zurück, „und außerdem hab ich meinen Papa und ich hab Marc und Kira und Tobi und Julian und Yasmin.“
„Ja genau“, stichelte ihr Mitschüler weiter, „das ist wie im Tollhaus, hat meine Mama gesagt, und darum biste asozial.“
Er stand jetzt genau vor Lena und grinste sie siegessicher an. Lena standen die Tränen in den Augen, und sie kämpfte mit sich, um nicht anzufangen, zu heulen. Sie schluckte schwer, kniff die Augen zusammen und wünschte sich, ihr Papa wäre jetzt hier, um es diesem Blödmann zu geben. Und dann holte sie aus und trat kräftig zu. Christian machte ein erschrockenes, schmerzverzerrtes Gesicht, presste sich die Hände zwischen die Beine und sagte gar nichts mehr. Leider hatte aber Frau Lehmann mitbekommen, wie sie ihn getreten hatte und schickte sie vom Schulhof in die Klasse, wo sie ihr schließlich eine Strafpredigt hielt. Lena hörte allerdings nur mit einem Ohr hin und freute sich heimlich über ihren Triumph.
Nach der Schule, rannte sie schnell nach Hause, um Christian nicht noch einmal über den Weg zu laufen. Als sie ankam, saßen Kira und Marc in der Küche.
„Du, Marc“, begann Lena, „was ist eigentlich asozial?“
Sie erzählte den beiden, was auf dem Schulhof passiert war, und Marc gab ihr Recht, dass Christian ein Blödmann war, sagte ihr aber auch, dass sie auch nicht besser war, wenn sie einfach zutrat.
„Wieso das denn?“, schaltete Kira sich ein, „Genau das braucht so ein kleines Arschloch doch. Immer kräftig in die Eier, dann lernt er wenigstens noch früh genug, wie man mit Frauen umzugehen hat.“
*****
Nach dem Judotraining fragte Marc Julian, ob er nicht auch noch Lust hatte, irgendwo ein Bierchen zu trinken. Julian schüttelte den Kopf, den erstens hatte er tatsächlich keine Lust, und zweitens war er mit dem Auto unterwegs, und das wollte er ungern irgendwo stehen lassen. Noch dazu war er müde und wollte eigentlich nur noch in sein Bett.
„Ach komm schon“, drängte Marc, „schlafen kannst du, wenn du tot bist, und außerdem waren wir schon lange nicht mehr unterwegs.“
„Dann lass es uns auf morgen verschieben, aber heute bin ich echt zu fertig. Und wolltest du dich nicht sowieso noch mit Anna treffen?“
„Ja, wir wollten uns ein Video leihen, aber ich habe keinen Bock, langweilig rumzusitzen, ich muss mal wieder raus.“
Als Kompromiss schlug Julian vor, er solle doch mit seiner Freundin losziehen, vielleicht konnte er sie ja eher dazu überreden, aber das wollte Marc auch nicht. Ihm war mehr nach einer Männerrunde, und Julian konnte sich genau ausmalen, was das hieß. Sie würden zuerst in eine Kneipe in der Altstadt gehen, danach noch ins Alando oder einen anderen Club, Marc würde wie ein Verrückter baggern und dabei auch noch Erfolg haben, und Julian würde von da an daneben sitzen und sich ärgern. Währenddessen würde Anna bei ihnen zuhause klingeln, Yasmin würde ihr sagen, dass Marc noch nicht da war, und dann würden sie sich gemeinsam das Video ansehen und dabei auf ihre Männer warten, während Anna immer enttäuschter und Yasmin immer wütender wurde. Nein, dazu konnte Julian sich heute echt nicht durchringen.
„Okay“, schlug Julian vor, „du kümmerst dich heute um Anna, und dafür ziehen wir morgen um die Häuser.“
Marc verdrehte die Augen. „Du bist aber auch kein bisschen spontan“, gab er genervt zurück, fügte sich dann aber in sein Schicksal. „Manchmal könnte man echt meinen, du bist deinem Schatzi vollkommen hörig.“
„Ich bin ihr nicht hörig“, verteidigte Julian sich, „ich weiß nur, was sich gehört.“ Das Dumme an der Sache war, dass ihn Marcs Vorwurf mehr traf als er zugab. Nur zu gerne würde er manchmal ein Leben wie Marc führen, ohne Rücksicht auf Verluste, immer nur das tun, wozu er gerade Lust hatte, und sich einen Dreck um Verpflichtungen oder Versprechen zu kümmern. Vielleicht tanzte er ja wirklich zu sehr nach Yasmins Pfeife, überlegte er, doch er verwarf den Gedanken schnell wieder. Es gab nun einmal Regeln im Leben, an die man sich halten musste, und niemand lebte auf einer einsamen Insel. All diese Sprüche rief er sich ins Gedächtnis, und dennoch blieb ein bitterer Beigeschmack zurück, wenn er sah, dass Marc offenbar auch auf seinem unkonventionellen Weg durchs Leben kam.
*****
Wie so oft, wenn Julian und Marc beim Training waren, saßen Yasmin und Tobi in der Küche. Diesmal ohne zu streiten. Kira hatte sich in ihr Zimmer verzogen, um zu malen, Marius war ebenfalls unterwegs, und Lena schlief tief und fest.
„Ich bestell mir 'ne Pizza“, sagte Tobi, „Willst du auch was?“
„Nein.“
„Okay.“
„Oder doch, warte mal.“
Yasmin überlegte, und Tobi wurde ungehalten.
„Was denn nun?“, fragte er.
„Ich weiß nicht genau.“
„Was weißt du nicht? Ob du was essen willst?“
Yasmin nickte stumm, worauf er die Augen verdrehte und einen Ton anschlug als redete er mit einem kleinen Kind.
„Hast du denn Hunger?“
„Genau das weiß ich ja nicht. Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht.“
„Was meinst du mit ‚irgendwie’? Also entweder habe ich Hunger, oder ich habe keinen. Aber ich hab doch nicht irgendwie Hunger.“
„Vielleicht bekomme ich ja noch Hunger.“
„Na, dann bestelle ich dir was mit“, bot er an.
Yasmin war immer noch nicht überzeugt.
„Und was ist, wenn ich nachher doch keinen Hunger habe?“
„Dann lässt du die Pizza eben stehen, irgendwer wird sich schon darum kümmern. In diesem Hause kommt schon nichts um. Keine Angst.“
„Ich bestelle mir doch keine Pizza, damit sie am Ende wer anders isst.“
„Dann isst du eben nur wenig und den Rest morgen.“
„Na toll! Bis dahin ist dann nichts mehr da, weil es jemand anders gegessen hat.“
Tobi warf nun einen flehenden Blick zur Zimmerdecke und erklärte ihr, dass sie die Gabe hatte, Menschen in den Wahnsinn zu treiben.
„Warum bestellst du nicht schon mal was?“, schlug sie vor.
Tobi nickte stumm, griff zum Telefon und wählte.
Kurz bevor er seine Pizza bestellen konnte, hielt Yasmin ihn auf und bat: „Aber nimm ne vegetarische Pizza.“
„Warum das denn? Ich mag keine vegetarische Pizza.“
„Aber ich.“
Tobi legte wieder auf.
„Ich dachte“, fragte er verwundert, „ich soll mir was bestellen?“
„Na sollst du ja auch.“
„Und warum dann vegetarisch? Machst du dir wieder Sorgen um meine Gesundheit oder meine Figur, oder willst du mich einfach nur bevormunden?“
„Nein, nichts davon“, erklärte sie, „nur für den Fall, dass ich doch noch Hunger bekomme, wenn dein Essen da ist.“
„Und dann?“
„Na glaubst du, ich esse was, was mir nicht schmeckt?“
„Wieso denn du?“
„Warum nicht ich?“
„Also Moment mal, ich soll mir was bestellen, was dir schmeckt, damit du es essen kannst, falls du Hunger bekommst?“
„Du kapierst schnell für einen Mann“, antwortete sie lächelnd.
„Und was bitte soll ich dann essen?“
„Weiß ich nicht, aber vielleicht habe ich ja auch gar keinen Hunger.“
Tobi verdrehte wieder die Augen und ging aus dem Raum. „Armer Julian“, hörte sie ihn grummeln.
*****
Kira hatte Lena-Sophie schon länger versprochen, sie mal mit in ihr Tattoostudio zu nehmen. Heute hatte sie nicht allzu viel zu tun, und darum holte sie das Mädchen nach der Schule ab, fuhr mit ihr ins Studio und zeigte ihr, womit sie ihr Geld verdiente. Lena stellte unzählige Fragen, ob es auch wirklich nicht wehtun würde, wenn man eine Tätowierung oder ein Piercing gestochen bekam, und Kira erklärte ihr jedes Gerät mit einer Engelsgeduld. Sie mochte das Mädchen, war ganz angetan von ihrer Wissbegierigkeit, und fragte sich, ob das wohl ihr angeborener Mutterinstinkt sei. Umgekehrt schien Lena auch auf sie zu fliegen, denn immer, wenn etwas sie bedrückte und Marius gerade nicht da war, kam sie zu ihr und hoffte auf tröstende Worte. Mit Marcs Tschaikowski, der für Lena natürlich mit Abstand der liebste Hausbewohner war, konnte sie nicht mithalten, aber wer wollte auch schon mit einem Kaninchen konkurrieren.
Als Kira zusammen mit Lena zuhause eintraf, fiel ihr Blick auf den Nachbarn, der gerade dabei war, in seinem Garten die Hecke zu schneiden. Der Mann musste um die fünfzig sein und Frührentner oder dergleichen, denn immer, wenn Kira aus dem Haus trat, sah sie ihn in seinem Garten oder wie er den Gehweg fegte. Lena grüßte ihn, dann rannte sie ins Haus, während der Nachbar Kira misstrauisch beäugte.
„Guten Tag“, grüßte sie freundlich, erhielt aber keine Antwort. Stattdessen schüttelte der Mann nur den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Kira spürte instinktiv, dass es nicht freundlich war, was er da zu sich selbst sagte, und normalerweise hätte sie ihn ignoriert, sich keine Gedanken darum gemacht und wäre weitergegangen.
„Wie bitte? Was haben sie gesagt?“, fragte sie aber heute, „Ich habe sie leider nicht verstanden.“
Sie rechnete damit, dass er ihr 'Guten Tag' kleinlaut erwidern würde, auch wenn sie genau wusste, dass er sie anstarrte als käme sie von einem anderen Stern und ihr alles andere als einen guten Tag an den Hals wünschte. Doch der Nachbar war zäher als sie gedacht hatte.
Er ließ seine Heckenschere sinken, baute sich feindselig vor ihr auf und legte dann los: „Ich habe gesagt, dass Herr Ammer sich schämen sollte, seine Tochter mit sowas wie ihnen loszuschicken.“ Es folgte eine ganze Schimpftirade, aus der Kira schließen konnte, dass er sie aufgrund ihres Outfits für eine Satanistin oder vielleicht auch gleich eine Vampirin und somit für eine Gefährdung für die Menschheit hielt. Sie hatte schon oft erlebt, dass Menschen derart intolerant reagierten, sie kannte die abschätzenden Blicke, die sie oft trafen, nur zu gut, und im Grunde wollte sie sich ja auch bewusst abgrenzen. Trotzdem verletzte es sie, dass dieser Typ die Frechheit besaß, ihr zu unterstellen, sie würde Lena schlechtes wollen, aber natürlich fiel ihr in diesem Augenblick wie immer kein treffender Spruch ein.
Nachdem er geendet hatte, konnte sie nur noch etwas von Vorurteilen und Intoleranz murmeln, dann war er auch schon verschwunden und verschanzte sich hinter seiner Hecke.
Niedergeschlagen ging Kira ins Haus und merkte dabei, wie sich der Blick des Mannes aus dem Schutz seines Gartens heraus in ihren Rücken bohrte. Lena saß im Wohnzimmer und erzählte Marius von ihrem Besuch im Studio, dass alles ganz toll gewesen war, und dass sie, wenn sie groß war, auch ein Piercing haben wollte. Kira schluckte und es schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob an den Vorwürfen des Alten doch etwas dran war und ob sie Lena vielleicht doch nicht so begeistert von ihrer Arbeit hätte erzählen sollen. Dass das aber auch ausgerechnet jetzt passieren musste, wo Lena in der Schule eh schon wegen ihrer nicht gerade alltäglichen häuslichen Situation zu kämpfen hatte. Dabei war sie nun echt die letzte, die wollte, dass das Mädchen es schwerer hatte als unbedingt nötig. Das alles musste für sie ohnehin schwer genug sein. Da konnte sie bestimmt keine Nachbarn gebrauchen, die ihr auch noch einredeten, der Umgang mit den neuen Mitbewohnern ihres Vaters sei schlecht für sie.
Marius bemerkte, dass ihr eine Laus über die Leber gelaufen war, hakte nach, und Kira erzählte ihm von ihrer unerfreulichen Begegnung. Marius lachte laut auf und meinte, sie solle sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Der gute Mann sei früher Lehrer gewesen und ist in den Vorruhestand gegangen, weil er mit seinen Schülern nicht klarkam. Seitdem würde er an all und jedem herumnörgeln und alles vorverurteilen, was nicht in sein enges Weltbild passte. Dass beruhigte Kira zwar, tröstete sie aber nicht wirklich, denn auch, wenn sie es nicht wollte, machte es sie wütend, dass dieser Typ sich anmaßte, darüber zu urteilen, wie gut oder schlecht fremde Leute für ein Kind waren, das er kaum kannte.
„Hey“, redete Marius auf sie ein, „der Mann heißt Malachewitz. Was willst du von jemandem mit so einem Namen anderes erwarten?“
Kira musste unweigerlich schmunzeln.
Und dann fuhr Marius fort: „Du regst dich darüber auf, dass unser Nachbar seine intoleranten Vorurteile nicht abstellen kann. Dann belehre ihn eines Besseren und sei gerade tolerant. Selbst engstirnigen, eingefahrenen Spießern gegenüber.“
Ja, vielleicht hatte er Recht.
*****
Als es an der Tür klingelte, schreckte Tobi hoch. Er hatte über seinen Büchern gesessen und versucht, zu lernen. Woher plötzlich dieser Eifer kam, wusste er selbst nicht, er wusste nur, dass er ihn ausnutzen musste, solange es anhielt. Leider war das gar nicht so einfach, denn Marc war mit seiner neuen Eroberung drüben in seinem Zimmer, und das Kichern und diverse andere Geräusche drangen durch die Wände als seien sie aus Papier.
Missmutig raffte Tobi sich auf und schleppte sich zur Tür. Vor ihm stand Anna, die ihn freudig begrüßte und fragte, ob Marc zuhause war. Aus einen ersten Impuls heraus wollte Tobi sie schnellstmöglich abwimmeln. Doch dann schossen ihm mehrere Gedanken durch den Kopf, die sich schon länger dort breit gemacht hatten. Schließlich konnte er nichts dafür, dass Marc auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzte, außerdem hatte er sich die ganze Zeit über bemüht, seinen Mitbewohner zu ignorieren, und schließlich sollte man doch auch nicht lügen. Ihm war durchaus bewusst, dass seine Antwort aus dem Gefühl des Neids heraus entsprang, und er wusste auch, dass Marc dies wahrscheinlich sehr gut einschätzen konnte, aber dennoch bat er Anna freundlich herein und log, er wisse nicht genau, ob Marc da sei. Sie könne ja aber mal nachsehen. Musste er jetzt etwa ein schlechtes Gewissen dafür haben, dass Marc ein falsches Spiel spielte? Und angeblich wusste Anna ja auch, was gespielt wurde, denn Marc betonte oft genug, dass er mit ihr eine offene Beziehung führten. Nein, ihn traf keine Schuld, und vielleicht würde Anna das, was sie in Marcs Zimmer erwartete ja auch mit Humor nehmen. Allerdings erhoffte Tobi sich etwas anderes, und darum blätterte er auf dem Flur auch noch in einer Zeitung herum, anstatt sich wieder über seine Bücher zu hocken, gespannt auf das Szenario, das sich ihm gleich bieten würde.
Er beobachtete, wie Anna auf Marcs Tür zuging, bemerkte, wie sie der Geräusche, die aus dem Zimmer kamen die Stirn runzelte und konnte sich ein hämisches Grinsen kaum verkneifen. Ihm war jetzt klar, dass Anna, was immer sich ihr bieten würde, nicht mit Humor nehmen würde, und es geschah Marc recht so. Jeder bekam, was er verdiente, sagte Tobi sich, und wenn jemand, der immer tat als könne ihn nichts tangieren, geschweige denn aus der Bahn werfen, dann eines Tages doch zu Fall kam, war es nur logisch, dass er sich Schadenfreude einhandelte.
Anna lauschte jetzt eine Sekunde und warf Tobi einen fragenden Blick zu, worauf er ahnungslos tat und mit den Schultern zuckte. Sie klopfte zögernd, nichts tat sich. Sie klopfte noch einmal, jetzt etwas fester, aber wieder zeigte sich keine Reaktion. Einwandfrei konnte sie die Geräusche, die durch die Tür drangen nicht einordnen, oder sie wollte es nicht. Da sie merkte, dass sie von Marcs Mitbewohner beobachtet wurde, gab sie sich aber einen Ruck und drückte die Klinke herunter. Ohne ein Geräusch zu verursachen, schwang die Tür nach innen auf und Anna wagte einen Schritt ins Zimmer. Die Gardinen waren vor die Fenster gezogen, die Lavalampe blubberte geduldig vor sich hin, und im Fernsehen lief MTV oder Viva.
Jetzt erst bemerkte Marc sie, schreckte hoch und blickte dann zwischen ihr und dem Mädchen, mit dem er eben noch gevögelt hatte, hin und her. Ihm war die Angelegenheit sichtlich peinlich, Anna erging es nicht anders, nur das Mädchen schien die Situation noch nicht erfasst zu haben. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde schossen Anna unzählige Szenen aus Filmen und Fernsehserien durch den Kopf, in der eine Frau ihren Partner mit einer anderen erwischt, und eine Vielzahl von möglichen Reaktionen breitete sich vor ihr aus. Dann schossen ihr Marcs Worte durch den Kopf, dass er keinen Bock auf eine klassische Beziehung hatte und seine Freiheiten bräuchte, und sie erinnerte sich daran, dass sie ihm diese Freiheiten zugestanden hatte, ohne zu wissen, worauf sie sich dabei einließ. Er wolle eine offene Beziehung, hatte er damals gesagt. Sie wisse nicht, ob sie das könne, erinnerte sie sich an ihre Antwort, aber sie könne es zumindest versuchen. Jetzt erkannte sie mit einem Schlag, dass sie keine offene Beziehung führen konnte, und auch wenn sie allen Grund hatte, sauer auf ihn zu sein, breitete sich ein schlechtes Gewissen in ihr aus, und zugleich ein Schmerz, der beinahe körperlich spürbar war.
Sie hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, und sie legte sich zurecht, dass sie ja nicht gewusst habe, worauf sie sich eingelassen hatte. Zumindest hatte sie nicht geahnt, dass die Gewissheit, dass er seine Freiheiten auch auslebte, derart schmerzen würde. Aber immerhin hatte sie zugestimmt, hatte ihm das alles zugestanden und hätte sich darüber im Klaren sein müssen, dass das nicht nur eine theoretische Abmachung gewesen war. Annas Gedanken überschlugen sich, schwankten wild hin und her zwischen Verletztsein und Selbstvorwürfen, und immer wieder wollte sie wütend sein, aber eine Stimme ermahnte sie, dass sie dazu kein Recht habe. Und Marc sah sie an als wisse er genau, was in ihr vorging, wartete ihre Reaktion ab, bereit, sich zu verteidigen. Es war als würden sie genau wissen, was dem anderen durch den Kopf schoss, als könnten sie sich auf einer mentalen Ebene austauschen, zu mehr reichte es allerdings nicht.
Unfähig, auch nur ein einziges Wort über die Lippen zu bringen, drehte Anna sich um, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie schluckte einmal, dann trat sie den Rückzug an. Durch Tobi sah sie hindurch als sei er gar nicht da, allerdings wäre sie auch nicht fähig gewesen, ihm in die Augen zu sehen und dabei die Fassung zu bewahren. Mit dem größtmöglichen Anmut durchschritt sie den Flur, trat hinaus ins Freie und zog die Haustür hinter sich ins Schloss.
*****
Julian war froh, dass endlich Wochenende war. In der letzten halben Stunde hatte er bestimmt alle fünf Minuten zur Uhr gesehen, und gehofft, die Zeit bis zum Ladenschluss würde schneller verfliegen. Und natürlich stürmte kurz bevor sie die Türen schlossen, noch eine Gruppe von Mädchen in den Laden, die unbedingt noch etwas anprobieren mussten, sich zu dritt in die Kabinen drängelten und sich dann ewig nicht entscheiden konnten. Erst als seine Kollegin die Teenies darauf hinwies, dass sie jetzt schließen wollten, kamen sie zu ihm an die Kasse, mussten noch hin und her überlegen, ob sie ihr Taschengeld nun tatsächlich ausgeben sollten, gerieten in Streit, kramten umständlich nach ihrem Geld, und Julian hatte von einem Fuß auf den anderen getreten, weil er endlich nach Hause wollte. Trotzdem hatte er sich nicht getraut, die Mädels einfach rauszuschmeißen, das hatte schließlich eine Kollegin übernommen, und im Nachhinein fragte er sich, warum er bei solchen Kunden, die immer kurz vor Feierabend ihre wichtigen Geschäfte abwickeln mussten, nicht auch mal hart durchgreifen konnte.
Jetzt war er endlich auf dem Weg nach Hause und es hatte zu regnen begonnen. Gerade als er in die Einfahrt einbiegen wollte, sah er Anna, die offenbar bei Marc gewesen war und jetzt scheinbar nach Hause wollte. Da sie keinen Schirm bei sich hatte, hielt er neben ihr an, beugte sich rüber, um die Beifahrertür zu öffnen und wollte ihr anbieten, sie heimzufahren. Anna erkannte ihn, stieg ein und bedankte sich für sein Angebot. Aus dem Augenwinkel fiel Julian auf, dass die Tropfen in ihrem Gesicht kein Regen, sondern auch Tränen waren, und er fragte sie unbeholfen, was denn los sei.
„Ach, es ist nichts“, antwortete sie kurz angebunden, „fahr mich einfach nur nach Hause, okay?“
Bis er vor ihrer Wohnung hielt, sprachen sie kein weiteres Wort, Julian war unsicher, wie er reagieren sollte, aber er merkte nur zu deutlich, dass bei Anna etwas nicht stimmte.
„Gut, da wären wir“, kommentierte er und versuchte dabei aufmunternd zu wirken, „ich schätze, ich lasse dich dann mal besser allein.“
Anna sah ihn jetzt zum ersten Mal direkt an, und sie sagte: „Wenn ich ehrlich bin, kann ich jetzt nicht allein sein. Willst du nicht noch mit rein kommen?“
Stumm nickte Julian, spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals breit machte, doch dann stellte er das Auto ab und folgte ihr die vier Treppen hoch bis zu ihrer Wohnung. Dort angekommen öffnete Anna ohne ein weiteres Wort zu verlieren eine Flasche Rotwein und schenkte zwei Gläser ein.
„Was ist denn eigentlich los?“, brach Julian das Schweigen und fühlte sich ganz unwohl in seiner Haut. Er war kein guter Tröster, sowas konnte er nicht, und doch würde er es jetzt müssen, und er ahnte auch bereits, dass es etwas mit Marc zu tun haben würde.
„Ich meine, du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.“
„Doch, ich muss drüber reden. Ich brauche jetzt jemanden zum Reden.“
In kurzen Sätzen, erzählte sie ihm, was vorgefallen war, erzählte von Tobi, der genau gewusst haben musste, dass Marc nicht alleine zuhause war, sagte ihm, was sie im Zimmer ihres Freundes gesehen hatte und schilderte ihm auch, wie sie sich dabei gefühlt hatte. Julian hörte schweigend zu, legte, als sie zu schluchzen begann, den Arm um sie und schüttelte den Kopf als sie ihm sagte, dass sie glaubte, nicht wütend sein zu dürfen.
„Hey, na sicher darfst du wütend sein. Ich meine, ihr hattet eine Beziehung, du hast ihm vertraut und er hat das Vertrauen gebrochen. Egal, ob er das vorher angekündigt hat oder nicht. Er hat dich verletzt, und er wusste, dass er dich damit verletzt, und damit ist alles andere unwichtig.“
Wieder brachen die Tränen aus ihr hervor, und sie schmiegte sich eng an Julian, der nicht wusste, ob er ihr wirklich Trost bieten konnte. Das einzige, was ihm einfiel, war, sie fest im Arm zu halten, und er hoffte, dass er ihr dadurch Kraft geben könnte. Anna leerte ihr erstes Glas in einem Zug, goss sich nach, und sie schenkte auch Julian noch einmal ein. Er ließ sich das widerspruchslos gefallen. Nach der ersten Flasche öffnete sie eine zweite, dabei erzählte sie immer wieder, wie ausgenutzt sie sich vorkam, und er rang nach Worten, obwohl er kaum wusste, was er dazu sagen sollte. Als wären sie langjährige Freunde heulte sie sich an seiner Schulter aus, und es entstand ein ungewohntes Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen. Der Nachmittag ging in den Abend über, dann wurde es Nacht, Julian vergaß sogar, sich bei Yasmin zu melden.
Als sie schließlich in Annas Bett landeten, wussten sie beide nicht mehr genau, wie es dazu gekommen war, aber sie hatten alles um sich herum vergessen und gaben sich ganz ihren Zärtlichkeiten hin.
*****
Schon nach dem Aufstehen hatte Marius das ungute Gefühl beschlichen, nichts, aber auch gar nichts könne heute seine Laune heben. Ein Verkehrsunfall direkt unter seinem Fenster hatte ihn geweckt, und die eintreffende Polizei samt Rettungswagen verhinderte, dass er wieder einschlafen konnte. Er hasste dieses Gefühl, aufzustehen, während alle anderen noch schliefen. Und er hasste es sogar noch mehr, wenn er duschen wollte und das Wasser nicht einmal lauwarm wurde. Aber leider gab es ein unausgesprochenes Gesetz, dass Tage, die beschissen begannen auch beschissen weitergingen.
Jetzt schlurfte er in die Küche, steuerte auf die metallene Kaffeedose zu, öffnete den Deckel und blickte dann auf dem blanken Boden der Dose in sein zerknirschtes Gesicht, das sich dort spiegelte. Dann gab es wohl heute keinen Kaffee, sagte er sich und beschloss, stattdessen Kakao zu kochen. Lena würde sich freuen, wenn sie nachher aufstand, aber für ihn war der Tag erst einmal gelaufen.
Das nächste war, dass das Telefon klingelte und ihm ein freundlicher Mensch am anderen Ende ein Abonnement für eine Anglerzeitschrift, angeln war ja ein ganz reizendes Hobby, verkaufen wollte. Als Marius ihn abgewimmelt hatte, hetzte er zurück in die Küche, doch es war leider zu spät. Die Milch war bereits übergekocht, und nun durfte er zur Krönung auch noch den Herd schrubben. Von wegen ruhiges Wochenende, dachte er bitter und überlegte, welche Eskapaden sich seine Mitbewohner heute wieder ausdenken würden, um ihr Heim in ein Tollhaus zu verwandeln. Dabei war er glücklich mit seinem Entschluss gewesen, war froh, dass es Lena gefiel, aber nein, es schien dem Menschen innezuwohnen, ständig neue Gründe für Streitereien zu suchen und erfolgreich zu finden.
Entschlossen nahm er vor, sich nicht weiter zu grämen, griff zum Telefon und wählte die Nummer eines alten Schulfreundes.
„Ja hallo?“, meldete sich eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung. Marius hatte völlig vergessen, dass es ja Samstag und noch dazu geradezu unmenschlich früh war, aber jetzt konnte er ja schlecht behaupten, er habe sich verwählt und es später noch einmal versuchen.
„Hi Frank, hier ist Marius.“
Sie tauschten einige Oh-lange-nichts-von-dir-gehört und andere Höflichkeiten aus, Marius entschuldigte sich für seine überfallartige frühe Störung, dann kam er zum Grund seines Anrufs.
„Du, sag mal, du könntest mir einen Gefallen tun.“
„Ach ja? Und was wäre das?“
„Ähm, also...“, Marius druckste ein bisschen herum, weil er wusste, dass Frank Überfälle hasste, „du hast doch heute Abend sicher keinen besonderen Gast, oder?“
Nun war es nicht so, dass Marius sich privat bei seinem Freund einladen wollte, nein, Frank betrieb seit einigen Jahren einen kleinen Club nicht weit von Osnabrück, keine große Disco, aber immerhin eine nette Location, wo meistens unbekannte DJs, zum Teil aber auch lokal bekanntere Größen auflegten. Marius wusste, dass Frank oft Probleme hatte, einen DJ zu finden, denn der Laden, der sich 'Down Under' nannte, war alles andere als ein Karrieresprungbrett oder Publikumsmagnet, aber immerhin hatte Frank ein Gespür für gute Musik, und daher waren auch seine Kunden nicht die Art von Leuten, die zu jeder beliebigen Musik tanzten.
„Nun sag schon, was willst du?“
„Ja, weißt du, ich müsste mal wieder raus hier, mal wieder was anderes sehen und so.“
„Ja und? Was habe ich damit zu tun?“
Marius räusperte sich, bevor er endgültig sagte, was er wollte: „Ich wollte dich ganz einfach fragen, ob ich nächstes Wochenende bei dir auflegen kann.“
Es dauerte noch ungefähr eine dreiviertel Stunde, ehe Marius ihn überzeugen konnte, dass er das Auflegen noch nicht verlernt und ihn überredet hatte, seinen gebuchten DJ nach Hause zu schicken, doch dann willigte Frank ein, wenn auch nicht, ohne Marius das Versprechen abzuverlangen, auch mal einzuspringen, wenn Frank ihn dringend brauchte. Marius versprach es und hatte nun wieder Hoffnung, dass der Tag doch nicht ganz miserabel werden würde. Nachdem er aufgelegt hatte, kehrte er sogar pfeifend in die Küche zurück, sein Blick fiel auf den dreckigen Herd, er stellte das Pfeifen augenblicklich ein und suchte den Putzlappen.
*****
Im Fernsehen liefen mal wieder Talk- und Gerichtsshows, das Radio spielte den üblichen Einheitsbrei mit dem angeblich Besten von gestern, heute und morgen, und sowieso konnte sich Yasmin auf nichts konzentrieren. Ihr Hase war seit Tagen komisch, merkwürdig, einfach auf unerklärliche Weise anders als sonst. Nicht, dass er unglücklich wirkte, und sie hatten keinen Streit, aber etwas schien in ihm vorzugehen, und Yasmin konnte es nicht ertragen, nicht zu wissen, um was es ging. Als der Sprecher im Radio verkündete, dass es auf der A1 und der A30 Staus gäbe, stellte sie das Gerät aus und versuchte, sich anderweitig auf andere Gedanken zu bringen. Zuerst wanderte sie rastlos in ihrem Zimmer auf und ab, dann dehnte sie ihr Umherwandern auf das ganze Haus aus, und schließlich kam sie vor Kiras Zimmer zum stehen. Sie klopfte.
„Ja? Was gibt es?“
„Hi, darf ich reinkommen oder störe ich?“
„Nein, komm nur rein, ich bin bloß gerade am malen.“
Kira stand mit einem Pinsel vor einer Staffelei mit einer großen Leinwand, und um sich herum hatte sie zahlreiche Farbtuben aufgebaut. Das Bild, das sie malte, zeigte einen langen, geschwungenen Weg, einen Weg, mit Sand und Steinen bedeckt. Am Wegrand blühten Blumen. Zuerst waren es Knospen, weiter hinten blühten sie langsam auf, erstrahlten zu voller Pracht, und je weiter der Weg sich wand, desto mehr welkten ihre Blätter, bevor sie schließlich zu grauen Schatten ihrer selbst wurden. Und ganz am Ende des Weges, zwischen all dem toten Gestrüpp, eine Tür. Sie war einen Spalt weit offen, und dahinter schimmerte goldenes Licht. Yasmin betrachtete das fast fertige Bild lange, ohne etwas zu sagen, und erst als Kira sie fragte, wie es ihr gefiele, merkte sie, wie fasziniert sie von diesem vielsagenden Gemälde war.
„Ich finde es echt gut“, lobte sie, „ich mag die Art, wie du die Farben langsam von den hellen Tönen ins trist Graue ziehst.“
„Danke.“
Yasmin schaute immer noch auf die Tür mit dem goldenen Licht dahinter.
„Außerdem sagt es so viel aus. Hat das etwas mit dir zu tun?“
Kira ließ den Pinsel sinken und betrachtete jetzt ebenfalls ihr Werk. Es schien fast als sei sie so sehr in ihre Arbeit versunken gewesen, dass sie das fertige Objekt selbst noch nicht genau betrachtet hatte.
„Ja, hat es“, sagte sie leise, „ich male meistens etwas, was meine Gedanken oder Gefühle ausdrückt. Oder anders gesagt, ich brauche die Bilder, um mich selbst auszudrücken und um mit über manches klar zu werden.“
Yasmin betrachtete ihre Mitbewohnerin mit einem Seitenblick und lächelte. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie offen zueinander waren und alle gegenseitigen Vorurteile abgelegt hatten. Jetzt wusste sie auch, dass sie Kira von ihren Gedanken erzählen konnte, ohne dass es ihr peinlich sein musste. Und es tat gut, jemanden zu haben, mit dem man Gefühle teilen konnte.
„Ich überlege nur noch, wie ich es nennen soll“, unterbrach Kira Yasmins Gedanken, „Ich schwanke noch zwischen 'Todessehnsucht' und 'Vergänglichkeit des Seins' oder etwas ganz anderem.“
„Hm, warum denn so pathetisch? Ich würde es eher auffassen als 'Jedes Ende ist ein neuer Anfang' oder 'Du weißt nie, wie es weitergeht und was dich erwartet'.“
*****
Schon seit fast einer Woche hatte Marc nun nicht mehr mit Anna gesprochen, und auch mit Tobi hatte er kein Wort gewechselt. Ihm war völlig klar, dass Tobias es darauf angelegt hatte, dass Anna ihn mit der anderen erwischte, und dass ihn das Resultat seiner Intrige glücklich machte. Selbstverständlich war Marc sauer, doch er verlor kein Wort über die Angelegenheit, denn den Triumph würde er diesem Arschloch nicht auch noch gönnen.
Anders verhielt es sich mit Anna. Er hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen, denn er hatte sie verletzt, und sie tat ihm leid. Leider wusste er aber nicht, was er tun sollte. Einerseits wollte er sie nicht verlieren, weil er sie nämlich wirklich mochte, andererseits konnte er auch seine Freiheit nicht aufgeben, und er wusste, dass er das tun müsste, wenn er Anna zurückgewinnen wollte. Seit Tagen überlegte er hin und her, was er ihr sagen sollte, aber leider kam er keinen Schritt weiter damit. Vorgestern hatte er Julian von der Geschichte erzählt und um Rat gebeten, nur hatte der nicht viel dazu gesagt, außer, dass er Anna verstehen konnte und bei ihr auf keinen Fall ein gutes Wort einlegen würde, geschweige denn den Vermittler spielen. Also war Marc auf sich alleine gestellt, und ihm war klar, dass es, ganz gleich, wie er sich entscheiden würde, nicht vollkommen zufriedenstellend sein konnte.
Trotzdem hatte er sich endlich dazu durchgerungen, wenigstens mit Anna zu reden, selbst wenn es Mut kostete, aber das war er ihr einfach schuldig. Nach der Arbeit stieg er also in den Bus und an der Haltestelle, die direkt vor dem Haus lag, in dem Anna wohnte, wieder aus. Ein alter Mann führte gerade seinen Hund spazieren, wobei das Tier in die eine, das Herrchen in die andere Richtung zog. Der alte hatte Mühe, den Hund dazu zu bringen, dorthin zu laufen, wohin er wollte, er zerrte immer wieder kräftig an der Leine und wurde von dem großen Köter manches Mal fast umgerissen, und das ganze machte nicht den Eindruck eines entspannenden Abendausflugs. Außerdem hatte es zu regnen begonnen und es wurde merklich kühler.
Bevor er doch noch einen Rückzieher machen konnte, drückte Marc den Klingelknopf und wartete bis der Summer ertönte. Mit jeder Stufe, die er hinaufstieg, wurden seine Füße schwerer und seine Schritte gequälter. Zu dumm, dass er sich nicht wenigstens etwas zurechtgelegt hatte, was er ihr sagen wollte, denn er ahnte, dass ihm die Worte nicht leicht über die Lippen kommen würden.
Anna stand an ihrer Wohnungstür, und als sie ihn erblickte, wollte sie ihn abwimmeln und wieder nach Hause schicken, doch er bestand darauf, mit ihr reden zu wollen, und darum gab sie schließlich nach und ließ ihn herein. Marc fiel sofort auf, dass sie ein neues Parfum benutzte, was er als Zeichen der Endgültigkeit deutete. Doch jetzt war er einmal hier, da wollte er wenigstens loswerden, was er auf dem Herzen hatte. Ihm war nicht ganz klar, warum Anna ziemlich kurzangebunden wirkte, und er überlegte schon, ob er vielleicht doch lieber in ein paar Tagen wiederkommen sollte. Andererseits wusste er ganz genau, dass das eine ausrede war, denn erstens hatte ihn inzwischen der Mut verlassen, weil er vielleicht gehofft hatte, sie würde ihn mit offenen Armen empfangen, andererseits wusste er genau, dass er nicht wiederkommen würde, wenn er jetzt ging.
Er steuerte aufs Wohnzimmer zu und bleib plötzlich erstarrt stehen. Dort auf dem Sofa saß Julian, beide guckten sich jetzt ratlos an, dann erklärten Anna und Julian wie aus einem Munde, dass er nur hier sei, um sie zu trösten. Marc nickte stumm, unfähig, etwas zu erwidern, aber er fühlte, wie ihn all sein Mut verließ und seine Gedanken sich überschlugen. Warum erzählte er ihm, er wolle nichts mit der Sache zu tun haben und könne kein gutes Wort für ihn einlegen, saß dann aber jetzt bei Anna im Wohnzimmer als sei das das Selbstverständlichste der Welt? Warum versuchte Anna, ihn, Marc, an der Tür abzuwimmeln, wenn Julian angeblich nur da war, um sie zu trösten? Und warum sagte in solchen Situationen niemand tatsächlich mal den Satz: es ist nicht so wie es aussieht?
Marc reichte jedenfalls das, was er sah, um seine Schlüsse zu ziehen, er drehte auf dem Absatz um und fuhr nach Hause. Wenn es wirklich nicht so war wie es aussah, konnte Anna sich ja bei ihm melden, und Julian würde er früher oder später sowieso über den Weg laufen.
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Lena hatte keine Ahnung, was eigentlich los war, aber sie spürte genau, dass irgendetwas in der Luft lag. Vielleicht war sie zu jung, um es zu verstehen, zumindest aber roch sie förmlich, dass sich alle aus dem Weg gingen, jeder jeden komisch anguckte und alle ziemlich gereizt wirkten. Auch hatte es schon lange keinen Spieleabend mehr gegeben, und als Lena gestern vorgeschlagen hatte, 'Die Siedler von Catan' zu spielen, hatten alle bis auf Kira abgelehnt. Sogar ihr Papa hatte keine Lust gehabt, er sagte, er müsse sich auf sein Set vorbereiten. Da Lena nicht wusste, was ein Set ist, hatte er ihr erklärt, dass er am Freitag in einer Disco die Platten auflegen würde und sich darum Gedanken machen müsse, was er denn spielen wollte. Im Grunde hörte es sich für Lena nicht nach Arbeit an, was er da machte, aber wenn er sogar Geld dafür bekam, konnte Platten auflegen ja scheinbar nicht so einfach sein, wie sie sich das vorstellte. Sie hatte ihn dann gefragt, ob er sie nicht in die Disco mitnehmen könne, aber leider ginge das auch nicht, hatte er ihr erklärt, dafür hatte Kira ihr dann aber versprochen, sie würden den Abend hier zuhause ihre eigene Disco machen, das wäre nämlich viel schöner als in einem großen Laden, wo man auch noch Geld bezahlen musste, damit man Musik hören konnte, die so laut war, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.
Kira war überhaupt die einzige, die nicht wie die anderen total gestresst war, aber bei Marc, Tobi, Yasmin und Julian kam es Lena vor als würden sie über kurz oder lang Streit bekommen. Hoffentlich zogen sie dann nicht aus, dachte sie. Ihre Mama war damals ja auch einfach weggezogen, ohne ihr vorher etwas zu sagen, das wollte Lena nicht noch einmal erleben. Sie hatte ihre Mama sehr lieb gehabt, und trotzdem war sie einfach weggegangen und hatte sie und Papa alleine gelassen. Ihr hatte das damals verdammt wehgetan, und sie hatte jetzt Angst, dass die anderen auch eines Tages einfach wieder ausziehen würden. Dabei hatte sie sie doch auch lieb, fand es toll, dass bei ihr zuhause immer was los war, ganz egal, was der doofe Christian und die anderen Jungs aus ihrer Klasse auch sagten. Sie wollte nicht wieder mit ihrem Papa alleine wohnen, denn er war sehr traurig gewesen als Mama weggegangen war, hatte gar nicht mehr lachen können, und sie wollte nicht, dass ihr Papa traurig war.
Jetzt ging sie in Marcs Zimmer, Marc saß mit seiner Gitarre vorm Fenster und spielte ein Lied, das ganz traurig klang.
„Darf ich mit Tschaikowsky spielen?“, fragte Lena.
Marc nickte, worauf sie das Kaninchen aus dem Käfig holte, dann sagte er noch: „Aber geh mit ihm in dein Zimmer, ich möchte einfach meine Ruhe haben, okay?“
„Bist du denn traurig?“
Nein, er wäre nicht traurig, erklärte Marc, er müsse nur nachdenken, und das ginge eben am besten alleine. Lena sah ihn an und glaubte, dass er doch traurig war.
„Aber du gehst nicht weg von hier, oder?“
„Was? Warum soll ich denn weggehen?“
Lena erklärte ihm, dass ihre Mama auch viel nachgedacht hatte und alleine sein wollte, bevor sie plötzlich ausgezogen war, und dass sie nicht wollte, dass sowas noch einmal passierte. Marc legte daraufhin seine Gitarre weg, lächelte und nahm sie in den Arm.
„Nein, Lenamaus, ich ziehe nicht aus. Tschaikowsky wäre ganz schön böse mit mir, wenn ich ihm seine beste Freundin wegnehmen würde.“
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„So, ihr beiden, jetzt muss ich aber echt los. Kann ich euch auch wirklich alleine lassen?“
Marius hatte seine Platten zusammengesucht und war etwas nervös wegen seines Auftritts, aber Kira und Lena hatten ihm gut zugeredet und überzeugten ihn auch jetzt, dass sie den Abend über gut alleine zurechtkamen.
„Wir machen hier unsere eigene Disco, die eh viel besser wird als dein komischer Club“, stichelte Kira, „und nun sieh zu, dass du wegkommst, wir wollen nämlich endlich über Tische und Bänke tanzen.“
Lena schob ihn noch zur Tür hinaus und winkte, dann schob Marius seine Zweifel beiseite und konzentrierte sich auf den Abend. Er hatte mit Frank abgemacht, dass er von Mitternacht bis zwei Uhr auflegen sollte, und das war eine verdammt lange Zeit für jemanden, der schon seit Jahren nicht mehr hinter den Plattentellern gestanden hatte.
Wieder Erwarten verflog seine Nervosität als er im 'Down Under' ankam, wozu Frank einen guten Teil beitrug, da er ihn eindeutig als Freund und nicht als Veranstalter begrüßte. Er erzählte ihm zunächst, was es in seinem Privatleben neues gab, fragte Marius dann aus, und erst danach zeigte er ihm den Club und das DJ-Pult. Es war jetzt kurz vor zwölf, und auf der Tanzfläche tummelten sich etwa dreißig junge Leute, sehr junge Leute, wie Marius auffiel, die meisten davon dem Teenageralter noch nicht entwachsen. Es würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch voller werden, beruhigte Frank seinen Freund, und Marius glaubte ihm, wollte ihm glauben.
Zehn Minuten später betrat er die kleine Empore, begrüßte den Resident des Clubs, ein junger Mann, der aussah als würde er viel lieber Reggae als House auflegen, und richtete sich häuslich ein. Als er seine erste Platte auflegte, sah er, dass seine Hände zitterten, aber das war wohl normal. Den ersten Übergang bekam er jedenfalls zumindest ausreichend hin, der zweite wurde schon besser, und die Leute schienen seinen Stil zu mögen. Es dauerte nicht lange, dann wurde er sicherer, das Zittern hörte auf, und Marius war, wie in alten Zeiten, wieder voll in seinem Element. Die Tanzenden spürten die Musik, und er diktierte ihnen die Rhythmen. Wie ein Hypnotiseur hielt er sie an unsichtbaren Fäden und ließ sie sozusagen nach seiner Pfeife tanzen. Wenn er einen schnelleren Beat auflegte, wurden auch ihre Bewegungen schneller, und wenn er das Tempo drosselte, passten die Leute dort unten dem an. Marius spürte die alte Begeisterung in sich Aufsteigen, Begeisterung für die Musik und Begeisterung dafür, dass er derjenige war, auf den diese Leute hörten. Je mehr sie sich in die Musik fallen ließen, desto mehr waren sie von ihm abhängig, sie hörten auf zu denken und ließen sich von seiner Musik treiben. Und er, er war der einzige, der Herr der Lage war, er war derjenige, der alles unter Kontrolle hatte. Genau konnte er sich nicht erklären wieso, aber das war für ihn das schönste am Auflegen, das Gefühl, dass er der Guru dieser Menschen war, dass er ihre Bewegungen diktierte, das Gefühl, der Macht, auch wenn es lediglich Macht über ihr Tanzen war.
Die zwei Stunden verflogen schneller als er erwartet hatte, die Clubbesucher hatten bekommen, was sie verlangten, und Frank schien zufrieden zu sein. Zwar war es im Laufe der Zeit nicht voller geworden, aber auch nicht leerer, und er hatte es geschafft, die Leute auf der Tanzfläche zu halten.
Jetzt übernahm Frank selbst die Turntables, er nickte Marius anerkennend zu und fragte ihn, ob er nicht noch ein bisschen bleiben wolle, damit sie nachher noch über alte Zeiten reden und vielleicht einen Termin fürs nächste Wochenende ausmachen konnten. Kopfschüttelnd lehnte Marius ab, versprach, seinen Freund baldmöglichst anzurufen, doch jetzt wollte er nach Hause.
Gerade als er den Club schon verlassen wollte, tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter, und als er sich umdrehte, stand Tobias vor ihm.
„Hi“, begrüßte Marius ihn überrascht, „ich wusste gar nicht, dass du dich auch hier rumtreibst.“
Lächelnd antwortete Tobi dann: „Ich bin auch mehr zufällig hier, und als ich dich gesehen und gehört habe, bin ich eben geblieben.“
Tobi lobte sein Set und betonte mehrmals, dass er es ehrlich gut fand, doch nach einer Weile fragte er: „Aber sag mal, ist es nicht deprimierend vor einer Handvoll Kids aufzulegen, denen es nahezu egal ist, welche Musik gespielt wird?“
Mit einem Mal war Marius Hochgefühl nahezu verflogen, weil er wusste, dass Tobi Recht hatte. Es war deprimierend, und nur ein schwacher Abklatsch dessen, was er früher beim Auflegen empfunden hatte. Aber was sollte er denn machen?
*****
„Komm schon, Hasi, wir haben schon länger keinen Abend mehr gemütlich zu zweit verbracht.“
„Na gut, wenn du unbedingt willst, leihen wir uns eben einen Film aus, aber auf keinen Fall eine Liebesschnulze!“
Schon seit längerem saß Yasmin mit Julian in der Küche und versuchte ihn zu überreden, endlich mal wieder einen romantischen Abend mit ihr zu haben. Sie hatte das Gefühl, ihre Beziehung lief seit einigen Tagen auf Sparflamme, und das hoffte sie zu ändern.
„Gut, dann schlag was anderes vor.“, lenkte sie ein.
„Also ich habe gehört, 'Cube' soll sehr gut sein.“
„Ist der nicht ziemlich brutal?“
„Na gut, es fließt angeblich Blut, aber das heißt ja noch nicht, dass der Film schlecht ist, oder?“
Seit wann er denn auf sowas stand, wollte sie wissen, und zu ihrer Überraschung antwortete er, dass er es leid sei, immer nur ihr zuliebe all diese langweiligen Schnulzen zu sehen. Yasmin wusste nicht, was mit ihm los war. Aber damit es keinen Streit gab, lenkte sie ein, man könne ja auch etwas lustiges sehen, ohne Blut und ohne Liebesgeschichte. Julian war einverstanden, aber Yasmin dennoch nicht zufrieden. Wie sollte sie den Abend denn romantisch gestalten, wenn er ihr nicht einmal eine Chance gab, für die nötige Stimmung zu sorgen?
„Hey, soweit ich weiß, hat Marc doch 'Die Killerhand' auf DVD, der soll auch lustig sein, was meinst du, Schatzi?“
Am liebsten hätte sie vor Verzweiflung laut aufgeschrieen. Was war eigentlich mit ihrem Hasi los? Er hatte doch früher Geschmack und Verständnis für sie gehabt.
„Hasi, erstens klingt das schon nach einem absoluten Tiefflieger, und zweitens kann es auch nichts anderes sein, wenn es von Marc kommt.“
In diesem Augenblick steckte Marc seinen Kopf zur Tür herein und fragte belustigt, ob hier etwa über ihn gelästert würde. Yasmin verneinte genervt, und Julian vermied es tunlichst, seinen Mitbewohner auch nur anzusehen. Das Zusammentreffen mit ihm neulich bei Anna, hatte ihm vorerst gereicht, und solange Marc die Sache nicht thematisieren würde, konnte Julian ihm immer noch aus dem Weg gehen. Dabei konnte er sich noch immer nicht erklären, welcher Teufel ihn geritten hatte, sich überhaupt auf Anna einzulassen. Na gut, im Grunde konnte er es sich schon erklären. Zum einen wollte er endlich auch mal über die Stränge schlagen, zum anderen war es der pure Neid auf Marc gewesen, der Wunsch, auch so locker durchs Leben zu gehen wie er und sich auch einmal um nichts Gedanken machen zu müssen. Und damit hatte er sich selbst und auch Marc ja wohl bewiesen, dass mehr in ihm steckte als alle zu glauben schienen. Trotzdem fühlte er sich jetzt miserabel und bereute es fast, etwas mit Anna angefangen zu haben, obwohl er ihr gegenüber heute erst zugegeben hatte, noch nie so tollen Sex gehabt zu haben wie mit ihr.
„Könntest du jetzt bitte wieder gehen“, forderte Yasmin, „wir wollten uns gerade streiten.“
„Entschuldige bitte, aber ich dachte, die Küche gehört zum gemeinsamen Wohnraum.“
Marc setzte sich provokativ zu ihnen an den Küchentisch und Julian konnte praktisch spüren, dass Yasmin gleich explodierte.
Dann zündete Marc sich auch noch eine Zigarette an und fragte betont höflich: „Es stört euch doch nicht, wenn ich rauche, oder?“
„Nein, keinesfalls“, fauchte Yasmin zurück, „es würde mich nicht mal stören, wenn du brennst!“
Julian zog es vor, sich aus der Sache herauszuhalten.
„Hör mal“, fing Marc wieder an, „wenn dir eine Laus über die Leber gelaufen ist, dann lass es bitte nicht an mir aus.“
„Du bist aber nun mal die Laus, daran kann ich nichts ändern.“
„Nun mal langsam, ich bin jedenfalls nicht derjenige, der sich hinter deinem Rücken mit anderen trifft...“
*****
Anna saß vor ihrem Computer und surfte durchs Internet, obwohl sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Eine Freundin hatte ihr neulich erzählt, sie solle mal auf die Seite Webstories gehen, dort gäbe es eine ganze Reihe guter Geschichten zu lesen. Vorher hatte sie einen Blick auf die Website der Filmpassage geworfen und festgestellt, dass das Kino nichts zu bieten hatte, was sie ablenken würde, und nun hoffte sie, vielleicht durchs Lesen auf andere Gedanken zu kommen. Leider stieß sie immer wieder auf Liebesgeschichten, mal traurige, mal romantische, und alle hatten denselben Effekt, nämlich, dass sie sich allein, verloren und unglücklich fühlte. Sie wusste, sie war kein Mensch, der es alleine lange aushalten konnte, sie brauchte einen Menschen, dem sie hemmungslos vertrauen konnte, und der ihr eine Schulter zum Anlehnen bot. Marc war für sie dieser Mensch gewesen, sie hatte ihm vertraut, und dieses Vertrauen war mit einem einzigen Schlage weggewischt worden. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und selbst, wenn sie es versuchen würden, konnte es nie wieder werden wir früher. Und bei Julian hatte sie keinesfalls das Gefühl, er sei jemand, an den man sich anlehnen konnte, sie bezweifelte, dass er ihr Halt geben konnte. Sie wusste nicht, woher ihre Erkenntnis kam, vielleicht war es auch allein die Situation in der alles passiert war, aber das glaubte sie nicht. Er war selbst viel zu weich, zu unsicher und auf keinen Fall bot er jenen starken Arm, nach dem sie sich sehnte. Das mit ihm war eben nur eine flüchtige Sache, nichts auf Dauer, und außerdem hatte er eine Freundin, an der er ihrer Meinung nach noch immer hing. Vielleicht war 'hing' auch zu schwach ausgedrückt, denn wie Marc ihr vor einiger Zeit erzählt hatte, war Julian seiner Freundin nahezu untertänig. Und einen Waschlappen wollte sie beim besten Willen nicht.
Als sie sich wieder in die Geschichten vertiefte, las sie von Frauen, die unter einem starken Partner zugrunde gingen, anderen, die einsahen, dass alle Männer nur Schweine waren und dass frau besser ohne sie auskam. Aus all diesen Texten triefte geradezu eine Verachtung für all jene Geschlechtsgenossinnen, die nicht der starke Part in einer Partnerschaft waren, die nicht emanzipiert genug oder schlichtweg glücklich verliebt und somit bereit waren, Kompromisse einzugehen. Ja, ja, viele, die dort ihre Texte veröffentlichten, waren ach so stark, unanfechtbar, und im Grunde lediglich verletzt, unglücklich und eifersüchtig auf jene, denen es besser ging. Anna klickte sich in eine andere Sparte mit amüsanteren Storys, und irgendwann gelang es ihr endlich, sich darin zu vertiefen.
In diesem Augenblick klingelte es wie auf Bestellung an der Tür, und als sie sich erhob, um nachzusehen, stand Julian vor ihr.
„Hi, kann ich reinkommen?“, bat er mit zerknirschtem Gesicht.
Anna zögerte mit ihrer Antwort, suchte nach Worten, was Julian dazu veranlasste, eine Erklärung abzugeben.
„Yasmin hat mitbekommen, dass ich sie betrogen habe, und jetzt hat sie mich rausgeschmissen. Naja, und da wollte ich fragen...“, er blickte beschämt zu Boden, „ich wollte fragen, ob ich heute Nacht bei dir bleiben kann.“
Nochmals zögerte Anna. Im Grunde wollte sie es nicht, war sich aber auch bewusst, dass sie normalerweise niemandem einen Wunsch abschlagen konnte. Wenn sie jemand um etwas bat, konnte sie einfach nicht nein sagen, was sie sich selbst oft als Schwäche auslegte, und vielleicht gerade deshalb hielt sie seinem Blick stand und schüttelte den Kopf.
„Nein“, antwortete sie und musste nun doch angestrengt den Fußboden anstarren, „ich will das nicht, und ich möchte dich auch nicht wiedersehen.“
*****
Die Stimmung, die sich mehr und mehr im Haus ausbreitete, gefiel Kira ganz und gar nicht. Anfangs noch war sie froh gewesen, endlich eine Umgebung gefunden zu haben, die man als eine Art Nest bezeichnen konnte, inzwischen musste sie erkennen, dass auch in diesem Haus gestritten wurde wie überall sonst. Zu gerne hätte sie sich der Illusion hingegeben, sie habe Freunde gefunden, die jedes Problem ohne Streit lösten und in vollkommener Harmonie miteinander auskamen, aber Liebe, egal, ob erotischer oder platonischer Art, war eben nur eine Utopie.
Um dem wilden Treiben, dem Intrigieren und der angespannten Atmosphäre zu entgehen, beschloss sie, ins Bett zu gehen und von einer besseren Welt zu träumen. Sie kam sich schon vor wie eine verklärte Romantikerin, und das wollte sie bestimmt nicht sein, aber schlafen und darauf zu warten, was der nächste Tag brachte, war oftmals die beste Alternative. Während sie sich auszog, überkam sie mit einem Mal ein merkwürdiges Gefühl. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, von dem sie sich nicht erklären konnte, was ihn verursacht hatte, und sie sah sich um, weil sie den beklemmenden Eindruck hatte, beobachtet zu werden. Ihre Zimmertür war jedoch geschlossen, und außer ihr war niemand im Raum. Und dennoch glaubte sie Blicke zu spüren, die auf sie gerichtet waren. Sie glaubte, Kälte in sich aufsteigen zu fühlen, dann wischte sie den Gedanken weg und rief sich ins Gedächtnis, dass sie ein rational denkender Mensch war, und außer ihr war niemand hier. Wahrscheinlich hatte sie lediglich an ihn gedacht, die Spannungen, die schon den ganzen Abend und die letzten Tage zu spüren waren, hatten vermutlich eine Erinnerung in ihr wachgerufen, und jetzt wollte ihr Unterbewusstsein ihr Angst einflößen. Aber er war nicht hier, weder er, noch sein Geist, niemand war hier, keiner beobachtete sie, und es gab keinerlei Grund, sich zu fürchten.
Den Gedanken von sich schiebend, zog sie sich weiter aus, aber das Gefühl, des Beobachtetwerdens blieb. Sie beschloss, es zu ignorieren, streifte sich ihr Nachthemd über und löschte alle Kerzen, die sie zur Beleuchtung angemacht hatte. Als sie gerade die letzte Kerze auf ihrem Nachttisch ausblies, fiel ihr Blick aus dem Fenster hinaus auf das Nachbarhaus. Ihr war als hätte sie eine Bewegung wahrgenommen, und zwar aus dem Fenster, das ihrem direkt gegenüber lag. Aus dem Dunkel ihres Zimmers heraus, versuchte sie drüben etwas zu erkennen. Gerade als sie sich wieder abwenden wollte, machte sie die schwachen Umrisse einer Gestalt aus, die sich dort drüben bewegte und sich dann vom Fenster entfernte. Das war es also gewesen. Sie war beobachtet worden, und zwar keinesfalls von einem Geist oder sonstigem, sondern von ihren Nachbarn. Leider kannte sie die Leute da drüben nicht, aber wer immer sie beim Ausziehen angegafft hatte, in Zukunft würde sie ihm keine Chance mehr dazu geben und sich nur noch bei geschlossenen Vorhängen entkleiden.
*****
Das Schrillen des Telefons riss Marius aus seinen Träumen und weckte ihn. Er wusste inzwischen, dass außer ihm niemand aufstehen würde, und deshalb rappelte er sich hoch, zog sich an und stolperte verschlafen in den Flur. Hier wäre er denn beinahe wirklich gestolpert, denn es erwartete ihn ein Chaos aus ziellos herumgeworfenen Kleidungsstücken, Büchern, Cds und anderem Gerümpel. Um über Dinge nachzudenken, die im ganzen Haus herumlagen, war er allerdings noch zu müde, machte einen Hindernislauf ins Wohnzimmer und hin zum Telefon.
„Guten Tag, Herr Ammer, schön, dass ich sie erreiche, mein Name ist Carola Meißner vom Institut 'Styleview', und wir führen eine Umfrage durch.“, begrüßte ihn eine überschwänglich freundliche Stimme am anderen Ende.
„Ähm...“, Marius war irritiert und nicht halb so erfreut wie Frau Meißner über die frühe Störung.
„Wenn sie ein wenig Zeit haben, würde ich ihnen gerne ein paar Fragen stellen, aber keine Sorge, es wird nicht lange dauern.“
Selbstverständlich hatte Marius Zeit, denn er musste erst in etwa einer Stunde aufstehen, und wenn Frau Meißner nun einmal das Bedürfnis hatte, mit ihm zu sprechen, dann war es besser das jetzt zu tun, solange er noch zu müde war, um sich zu wehren.
„Herr Ammer, sie sind Hausbesitzer, sehe ich das richtig?“
Während er die Frage bejahte, nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und stellte dann fest, dass Julian auf dem Sofa lag, wo er offenbar genächtigt hatte, und ihn jetzt mit halb geöffneten Augen fragend ansah.
„Und wie viele Personen wohnen in ihrem Haushalt?“
„Also in der Regel sind es acht“, antwortete Marius gedankenlos, „aber ab und zu kommt es vor, dass einige dieser Personen auch auf der Couch übernachten, obwohl sie ein eigenes Zimmer haben...“
Frau Meißner wirkte am anderen Ende etwas irritiert und fragte stockend: „Wie bitte? Ich meine, ich verstehe nicht ganz.“
„Da haben sie vollkommen Recht, Frau Meißner, ich verstehe auch nicht ganz. Ich verstehe nicht, wieso Julian im Wohnzimmer schläft und ich verstehe genauso wenig, warum es im Flur aussieht als hätte eine Bombe eingeschlagen oder ein Möbelwagen Ladung verloren.“
Julian, dessen Gesicht ein wunderschönes Veilchen zierte, hatte sich inzwischen aufgesetzt und wollte wissen, wer denn da am Telefon sei. Marius gab ihm jedoch keine Antwort, sondern wandte sich wieder der Anruferin zu, die inzwischen ihren Faden vollkommen verloren hatte.
„Ach, Frau Meißner, und wo wir gerade dabei sind, ich würde außerdem noch gerne wissen, wer Julian verprügelt hat, aber das können sie mir sicher auch nicht sagen, oder?“
„Wie bitte? Ich meine, nein“, die Frau am anderen Ende wirkte nun vollkommen verwirrt, „ähm, Herr Ammer, vielleicht ist es besser, wenn ich sie später noch einmal anrufe...“
Mit der freundlichen Phrase, dass es ihm auch Spaß gemacht habe, mit ihr zu telefonieren, legte er auf und war sich sicher, dass sie es später nicht versuchen würde, ihn noch einmal anzurufen.
„Kannst du mir mal erklären, was hier los ist?“, fragte er jetzt an Julian gewandt, „Hatten wir einen Einbrecher, wurdest du überfallen, oder was war los?“
Zerknirscht schilderte Julian ihm sein Fremdgehen, dass Marc ihn verpfiffen, Anna ihn in die Wüste geschickt und Yasmin ihn gestern Abend nach einem heftigen Streit rausgeschmissen hatte. Nun wusste Julian nicht, was er machen sollte, fühlte sich miserabel und wusste vor allem nicht, wo er die nächsten Nächte schlafen sollte. Das Sofa war jedenfalls auf Dauer keine Lösung, Yasmin würde ihn vorerst nicht wieder in ihr Zimmer aufnehmen, und unter dem Heger Tor wollte er auch nicht unbedingt nächtigen. Marius wollte auf keinen Fall den Moralapostel spielen oder für ihn Partei ergreifen, auch wenn er in diesem Augenblick ziemlich mitleiderregend aussah, darum schwieg er.
*****
Noch nie im Leben hatte sie solche Angst gehabt. Sie saß da und wünschte, sie könne sich unsichtbar machen, im Boden versinken oder sich in Luft auflösen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, sie biss sich auf die Lippe und traute sich nicht, sich zu bewegen. Aber sie hörte die Schritte hinter sich, die sich ihr langsam aber sicher näherten, und sie wusste, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Dabei war es ja ihre eigene Schuld gewesen, einzig und allein ihr Fehler. Sie wusste, was gleich passieren würde, konnte sich alles ganz genau ausmalen, und es gab keine Möglichkeit mehr, dem zu entgehen. Nervös löste sie sich aus ihrer Starre, spielte sie mit ihrem Bleistift herum, guckte angestrengt auf den Tisch vor sich und hielt beinahe den Atem an. Sie war jetzt ganz nah hinter ihr, nur noch einen Schritt entfernt, und jede Sekunde konnte es passieren. Ihr Herz klopfte lauter denn je, ihre Hand begann zu zittern, sie ließ den Bleistift fallen und sah ihm zu, wie er in Zeitlupe vom Tisch rollte. Während sie sich bückte, um ihn wieder aufzuheben, schoss es ihr durch den Kopf, dass sie einfach unter dem Tisch hindurchkriechen und weglaufen könnte. Aber das würde alles nur noch schlimmer machen.
Als Lena sich wieder auf ihren Stuhl setze, stand Frau Lehmann neben ihr und verlangte, ihr Heft und ihre Hausaufgaben zu sehen.
„Ich...“, stammelte Lena mit kaum hörbarer Stimme, „ich hab sie vergessen.“
Und dann lief alles genauso ab, wie sie es erwartet hatte. Frau Lehmann guckte sie ernst an, erklärte, dass das jetzt das dritte Mal sei, dass sie ohne Schularbeiten dastand, und diesmal müsse sie einen Brief an ihren Vater schreiben. Sobald die Lehrerin nach vorne an ihr Pult ging, traf Lena etwas am Hinterkopf, und sie hörte Christian und seine Freunde lachen. Es freute sie besonders, dass gerade Lena, die sie bisher immer als Streberin bezeichnet hatten, Ärger bekam, und dann hörte sie auch schon, wie Christian laut in die Klasse rief, dass sie asozial sei. Zwar schimpfte die Lehrerin ihn an, er solle sowas nicht sagen, aber trotzdem traten Lena die Tränen in die Augen und sie wurde rot, weil ihr das peinlich war.
Auf dem Nachhauseweg ging sie alleine, machte einen großen Umweg durch die große Straße und fragte sich, was ihr Papa wohl sagen würde, wenn er den Brief von Frau Lehmann las. Kurz überlegte sie, ob sie den Brief einfach in einen Mülleimer werfen sollte, aber sie wusste auch, dass das alles nur noch viel schlimmer machen würde. Sie war wütend auf Christian, der sie vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht hatte, noch mehr aber auf sich selbst, weil sie einfach nicht an die Hausaufgaben gedacht hatte. Früher war ihr das nie passiert, und sie hatte auch oft alles von ihrem Papa kontrollieren lassen. In der letzten Zeit gab es jedoch jeden Tag so viel anderes zu tun, was viel spannender war als das blöde Rechnen und Schreiben, und außerdem hatte sie auch gar keine Lust mehr, in die Schule zu gehen, weil sie genau wusste, dass Christian und die anderen Jungs sie ja doch nur ärgern würden.
Langsam schlenderte sie an den Schaufenstern vorbei und dachte dabei darüber nach, wie sie ihrem Papa am besten von dem Brief erzählen sollte. Auf jeden Fall würde sie ihm nicht alles erzählen, denn er sollte nicht wissen, dass sie manchmal sogar Angst hatte, in die Schule zu gehen, und er sollte auch nicht wissen, was die Jungs über sie redeten. Vielleicht war es am besten, wenn sie den Brief nicht ihrem Papa gab, sondern Kira oder Marc. Die würden bestimmt nicht mit ihr schimpfen, besonders Kira nicht, der würde sicher etwas einfallen, auch, was sie mit Christian machen sollte, damit er sie nicht mehr ärgerte. Oder hatte er am Ende vielleicht Recht, und sie war tatsächlich asozial, weil sie in keiner richtigen Familie mehr lebte?
*****
Da Tobi heute früher aufgewacht war als sonst, hatte er überlegt, ob er vielleicht mal wieder in die Uni gehen sollte. Es konnte immerhin nicht schaden, sich dort mal wieder blicken zu lassen und die eine oder andere Vorlesung anzuhören, doch der Gedanke daran, erst sein Fahrrad aus dem Keller zu holen, dann stundenlang zu sitzen, um etwas zu hören, das er auch in einem Buch nachlesen konnte und am Ende wohlmöglich noch in der Mensa essen zu müssen, schreckte ihn ab. Selber zu kochen und dann vielleicht die Nase noch in die Bücher zu stecken, erschien ihm die bessere Alternative, und bis zu den Klausuren war sowieso noch genug Zeit.
Er hatte darauf gehofft, seine Mitbewohner würden ihm den Tag verschönern, doch keiner von ihnen, schien zum reden aufgelegt zu sein. Zuerst ging Marc an ihm vorbei und tat dabei als sähe er ihn nicht einmal, dann holte Yasmin sich ein Brötchen aus der Küche und erklärte trocken, sie habe heute keine Lust, auf seine Sticheleien einzugehen, und als dann auch noch Kira kurzangebunden war und lediglich wissen wollte, wo Marius steckte, gab er es auf. Irgendetwas stimmte hier nicht, jeder schien sauer auf jeden zu sein, und Tobias fragte sich, inwieweit er daran mitschuldig war. Immerhin war er es gewesen, der Anna ins offene Messer hatte rennen lassen. Wäre das nicht passiert, hätte sie sich nicht von Marc getrennt, und dann wäre Julian auch nicht mit ihr in die Kiste gehüpft. Dann wiederum hätte es zwischen Yasmin und Julian keinen Streit gegeben und die Stimmung hier wäre voraussichtlich besser. Aber war das seine Schuld? Er konnte schließlich nichts dafür, dass Marc nicht viel von Treue hielt, und er hatte auch nicht ahnen können, dass Julian die erstbeste Gelegenheit nutzen würde, um mit einer anderen als seinem Schatzi ins Bett zu steigen. Nein, beschloss er, es war ganz und gar nicht seine Schuld, aber trotzdem fühlte er sich bedrückt und redete sich ein, nach alter Pfadfinderregel endlich mal wieder eine gute Tat vollbringen zu müssen.
„Sag mal, Häschen“, fragte er Yasmin als sie ihm auf dem Flur beinahe in die Arme lief, „weißt du zufällig, wann der nächste 'Audio Blast' ist?“
„Was ist los?“
Er wiederholte seine Frage, aber auch jetzt wusste sie noch keine Antwort darauf.
„Warum willst du das überhaupt wissen?“
Es war ja nun mal so, erklärte er, dass der 'Audio Blast' die größte und bekannteste Veranstaltung hier in Osnabrück war. Und er hatte neulich miterlebt, wie glücklich es Marius machte, wenn er auflegen durfte. Und da Marius durch sie alle mehr Stress hatte als vorher, und noch dazu auch bald Geburtstag hatte, dachte er, es wäre vielleicht eine gute Idee, ihm eine Freude zu machen und etwas zu organisieren, wo er endlich mal wieder vor richtigem Publikum auflegen konnte.
Yasmin war noch nicht ganz überzeugt und warf deshalb nur ein: „Ich dachte, die größte Veranstaltung hier ist die Maiwoche.“
„Ja, ist sie ja auch, aber da kann Marius wohl kaum auflegen. Also was hältst du von der Idee?“
Im Grunde hatte sie alles andere im Kopf als ein Geburtstagsgeschenk für Marius zu planen, noch dazu eines, was richtig Arbeit machte. Je mehr sie aber darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Idee, und wenn es tatsächlich klappen würde, konnte es die perfekte Überraschung werden. Das gab sie Tobi gegenüber natürlich nicht zu, aber sie räumte zumindest ein, dass man mal darüber nachdenken konnte. Leider verstand er auch diese distanzierte Zustimmung als Lob und schlug vor, er könne ja mal die anderen fragen, und dann konnten sie gemeinsam weiter darüber nachdenken.
Als er verschwunden war, musste Yasmin trotz ihrer schlechten Laune lächeln, und sie dachte lange darüber nach, wieso.
*****
„Du Marius“, fragte Kira, „hast du ne Minute Zeit?“
„Ja klar, worum geht es?“
Ohne sofort zu erklären, was vorgefallen war, fragte sie, wer denn im Haus neben ihnen wohnte, gab vor, sie hätte die Nachbarn noch nicht kennen gelernt und es interessiere sie einfach, ohne, dass es einen besondern Grund gab.
„Also unten wohnt ein älteres Ehepaar, das sich auch nur sehr selten blicken lässt, weil sie beide nicht mehr gut zu Fuß sind“, antwortete er, „ganz oben wohnt seit kurzem ein junges Paar, das ich aber auch nicht besser kenne, und dann wohnt da noch Ramona mit ihrem Sohn Felix.“
„Und weißt du auch“, bohrte sie weiter, „wer in dem Zimmer wohnt, das meinem genau gegenüber liegt?“
Marius überlegte einen Moment und gab dann zu, er sei schon seit Ewigkeiten nicht mehr drüben gewesen, aber das sei auf jeden Fall die Wohnung von Ramona, und wenn er sich nicht irrte, könnte das Felix Zimmer sein.
„Wieso willst du das denn so genau wissen? Ist was passiert?“
Nun musste Kira anscheinend doch mit der Sprache herausrücken, und sie erklärte ihm, dass sie gestern das Gefühl gehabt hatte, beobachtet worden zu sein. Es war ihr unangenehm, das Thema an die große Glocke zu hängen, denn im Prinzip war es schließlich nur eine Bagatelle, aber sie wusste, dass sie ruhiger schlafen könnte, wenn sie genau wusste, was dahinter steckte.
Marius verstand, was sie sagen wollte und erzählte ihr dann, dass Ramonas Sohn Felix jetzt siebzehn sein musste, und in dem Alter, konnte es natürlich schon mal vorkommen, dass man heimlich einer attraktiven Frau beim Ausziehen zusah.
„Aha“, unterbrach ihn Kira, „soll das etwa heißen, du warst in dem Alter auch nicht anders?“
Statt einer Antwort wurde Marius verlegen und log ihr dann vor, dass er seine ersten sexuellen Gedanken natürlich in seiner Hochzeitsnacht mit Karina gehabt habe und auf keinen Fall früher. Kira lachte laut auf, bestätigte ihm dann aber todernst, dass sie ihm natürlich jedes Wort glaube.
„Es könnte natürlich auch sein“, räumte Marius ein, „dass ich früher auch mal ein bisschen in Ramona verschossen war und darum auch so oft bei meiner Oma zu Besuch war.“
Kira lächelte und erklärte dann lachend: „Na, dann schließt sich der Kreis ja wieder, wenn ihr Sohn mich jetzt nachts beobachtet...“
„Ich habe nie...“, setzte Marius an, sich zu verteidigen, fiel dann aber in ihr Lachen mit ein und gab ihr den Rat, sich doch eine große Wasserpistole zu kaufen und damit beim nächsten Mal auf das Fenster gegenüber zu feuern.
„Gute Idee, genau das werde ich machen“, bestätigte Kira immer noch lachend, „und ich hoffe nur, dass er mich dann vielleicht aus dem geöffneten Fenster bespannt. Ach, und danke.“
„Wofür danke?“
„Für die 'attraktive Frau'.“
Dann verschwand sie in der Küche und ließ Marius mit seinen Erinnerungen allein. Ja, er hatte tatsächlich lange Zeit auf Ramona gestanden und seine Oma aus diesem Grunde öfter besucht als er es sonst getan hätte. Er muss damals ein Teenager gewesen sein, und sie war neun Jahre älter und für ihn die schönste Frau der Welt. Selbstverständlich hatte Ramona nie etwas von seiner Schwärmerei mitbekommen, und mit den Jahren hatte sich die Angelegenheit auch erledigt, und doch war er immer froh gewesen, dass er auch später, als er schon mit Karina zusammenlebte, stets einen guten nachbarlichen Kontakt zu Ramona gepflegt hatte. Als Felix noch kleiner war, hatte Karina oft auf ihn aufgepasst, wenn Ramona abends nicht zuhause war, und als Lena geboren wurde, war wiederum Ramona oft als Babysitter eingesprungen. In den letzten Jahren hatten sie weniger miteinander zu tun, grüßten sich nur noch, wenn sie sich sagen und wechselten einige nichtssagende Worte. Schade, dass oft genug im Leben gute Freundschaften auf der Strecke bleiben, sagte er sich, oder dem Alltagstrott zum Opfer fallen. Trotzdem musste es ja nicht zwangsläufig so sein, und vielleicht ergab sich irgendwann die Möglichkeit, die alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen. Nicht, dass er immer noch heimlich für seine Nachbarin schwärmte, doch er fand es schade, wenn Kontakte einfach im Sande verliefen. Er hatte schon genug alter Bekannte, bei denen er sich seit Jahren nicht mehr gemeldet hatte und gerade noch zum Geburtstag eine Karte schrieb. Es hieß immer, es sei der Lauf des Lebens, sich Freunde zu suchen, wenn man sie brauchen konnte, und später diese guten Freunde zu vernachlässigen und irgendwann kaum noch zu kennen. Genau dies wollte er verhindern, er wollte auf keinen Fall, dass auch Freundschaften eine Art Konsumprodukt wurden, sondern hatte immer noch die Vorstellung, Freundschaft sei etwas wichtiges im Leben, etwas, worauf es ankäme, eben unbezahlbar und somit kostbar. Vielleicht übertrieb er aber auch gerade und steigerte sich in etwas hinein, was den Aufwand nicht wert war.
Kopfschüttelnd riss Marius sich aus seinen Gedanken, um dann Staubzusaugen, denn das war im Augenblick wichtiger als alles Philosophieren über die Tücken des menschlichen Lebens.
*****
Marc und Julian saßen im Wohnzimmer und guckten sich 'Wer wird Millionär' an, ohne, dass sie bis jetzt auch nur ein Wort miteinander gewechselt hatten. Marc war nach wie vor sauer, dass Julian ohne zu zögern mit Anna abgestürzt war, wobei er in gleichem Maße von Anna enttäuscht war, und Julian hasste ihn vermutlich dafür, dass er ihn bei Yasmin verpfiffen hatte. Sicher wäre es Marc lieber gewesen, wenn das alles nicht geschehen wäre, aber war es vielleicht seine Schuld?
Jetzt kam Kira zu ihnen, brachte eine Schüssel Chips mit und fragte: „Wollt ihr auch welche?“
„Klar, warum nicht“, antworteten Marc und Julian wie aus einem Munde und griffen zu.
Bis auf die Stimmung glich das ganze einem normalen gemütlichen Fernsehabend, und vielleicht fiel gerade deswegen so sehr auf, dass etwas zwischen ihnen schwebte. Im Grunde, sagte Marc sich, waren sie ja quitt. Und noch dazu war es schade, nach dem Training alleine durch die Innenstadt zu ziehen. Nur leider machte sich auch etwas wie Ehrgefühl in ihm breit, das verlangte, hart zu bleiben und nicht einfach darüber hinwegzusehen, wenn einem jemand die Freundin ausspannte. Früher hatte man sich wegen solcher Dinge duelliert, und wenn es auch grausam schien, war es mit Sicherheit nicht die schlechteste Lösung. Zumindest entging man dann dem Hin- und Hergerissensein und hatte die Angelegenheit im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Knall aus der Welt geschafft.
Julian war der erste, der das Schweigen zwischen ihnen brach und auf eine Versöhnung zusteuerte. Er fragte Marc, ob sie das Kriegsbeil nicht vergraben wollten, und wenn sie beide schon ihre Beziehung verloren hatten, wenigstens ihre Freundschaft aufrecht erhalten wollten. Im ersten Moment war Marc drauf und dran, nachzugeben, dann zögerte er allerdings doch, denn einen Gefühl sagte ihm, dass er Julian noch nicht verziehen habe, und selbst, wenn er tat als sei alles in Ordnung, war das nicht der Fall, und er konnte nicht ohne weiteres alles vergessen. Das sagte er auch Julian und lenkte aber wenigstens dahingehend ein, dass sie versuchen konnten, vernünftig miteinander auszukommen.
„Na, das ist doch wenigstens schon mal etwas“, fasste Julian zwiespältig zusammen, denn er hatte sich eine andere Reaktion erhofft, „ich denke, wir werden schon einen Weg finden, um die Sache ganz aus der Welt zu schaffen.“
Er wollte noch hinzufügen, dass sich ja auch Anna und Yasmin vielleicht noch irgendwann wieder beruhigen ließen, ließ es dann jedoch, weil es ihm klüger schien, dieses Thema in den nächsten Tagen zu umgehen.
„Ach so, Marc“, setzte er wieder an, „du, ich hätte da noch ne Frage...“
„Was denn?“
„Naja, also Yasmin hat sich ja nun erst mal rausgeschmissen... und da dachte ich... also ich hatte gehofft, du...“
Marc ließ ihn nicht ausreden, sondern wandte sich nur ab und stand ruckartig auf. Julian zuckte zusammen und wusste, in diesem Augenblick wären vernichtende Blitze aus seinen Augen geschossen, wenn das möglich gewesen wäre.
„Ach, darum geht es dir also“, blaffte Marc, „nichts von wegen Freundschaft, sondern ich bin dir einzig und allein gut genug, damit du 'nen Schlafplatz hast.“
Julian wollte ihm erklären, dass das nicht der einzige Grund war, aber es war zu spät. Marc warf ihm noch an den Kopf, dass er ja eh nur Augen für materielle Werte habe, und dass er nicht bereit sei, sich zum Affen zu machen. Dann verschwand er und ließ eine Stimmung wie nach einem Großbrand zurück. Das war ja bestens gelaufen, sagte sich Julian und hätte heulen können, wenn nicht auch er ein kleines bisschen Stolz in sich gehabt hätte.
„Also wenn du willst“, mischte sich Kira ein, die er fast vergessen hatte, „kannst du vorerst bei mir pennen, bis sich die Sache mit Yasmin wieder eingerenkt hat.“
Julian hätte ihr um den Hals fallen können, und zwar entgegen Marcs Beschuldigung aus materiellen Gründen, sondern weil er wusste, dass sie sich damit zwischen die Stühle setzte, sozusagen Partei ergriff und riskierte, dass Yasmin und Marc auch auf sie sauer sein würden. Er war jetzt mehr als gespannt, wie das alles sich weiter entwickeln würde, und er hoffte es stark, denn wie es jetzt war, würde er es nicht lange aushalten. Die Spannung war ohnehin schon schwer zu ertragen, und das Gefühl, dass er an allem Schuld war, machte die Sache unerträglich.
*****
Schon seit Tagen war Yasmin sauer oder schlechtgelaunt und konnte sich nicht erklären, warum. Ihr schien als gelang nichts wie es sollte, als liefe alles verkehrt, und als könne sie mit nichts mehr zufrieden sein. Dabei gab es im Grunde keinen Grund, sich aufzuregen. Bis auf die Tatsache, dass sie ihren Hasi vor die Tür gesetzt hatte, ihn aber dennoch täglich sehen musste, lief doch alles prima. Was war bloß mit ihr los? Auf den Gedanken, dass sie Julian vielleicht vermissen und ihm nachtrauern könnte, war sie auch schon gekommen, doch das wollte sie nicht wahrhaben, und darum schob sie es weit von sich. Vielleicht war sie auch auf Kira sauer, weil sie sich auf seine Seite stellte und ihn mit offenen Armen bei sich aufnahm. Oder auf Marius, der ihn nicht aus dem Haus geworfen hatte. Oder sie hatte sich schlichtweg zu sehr an die Tatsache gewöhnt, eine Beziehung zu haben, und konnte es nicht ertragen, plötzlich wieder allein zu sein. Marc hatte ihr jedenfalls geraten, sich dringend um einen neuen Freund zu kümmern, denn alleine und ohne jemanden, an dem sie ihre Launen auslassen konnte, sei sie noch unerträglicher als ohnehin schon. Sie hätte heulen mögen. Nicht, weil Marc sie beleidigt hatte oder weil sie besorgt war, wirklich jemandem mit ihren Depressionen auf den Geist zu gehen, sondern vielmehr, weil sie das Gefühl hatte, niemand würde sich um sie kümmern und keiner konnte oder wollte ihr helfen. Nicht einmal Tobi stellte seine Sticheleien ein und benahm sich anders als sonst.
Während sie noch im dunklen Wohnzimmer saß und das kalte Licht des Mondes betrachtete, das bizarre Formen auf den Fußboden malte, tappte plötzlich Lena ins Zimmer, beinahe geräuschlos und völlig unerwartet, denn sie hätte um diese Zeit längst im Bett liegen sollen.
„Ich kann nicht schlafen“, erklärte sie ebenso niedergeschlagen wie Yasmin, der es genauso ging.
„Ich auch nicht, aber Schäfchenzählen bringt bei mir nichts.“
Lena stimmte ihr mürrisch zu und fragte dann, ob Yasmin ihr nicht eine Geschichte erzählen könne, wie es ihre Mutter früher manchmal gemacht hatte. Zuerst wollte Yasmin ablehnen, aber sie zögerte. Einerseits fühlte sie sich hoffnungslos überfordert, wenn sie auf einmal Mutterpflichten übernehmen sollte, andererseits machte es sie auch ein wenig stolz, dass Lena sie fragte, obwohl die definitiv diejenige war, die sich am wenigsten um das Kind kümmerte. Schließlich gab sie sich einen Ruck, folgte Lena auf ihr Zimmer, deckte sie zu und suchte im Regal nach einem Buch, aus dem sie hätte vorlesen können.
„Nee“, warf das Mädchen ein, „vorlesen ist doof, erzähl lieber 'was Vernünftiges.“
„Und was meinst du mit vernünftig?“
„Naja, eben nicht so eine langweilige Einschlafgeschichte, sondern eine spannende.“
Zu dumm nur, dass Yasmin keine Geschichten kannte, weder spannende, noch sonst welche. Und wozu auch? Wenn Julian nicht hatte einschlafen können, hatte sie meistens auf andere Mittel zurückgegriffen als ihm etwas vorzulesen.
„Na gut, also pass auf“, begann sie nach längerem Überlegen, „Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne...“
„Och nee, oder?“
„Jetzt warte doch mal ab, du weißt doch noch gar nicht, was kommt.“
Yasmin lächelte und musste zugeben, dass das Erzählen sie wenigstens von ihren eigenen Problemen ablenkte. Außerdem war das längst nicht so langweilig wie sie gedacht hatte, und vielleicht konnte sie auch gar nicht so schlecht mit Kindern umgehen wie sie immer glaubte.
„Also“, fuhr sie fort, „dieser König war nämlich ein Vampirkönig, und seine Söhne somit auch Vampire.“
Zufrieden bemerkte sie, dass Lenas Ablehnung in Interesse umschwang, und sie erzählte weiter.
„Als die drei Vampire älter wurden, schickte der Vater sie hinaus in die Welt, um Erfahrungen zu sammeln. Sie flogen also los. Am Tag darauf kam der erste Sohn zurück zum Vater, hatte ein bisschen Blut am Mundwinkel und der Vater fragte sogleich, was er denn erlebt hatte. 'Siehst du die Burg dahinten?', fragte der Vampir. Der Vater nickte. 'Dahinter ist eine Stadt, und da wohnt ein kleines Mädchen namens Lena. Die habe ich mir geschnappt und habe reingebissen.'“
„Cool“, entfuhr es Lena, die Yasmin jetzt aufmerksam zuhörte.
„Am zweiten Tag kam der zweite Sohn zurück, und als der Vater sah, dass sein ganzes Kinn blutverschmiert war, fragte er, was ihm geschehen war. 'Vater, siehst du die Burg dahinten? Dahinter gibt es eine Stadt, und da wohnt eine Frau, die heißt Yasmin, und da habe ich reingebissen.’ Der Vater war begeistert und wartete nun auf den dritten Sohn. Ein Tag verging, dann der zweite und auch der dritte Tag verstrich, ohne dass der Sohn zurückkehrte. Dann am siebten Tag kam der dritte Sohn nachhause, und sein Ganzes Gesicht war blutverschmiert. Der Vater wollte sofort wissen, was ihm geschehen sei, und der Sohn antwortete: 'Siehst du die Burg dahinten?' 'Ja.' 'Tja, die habe ich leider nicht gesehen.'“
*****
Als Marc vom Training nach Hause kam, waren Kira und Julian gerade dabei, ein Spielbrett und die dazugehörigen Figuren aufzubauen. Er wollte das Wohnzimmer schon wieder verlassen, als Kira fragte, ob er nicht mitspielen wollte.
„Was spielt ihr denn?“
Die Frage war im Prinzip unnötig, denn was sollten sie schon spielen, wenn der Karton von 'Die Siedler von Katan' neben ihnen stand.
„Ach, wir wollen Lena das Spiel beibringen, und zu viert macht es eben mehr Spaß.“
Na gut, sagte er sich, wenn es darum ging, Lena eine Freunde zu machen, konnte er ja schlecht ablehnen, zumal er ohnehin das Gefühl hatte, das Mädchen in den letzten Tagen etwas vernachlässigt zu haben. Wenn sie mit Tschaikowsky spielen wollte, hatte er sie das Tier meistens mit in ihr Zimmer nehmen lassen, und wenn sie mit ihm etwas unternehmen wollte, hatte er meistens abgeblockt. Es würde ihm also bestimmt kein Zacken aus der Krone fallen, wenn er sich mal wieder einen Abend Zeit nahm.
„Okay, ich mache mit. Aber wo steckt unsere kleine Siedlerin denn?“
Gerade in diesem Augenblick kam Lena ins Zimmer gesaust, überglücklich, dass er ihnen Gesellschaft leistete, und sie begannen, das Spielbrett, also die Insel, aufzubauen und alles nötige zu verteilen.
Nach einiger Zeit fiel Marc auf, dass er, mehr oder weniger unbewusst, es vermied, mit Julian zu reden oder ihn auch nur anzusehen. Da es bei dem Spiel aber leider darum ging, mit verschiedenen Rohstoffen Handel zu treiben und da man deswegen zwangsläufig miteinander reden musste, entging auch Kira nicht, dass Marc und Julian einander zu ignorieren versuchten. Sicherlich war Marc bewusst, dass es im Grunde lächerlich war, aber das war egal. Er durch Julian nicht nur Anna verloren, sondern auch einen Menschen, den er für seinen Freund gehalten hatte, und darum sah er nicht ein, jetzt so zu tun als sei nie etwas vorgefallen.
Das klingelnde Telefon riss ihn aus seinen Gedanken und aus dem Spiel. Als er sich meldete, begrüßte ihn am anderen Ende eine Frauenstimme, die behauptete, Carola Meißner von irgendeinem Meinungsforschungsinstitut zu sein, so als müsste ihm das irgendetwas sagen.
„Ach hallo, Carola“, spielte er das Spiel mit, “das ist aber schön, dass sie sich melden.”
Frau Meißner am anderen Ende wirkte etwas irritiert und fuhr dann aber fort: „Ich, ich hatte vor ein paar Tagen schon einmal angerufen, und ich würde ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“
Marc hasste diese Anrufe und hätte am liebsten sofort wieder aufgelegt, aber er beschloss, es anders und hoffentlich wirksamer zu versuchen.
„Sicher doch, Carola, sie dürfen mich alles fragen, vor ihnen habe ich keine Geheimnisse.“
Am anderen Ende folgte eine längere Pause.
„Ja, ich...“, nahm die Anruferin das Gespräch wieder auf, „mich würde unter anderem interessieren, wie viele Personen bei ihnen leben beziehungsweise dauerhaft schlafen, also unter ihrem Dach ihr Bett haben.“
Marc musste sich ein Grinsen verkneifen als er antwortete, und beinahe tat ihm die junge Frau leid, die ja bestimmt auch nichts dafür konnte, dass sie für ihren Arbeitgeber derart blöde Anrufe machen musste.
„Hey hey, Carola“, setzte er an, „nun werden sie aber ganz schön indiskret... Ich glaube, wer in welchem Bett schläft, das geht sie nun wirklich nichts an.“
„Also so habe ich das auch nicht gemeint, ich wollte lediglich...“
„Sie brauchen sich da gar nicht rausreden, Carola, ich habe ihre Frage schon verstanden. Aber ich werde ihnen dennoch keine Antwort geben. Danach wollen sie vermutlich auch noch wissen, wer mit wem schläft, wer wen wie oft betrügt und was wir für Vorlieben haben! Nein, Carola, nicht mit uns! Diese dreckigen Spielchen machen wir nicht mit!“
Ein Knacken in der Leitung sagte ihm, dass das Gespräch beendet war, und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frau Meißner es noch einmal versuchen würde.
Lächelnd kehrte er zum Spiel zurück und ignorierte die fragenden Blicke der anderen. Zu seinem Erstaunen war es Julian, der zuerst nachfragte, mit wem er denn gesprochen hatte.
„Ach das“, antwortete er gelassen, „das war Frau Meißner, aber sie hatte anscheinend keine Lust mehr, mir noch weitere Fragen zu stellen.“
Julians Gesichtsausdruck war unbezahlbar als er daraufhin kopfschüttelnd erklärte: „Hm... jeder kennt diese Frau Meißner, bloß ich nicht...“
*****
EW-Party. Einen blöderen Namen für eine Party konnte es nicht geben. Und auch wenn der Titel logisch war, eben, weil die Party im Erweiterungsgebäude der Uni, kurz EW-Gebäude, stattfand, konnte man schon anhand des Namens sehen, dass man die Veranstaltung getrost auslassen konnte. Trotzdem verschlug es Tobias immer wieder hierhin und jedes Mal ärgerte er sich im Nachhinein. Die Party war lahm, die Gäste ebenso, und es blieb ihm nicht viel anderes übrig als sich mit Bier zuzuschütten und dann nach Hause zu torkeln. Immerhin konnte er am nächsten Morgen behaupten, er sei bis nachts in der Uni gewesen und der Stoff sei ihm zu Kopf gestiegen, doch auch das war nur ein schwacher Trost.
Tobi erinnerte sich an fast nichts mehr, was auf der Party passiert war, er wusste nur noch, dass er sich schließlich mit einem Kommilitonen auf den Heimweg gemacht hatte, und dass sie dabei über das Leben und ihre Aufgabe darin philosophiert hatten. Kein leichtes Thema, wenn man Alkohol getrunken hatte, und vielleicht rührten seine Kopfschmerzen auch von der schwierigen Frage her, was seine Bestimmung im Leben sei und der Erkenntnis, bisher nichts auf die Beine gestellt zu haben, was dieser Aufgabe gerecht werden konnte. Wie selbstverständlich hatte er gelebt, hatte ein Studium begonnen und einige Gelegenheitsjobs verrichtet, aber das reichte noch längst nicht aus, um sein Leben als sinnvoll zu bezeichnen. Und was viel schlimmer war, er hatte außerdem das Gefühl, den entscheidenden Schritt, um seinem Dasein Bedeutung zu verleihen, verpasst zu haben.
In der Nacht träumte er davon, die Zeit zurück drehen zu können, an einem beliebigen Punkt seines Lebens noch einmal von vorne zu beginnen und die Weichen anders stellen zu können. Bis zum Morgengrauen zermarterte er sich den Kopf damit, wo er am besten ansetzen solle. Vielleicht schon damals als er zehn Jahre alt war und noch alles vor ihm lag, oder lieber nicht, weil er dann noch jahrelang zur Schule gehen und viel lernen müsste, worauf er keine Lust hatte. Oder vielleicht zum Zeitpunkt seines Abiturs als ihm alle Wege offen standen, aber andererseits hatte er durch die Wahr seiner Leistungskurse und so weiter damals schon Pläne gehabt und eingeleitet. Es wäre natürlich auch möglich gewesen, diese Pläne wieder umzuschmeißen, ein ganz anderes Konzept aufzustellen und vielleicht im Studium ehrgeiziger zu sein. Oder aber er begann in der Pubertät noch einmal, erlebte die Hochgefühle der ersten Liebe neu, doch dann natürlich auch die Hänseleien, die Pickel und was diese Zeit sonst noch an Unannehmlichkeiten mit sich brachte.
Jedenfalls war im Endeffekt alles scheiße, und wenn überhaupt, dass wollte er nicht sein Leben, sondern ein anderes, besseres och einmal von vorne beginnen. Eventuell ein Leben, in das er als Genie hineingeboren wurde. Oder als Sohn von Rockefeller oder Bill Gates. Und wer weiß, ob ein Dasein als Hund, Katze, Maus oder Bierflasche auf der EW-Party nicht noch wesentlich erstrebenswerter war.
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Marius saß in der Küche, schälte Kartoffeln und wünschte sich an einen besseren Ort. Raus aus dem öden Osnabrück, raus aus dem kalten Deutschland, irgendwohin wo es warm war und wo er den alltäglichen Stress vergessen konnte. Nur Lena und er, eine Bambushütte irgendwo an einem einsamen Strand, den ganzen Tag Sonne, und der einzige Stress bestünde darin, Lena davon abzuhalten, zu weit ins endlose azurblaue Meer hinaus zu schwimmen und aufzupassen, dass einem die Kokosnüsse von den Palmen nicht direkt auf die Rübe fielen. Stattdessen saß er am Küchentisch, schälte Kartoffeln und wusste nicht einmal, wann er zuletzt im Urlaub gewesen war. Er hätte nie erwartet, dass es als alleinerziehender Vater derart schwer sein würde, alles unter einen Hut zu bekommen, und er hatte auch nicht geahnt, dass er sich mit seinen Mitbewohnern im Grunde noch mehr Personen ins Haus geholt hatte, für die er die Aufsichtspflicht übernehmen musste.
Ohne dass er sie hatte kommen hören, stand auf einmal Yasmin neben ihm, nur mit einem Handtuch bekleidet und mit einem Gesicht, das alles andere als die Sonne aus seinen Tagträumen wiederspiegelte.
„Kannst du mir mal bitte sagen, wer zuletzt im Badezimmer war?“, verlangte sie.
Marius verneinte und verkniff sich den Kommentar, dass ihn das auch herzlich wenig interessierte.
„Ich wollte gerade ein Bad nehmen, aber es ist mir nicht möglich, da überall Klamotten herumliegen, der Fußboden beinahe schwimmt und vor allem der Klodeckel schon wieder nicht heruntergeklappt ist.“
„Ach...“, konterte Marius, „ich wusste gar nicht, dass du in der Toilette baden wolltest.“
Yasmin stieß ein erbostes Schnauben aus, erklärte gereizt, ihr ginge es dabei ums Prinzip, und es sei nun einmal eine Unart, den Deckel hochgeklappt zu lassen.
„Ich hätte eine Lösung für dein Problem“, schlug Marius diplomatisch vor, „du schälst für mich die Kartoffeln und ich werde todesmutig neben dem hochgeklappten Klodeckel baden.“
Scheinbar gefiel ihr die Lösung nicht, oder sie verstand heute keinen Spaß, auf jeden Fall verzog sie sich daraufhin aus der Küche.
Die nächste, die plötzlich an Marius Seite auftauchte, war Lena, die sich erkundigte, was es denn zu essen gab.
„Bratkartoffeln. Für Tobi mit, für Yasmin ohne Speck, und alle anderen ganz nach Belieben.“
„Hmm, lecker!“, bemerkte seine Tochter und stopfte sich rasch eine der geschälten Kartoffeln in den Mund.
Wie konnte man bloß rohe Kartoffeln essen, fragte Marius, während ihm ein Schauer den Rücken herunterlief, aber Lena bewies es ihm, indem sie sich noch eine aus der Schüssel nahm und genussvoll hineinbiss.
„Hey, jetzt hör aber auf, sonst verdirbst du dir den Magen.“
„Der ist schon verdorben, also kann ich weitermachen“, sprachs und griff erneut zu.
Lena schien nichts mit ihrer Zeit anfangen zu können, jedenfalls wusste er genau, dass sie nur versuchte, ihn auf die Palme zu bringen, wenn auch leider auf eine andere als die, von der er vorhin geträumt hatte. Sie wirbelte um ihn herum, löcherte ihn mit Fragen, stibitzte sich ab und zu eine seiner mühsam geschälten Kartoffeln oder brachte ihn sonst wie zur Weißglut. Da er das Gefühl hatte, ihr zu wenig Zeit zu widmen, ließ Marius sie länger gewähren als nötig, aber irgendwann platzte auch ihm der Kragen.
„Jetzt hör endlich auf, sonst gipse ich dich ein!“
„Haha“, lachte Lena ob seiner Drohung laut auf, „das geht ja gar nicht.“
„Ich wird dir schon zeigen, wie das geht, ich packe dich, wickele dich ein wie eine Mumie und dann stecke ich dich in Gips bis es fest ist.“
„Dazu musst du mich aber erst mal kriegen!“, rief die kleinen Nervensäge, rannte zur Tür hinaus und Marius hinterher. Wenn die anderen Hunger bekamen, sollten sie doch selbst weiterschälen, er jedenfalls musste jetzt erst einmal mit dem Quälgeist durchs Haus toben, das war jetzt wichtiger und außerdem auch weitaus lustiger.
*****
Nach dem Essen hatte Marius ihn gestern zur Seite genommen und wollte dann wissen, wie lange die Krise mit Yasmin denn noch dauern würde. Das wisse er nicht, hatte Julian gesagt, ihm käme es nur vor als sei das nicht nur eine läppische Krise, und deshalb würde der Zustand wohl noch anhalten. Daraufhin hatte Marius nur mit dem Kopf genickt und dann vorgeschlagen, er könne zur Not auch das Zimmer leer räumen, in dem jetzt seine Turntables und seine Platten standen, und Julian könne dann da einziehen, denn bei Kira unterzuschlüpfen, sei ja auf Dauer keine Lösung, und rausschmeißen wolle er ihn nicht. Zuerst hatte Julian sich gesträubt, da er nicht wollte, dass Marius sich seinetwegen einschränken musste, doch der duldete keinen Widerspruch und erklärte, er käme sowieso selten genug zum Auflegen, konnte den Krempel in sein Schlafzimmer und in den Keller stellen und bräuchte das Zimmer nicht.
Mit Hilfe von Lena und Kira hatten sie heute den ganzen Tag umgeräumt und auch fast alles geschafft, so dass es wohl die letzte Nacht werden würde, die er bei Kira Asyl suchen musste.
Gerade als er jetzt aus dem Bad kam, stieß er fast mit Yasmin zusammen.
„Warte mal, Hasi“, bat sie, „ich glaube, wir sollten mal miteinander reden.“
Er sei müde, erklärte er, aber wie immer, wenn sich Yasmin etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie keine Ausreden gelten, und wischte seine Argumente mit einem Kopfschütteln fort.
„Weißt du, ich bin zwar immer noch verletzt wegen der Sache mit Anna“, setzte sie an, „aber ich schätze, wenn du mich um Verzeihung bittest, würde ich dir doch noch eine Chance geben, und wir können tun als wäre das alles nie passiert.“
Julian malte sich aus, wie ihr Tun-als-sei-nichts-passiert aussehen würde, und wusste, sie würde ihm die Sache Zeit seines Lebens immer wieder aufs Brot schmieren und jedes Mal als Druckmittel einsetzen, wenn sie etwas von ihm wollte. Das war nun einmal ihre Art, das wusste er genau, und egal, was sie auch sagte, es würde für immer zwischen ihnen stehen. Was allerdings noch viel schlimmer war, etwas in ihm sträubte sich dagegen, auf ihr ach so großzügiges Angebot einzugehen, denn er hatte in den letzten Tagen festgestellt, dass es ihm ohne sie besser ging. Er fühlte sich freier, nicht mehr gefangen und eingeengt. Er genoss sein Sololeben trotz aller Schwierigkeiten, und die großartige Liebe, die er für sie empfunden hatte, war schwächer geworden, ja wurde von den negativen Seiten ihrer Beziehung überschattet und löste sich langsam aber sicher auf. Es war vorbei, das wurde ihm in diesem Augenblick klar, und auch, wenn es natürlich weh tat, wusste er, dass seine Entscheidung richtig war.
„Hör mal, Schatzi, ich...“
Er stockte und schaffte es leider nicht, ihr ins Gesicht zu sehen.
„Ich glaube nicht, dass ich diese Chance will.“
Ohne eine weitere Erklärung wandte er sich ab und verschwand in Kiras Zimmer. Vielleicht war es feige, ihr eine derart knappe Abfuhr zu erteilen und bestimmt war es nicht fair, sich so schnell aus dem Staub zu machen, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, auf seine Antwort zu reagieren. Aber er wollte lieber aus der Schusslinie gehen, bevor sie entweder einen Heulkrampf oder einen Wutanfall bekam.
*****
Kira war gerade dabei, sich auszuziehen als er ins Zimmer kam, und sofort entschuldigte er sich, nicht vorher angeklopft zu haben. Offenbar nahm sie es ihm nicht übel und schien in Gedanken woanders zu sein, jedenfalls winkte sie nur ab und starrte dann aus dem Fenster. Julian folgte ihrem Blick, konnte sich nicht erklären, was da draußen interessantes sein konnte und blieb dann an Kiras Silhouette hängen, die sich im sparsam erleuchteten Zimmer scharf vor dem hellen Rechteck des Fensters abhob. Augenblicklich bekam er eine Erektion und schämte sich dafür.
„Mach mal bitte das Licht aus“, verlangte Kira, und Julian gehorchte.
„Da, siehst du?“
Nein, er sah nichts, zumindest nichts außer ihrem nackten Rücken und ihrem Po, der nur noch von einem knappen Slip verhüllt war. Leider zog Kira sich schnell ein Nachthemd über, bevor sie ihm erklärte, was sie beschäftigte.
„Er hat mich schon wieder beobachtet. Und diesmal habe ich es genau gesehen. Er hat genau hier rüber geguckt.“
„Wie bitte? Wer hat dich beobachtet?“
Kira merkte, dass es Zeit für eine Erklärung war, und sie erzählte Julian, dass sie schon neulich das Gefühl gehabt habe, beobachtet zu werden. Und heute war es wieder so gewesen. Um sicher zu gehen, hatte sie sich weiter ausgezogen als sei nichts gewesen und hatte dann die Lichter gelöscht. Und jetzt im Dunkeln hatte sie genau eine Gestalt am gegenüberliegenden Fenster erkennen können. Dieser Felix hatte also tatsächlich gespannt und das vermutlich nicht erst zum zweiten Mal.
„Da, siehst du, er steht immer noch am Fenster und ärgert sich vermutlich, dass er nichts mehr zu sehen bekommt.“
Julian trat zu ihr und spähte hinaus. Dann gab er zu, wirklich jemanden im Fenster gegenüber zu erkennen. Die Gestalt entfernte sich, kurz darauf ging das Licht drüben an, und dann zog der Junge die Vorhänge zu, offenbar enttäuscht, dass die Vorstellung beendet war.
„Das ist doch echt der Hammer, oder nicht?“
Kira blickte Julian an und wartete auf seine Reaktion, die leider etwas anders ausfiel als sie sich erhofft hatte.
„Naja“, antwortete er, „wenn er dich beobachtet, scheint er zumindest einen guten Geschmack zu haben.“
Für einen Augenblick war Kira sprachlos, dann registrierte sie, was Julian damit meinte und spürte, wie sie errötete.
„Kira, ich meine das ernst“, fuhr er fort, „du bist echt hübsch, und ich glaube... ich...“
Bevor sie noch reagieren konnte, unterbrach er sich, trat einen Schritt näher, umarmte und küsste sie. Völlig überrumpelt konnte Kira sich nicht dagegen wehren. Erst als er sie zu ihrem Bett zog und ihr wenig romantisch, dafür umso dilettantischer eröffnete, dass er gerne mit ihr schlafen würde, fand sie ihre Sprache wieder. Schonend und ohne jegliche Entrüstung brachte sie ihm bei, dass sie das für keine gute Idee hielt, und er akzeptierte es und entschuldigte sich.
„Okay, dann gehe ich mir mal eben noch die Zähne putzen.“
Als er verschwand, sah sie ihm nach und wunderte sich über ihre Reaktion. Ganz im Gegensatz zu dem kleinen Spanner von gegenüber, fühlte sie sich bei Julian geschmeichelt, und auch, wenn sie sich nie etwas mit ihm vorstellen könnte, fand sie die Art, wie er sie überrumpelt hatte irgendwie niedlich. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass der Korb, den sie ihm gegeben hatte, nicht für alle Zeit zwischen ihnen stehen würde.
*****
Marc hatte sie zum ersten Mal vor einigen Wochen in der Tanzschule gesehen, sie war aber in keinem seiner Kurse, und darum hatte sich bis jetzt nie die Möglichkeit zu einem privaten Gespräch ergeben. Heute aber, als er durch die Fußgängerzone bummelte und sich eigentlich im Record Corner mit neuen CDs eindecken wollte, saß sie im Café Extrablatt, und ohne zu zögern hatte er sein Vorhaben aufgegeben und sich zu ihr gesetzt. Zuerst erfuhr er, dass sie Mira hieß, dann dass sie solo war, und jetzt hatte er seinen Arm um sie gelegt, während sie auf dem Weg zu ihm nach Hause waren. Mira war ein gutes Stück kleiner als er, gut gebaut, hatte ein niedliches Gesicht, und als er ihr einmal beim Tanzen zugesehen hatte, war ihm das Wasser im Munde zusammengelaufen. Schon seit damals hatte er auf eine Gelegenheit gewartet, sie anzubaggern, nur, dass es so schnell gehen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Die ganze Zeit über sah sie ihn aus ihren großen blauen Augen an, Augen, die ihn manchmal an Anna erinnerten, aber an die wollte er jetzt nicht denken.
Schnell schloss er die Tür auf, brachte sie in sein Zimmer, legte eine CD ein, von der sie gesagt hatte, es sei ihre Lieblingsband, fragte sie, ob sie etwas trinken wolle und eilte dann in die Küche, um nach einer guten Flasche Wein zu trinken. Ihm selbst wäre ja ein Bier lieber gewesen, doch was tat man nicht alles, um eine Frau zu beeindrucken und zu umgarnen. Besonders, wenn sie sich so leicht umgarnen ließ wie Mira.
Natürlich fand er statt Wein nur leere Flaschen, dann jedoch wenigstens im Kühlschrank noch einen angebrochenen Bacardi, und als er gerade in sein Zimmer zurück wollte, hielt Tobi ihn auf und wollte unbedingt etwas mit ihm besprechen. Es ging darum, dass er Marius eine Freude machen wollte, weil der doch jetzt sogar noch sein Zimmer für Julian geopfert hatte, und die anderen hatte er auch schon gefragt, und sie hatten ihm Unterstützung zugesagt. Im Augenblick war Marc das alles egal. Er wollte nur noch den Abend genießen und mit seiner Eroberung allein sein, darum wimmelte er Tobi ab und ließ ihn schließlich einfach stehen. Später würde er sich gerne an der Aktion beteiligen, was immer es auch sein mochte, nur jetzt hatte er keinen Nerv dazu. Tobi erkundigte sich weiter, wer das denn sei, da in seinem Zimmer, und auch hierauf bekam er keine Antwort. Dann fing er an, Marc solle sich nicht immer aus allem heraushalten, schließlich ginge ihn das auch etwas an, und es käme doch nun wirklich selten vor, dass sie etwas gemeinsam taten, genaugenommen könne Tobias sich nicht einmal daran erinnern, wann sie zuletzt alle gemeinsam zusammengesessen hätten. Gereizt unterbrach Marc ihn, dass ihm das alles am Arsch vorbei ging, dann schnappte er sich den Bacardi und verschwand. Schulterzuckend schickte Tobi ihm noch einen Fluch hinterher, vielleicht war es auch eine Beleidigung, aber auch das war Marc jetzt egal. Es musste doch möglich sein, einmal seine Ruhe zu haben, wenn man es wollte, und nicht dauernd von irgendwem zugelabert zu werden.
Mira hatte es sich bereits auf dem Bett bequem gemacht und sah ihm dann zu, wie er die Gläser füllte und ihr zuprostete. Sie war wirklich eine Schönheit, und wenn sie sich in anderen Lebenslagen ebenso gut bewegte wie beim Tanzen, dann stand ihm eine äußerst aufregende Nacht bevor.
Leider musste die Nacht noch etwas warten, denn gerade in dem Moment als er sich zu ihr aufs Bett setzte und sie küssen wollte, schwang seine Tür auf und Lena polterte herein. Sie habe gar nicht gewusst, dass er Besuch habe, entschuldigte sie sich, und wollte wissen, wer das denn sei. Mira machte sich mit dem Mädchen bekannt, nahm die Störung offenbar lockerer als Marc selbst, den der fragte lediglich, was Lena denn wolle. Daraufhin fragte sie, ob sie mit Tschaikowsky spielen dürfe, und Marc erlaubte es, wenn auch nur unter der Bedingung, dass sie das Tier mit in ihr Zimmer nahm und dann nicht mehr störte. Lena schnappte sich das Kaninchen und verschwand.
Endlich allein. Doch inzwischen war Mira aufgestanden, hatte ihr Glas auf dem Tisch abgestellt und meinte, es wäre vielleicht doch keine gute Idee, und sie müsse eh nach Hause, weil ihre Mitbewohner sicher auch schon auf sie warteten. Seine Enttäuschung und Wut unterdrückend begleitete Marc sie wieder zur Tür und schaffte es sogar, ihr noch einen schönen Abend zu wünschen, bevor er sich wieder in sein Zimmer verzog, aus Frust ein Ballerspiel auf dem Computer lud und einigen Menschen am liebsten den Hals umgedreht hätte.
*****
"Tschuldigung, habt ihr dieses Shirt auch in grün da?"
"Warte, ich guck mal... ja hier bitte."
"Danke... aber das is’ nur s, ich brauch es in xs. Gibt’s das?"
"Nee in xs gibt’s das leider nur noch in rot. Sorry."
"Och nö, da hab ich schon mal was gefunden und dann gibt’s das nicht. Kann man da nix machen?"
"Nee höchstens zu heiß waschen, vielleicht läuft es dann ein."
"Und das habt ihr auch nicht noch mal im Lager, oder?"
"Nee tut mir leid, nur noch das was hier ist."
"Und wenn du vielleicht doch noch mal nachguckst...?"
"Davon taucht es auch nicht im Lager auf. Aber wie findest du denn das hier?"
"Nein ich will dieses in xs und nichts anderes."
Dann näh dir dein scheiß Shirt selber, hätte Yasmin dem Mädchen jetzt am liebsten geantwortet, aber der Kunde war schließlich König. Folglich blieb sie ruhig und versuchte der offensichtlich begriffsstutzigen pubertierenden Göre zu erklären, dass sie leider nicht zaubern konnte. Und schon gar nicht heute.
Zum Glück gab das Mädel irgendwann auf, verzichtete auf ihr Shirt und sah sich nach etwas anderem um. Wenn sie Ware von der Stange wollte, die es in allen Größen und Farben gab, riet Yasmin ihr, dann solle sie doch zu H&M gehen, da gäbe es das. Aber dies war nun einmal eine Boutique, hier könne sie nur exklusive Waren bekommen, und die gab es eben nur für Leute mit Geschmack. Das Mädchen verließ daraufhin den Laden und trollte sich wahrscheinlich wirklich in einen dieser großen billigen Modemärkte. Yasmin atmete auf und wünschte sie und alle, die bei H&M einkauften und insbesondere die Verkäufer dort zum Teufel. Danach ging es ihr geringfügig besser. Aber der Feierabend war noch einige Stunden entfernt, der Laden voll und der Kaffee alle. Typisch Montag eben. Vielleicht sollte sie ihren Chef fragen, ob sie nicht eher Schluss machen konnte, aber eigentlich hasste sie das und sie war es ja auch, die sich immer am meisten darüber aufregte, wenn andere eher gingen. Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen, zwang sich, ein Gesicht zu machen, das nicht auf ihre Laune schließen ließ und machte sich dann daran, die Schaufensterpuppen neu einzukleiden.
Als sie abends nach Hause kam, wollte sie sich nur noch in ihr Bett legen und baldmöglichst einschlafen. Dummerweise bekam sie vorher noch Hunger und musste sich dazu in die Küche schleppen.
Tobi stand am Herd und rührte geschäftig in allerlei Töpfen herum.
„Hey, hey“, begrüßte er sie, „was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus als hätte dich jemand mit Wasser übergossen.“
Sie wehrte ab, versuchte sich damit herauszureden, dass sie lediglich Stress bei der Arbeit gehabt hatte, aber das nahm er ihr natürlich nicht ab. Stattdessen bohrte er weiter nach und blieb bei seiner Überzeugung, ihr müsse eine ziemlich große Laus über die Leber gelaufen sein.
„Verdammt noch mal, es ist nichts, es ist alles in Ordnung, und es macht mir überhaupt nichts aus, dass Hasi es gestern abgelehnt hat, sich mit mir zu versöhnen.“
Tobi nickte, bevor er kleinlaut sagte: „Ach, das ist es also. Tut mir echt leid für dich.“
Sie wartete darauf, dass er weiter nachbohrte und Einzelheiten erfahren wollte, aber das verkniff er sich zu seinem Glück. Geladen wie sie war, hätte sie ihm auch für blöde Fragen den Kopf abgerissen, und das schien er zu spüren.
„Ach, apropos Hasi“, fuhr er schließlich fort, „ich mache gerade gebratene chinesische Nudeln mit Pilzen und allerlei Gemüse. Willst du auch was?“
„Ja, gerne“, antwortete sie überrascht und war froh, nicht mehr selbst kochen zu müssen, „aber was hat das denn mit Hasi zu tun?“
„Es sind auch Karotten drin.“
Später verzogen sie sich dann mit dem Essen und einer Flasche Wein in sein Zimmer, er legte einen Videofilm ein, und da er die ganze Zeit über keine Fragen stellte, erzählte sie ihm schließlich doch, was zwischen ihr und Julian gewesen war und ließ sich von ihm trösten. Dabei hatte sie gar nicht mehr gewusst, wie gut es manchmal tun konnte, sich bei einem guten Freund einfach in die Arme sinken zu lassen und alles herauszulassen, was einem auf der Seele brannte. Egal, wie fies Tobias oft zu ihr war, auf der anderen Seite war er vermutlich der beste Freund, den sie hier im Haus hatte, und es tat gut, das zu wissen.
*****
Kira wusste nicht, ob sie Marius je zuvor wütend erlebt hatte, doch als sie von der Arbeit nach Hause und in die Küche kam, saß er mir sehr ernster Mine vor Lena und hielt ihr eine Moralpredigt.
„Was ist denn passiert? Du machst ja ein Gesicht als hätte deine Tochter jemanden umgebracht.“
„Es kommt dem ja auch zumindest nahe.“
Erstaunt blickte Kira Lena an, und das Mädchen wirkte in der Tat sehr schuldbewusst. Allerdings wusste sie auch, dass Lena-Sophie eine hervorragende Schauspielerin war, besonders, wenn sie bei ihrem Vater etwas erreichen wollte, und somit wartete Kira mit ihrem Urteil erst einmal ab.
„Und wen hat sie umgebracht?“
Im Grunde ging es sie nichts an, aber Marius konnte ihr das genauso gut sagen, wenn er wollte, dass sie sich heraushielt.
„Die potentiellen Nachkommen unseres Nachbarn.“
„Was ist los?“
Sie verstand kein Wort und wollte sich schon zurückziehen als Marius doch noch zu einer Erklärung ansetzte. Lena hatte mal wieder ihre Karatekünste oder was immer es war, nicht unter Kontrolle gehabt, klärte er sie auf, und ihren Fuß wieder einmal sehr treffsicher in männliche Kronjuwelen versenkt.
„Wie bitte?“, fragte Kira jetzt an Lena gewandt, „Du hast dem Malachewitz zwischen die Beine getreten? Wieso das denn?“
Auch wenn die Beschuldigte bisher eher kleinlaut gewesen war, meldete sie sich jetzt zu Wort, um die Sache richtig zu stellen.
„Nein, Felix hab ich in die Eier getreten, weil er doof zu mir war!“
Das änderte die Sachlage natürlich.
„Na, der hat es auch nicht anders verdient.“, rutschte es Kira heraus und sie erntete einen vernichtenden Blick von Lenas Erziehungsberechtigten und Strafvollzugsbeamten in diesem Prozess. Und die Rolle des Staatsanwaltes und Richters in einer Person stand Marius ausgesprochen gut. Kira hatte gar nicht gewusst, wie autoritär er sein konnte, wenn es darauf ankam. Selbst sie traute sich nicht mehr, den Mund aufzumachen, geschweige denn Nachfragen zu stellen. Offenbar war die Beweisaufnahme längst gelaufen, die angeklagte hatte ihre Schuld eingestanden, ein Verteidiger war unnötig, und jetzt galt es nur noch über das Strafmaß zu entscheiden.
Kira lauschte der Verhandlung als Zuschauer, aber immerhin bekam sie noch mit, dass Lena den Nachbarsjungen so fest getreten hatte, dass dieser heulend zu Boden ging und einige Minuten lang nach Luft schnappte. Na gut, Selbstjustiz war verboten und konnte nicht ungesühnt bleiben, aber ganz egal, was Felix dem Mädchen angetan hatte, er hatte den Tritt mit Sicherheit verdient. Genaugenommen hatte Kira ihm schon länger eine Strafe gewünscht, hatte überlegt, ob sie den Jungen dazu bringen könnte, sich ein Piercing von ihr stechen zu lassen, bei dem sie ganz aus Versehen abrutschen würde, aber sie hätte nie vermutet, dass ausgerechnet Lena die Initiative ergreift. Wie auch immer er das Mädchen dazu gebracht hatte, die Reaktion war moralisch keinesfalls verwerflich und wahrscheinlich ist das kleine Arschloch noch zu milde weggekommen.
Inzwischen hatte Richter Marius sein Urteil gefällt und Lena bekam eine Woche Hausarrest aufgebrummt, die sie mit Fassung trug. Ihr schien die Strafe angemessen, und sie stand ohne Murren auf und zog sich in ihr Zimmer oder vielmehr ihre Zelle zurück. Kira war scheinbar die einzige, die innerlich auf eine Bewährung plädierte.
„Und ich gehe jetzt rüber“, brachte Marius den Urteilsspruch zum Abschluss, „und entschuldige mich in deinem Namen bei Felix.“
Es gelang Kira nicht, sich zu bremsen als sie fragte: „Du willst was? Hör mal, das ist doch lächerlich. Wenn Lena den kleinen Wichser getreten hat, dann wird sie schon ihre Gründe gehabt haben.“
Noch im gleichen Augenblick als sie es aussprach, bereute sie ihre Worte. Marius guckte sie ein wenig komisch an und fragte, warum sie sich denn aufrege. Er konnte ja auch nicht verstehen, dass es ihr gar nicht um die Sache an sich, sondern ums Prinzip ging, und wenn sie näher darüber nachdachte, wusste sie ja selbst nicht einmal, warum sie solch eine Wut auf diesen Jungen entwickelt hatte.
„Tut mir leid“, lenkte sie deshalb ein, „aber ich glaube, ich bin immer noch sauer auf den Typen, weil er mich immer noch beobachtet. Tu was du für richtig hältst, und was die Sache mit Lena betrifft... im Grunde hast du ja Recht.“
„Ist schon gut, ich verstehe ja, dass du geladen bist, aber mir geht es nun einmal darum, dass meine Tochter es schafft, sich anders zur Wehr zu setzen als mit Gewalt. Und darum muss ich jetzt einfach hart bleiben.“
Kira hatte sich längst wieder gefangen, und sie nickte zustimmend. Innerlich brodelte sie immer noch, aber sie wusste es zu verbergen, und das war auch besser so.
„Also“, sagte sie versöhnlich, „wenn du nichts dagegen hast, rede ich noch mal mit Lena. Aber keine Angst, ich werde ihr nicht dazu raten, ihre Probleme mit Gewalt zu lösen.“
Marius hatte nichts dagegen, im Gegenteil, er war sogar froh, dass Kira sich um Lena kümmerte, denn ganz alleine, gab er zu, war er manchmal doch überfordert.
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Julian hatte sich gerade daran gemacht, seine letzten Sachen im neuen Zimmer zu verstauen als Tobias hereinkam. Er redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern sagte sofort, was er wollte, und das war eine Überraschung für Marius. Alle anderen habe er schon gefragt und sie wollen mitmachen, nur Julian müsse noch zustimmen. Selbstverständlich zögerte Julian nicht lange, denn er wusste, es war Marius nicht leicht gefallen, sein Musikzimmer, oder wie immer er es nannte, aufzugeben, und er stand jetzt tief in seiner Schuld. Nur sollte Tobi ihm doch bitte erklären, um was es ging, verlangte er, was auch sofort passierte. Es war offensichtlich, dass Marius im tiefsten Herzen weder Theologe noch sonst etwas war, sondern DJ, und es war ebenso offensichtlich, dass ihm das Auflegen fehlte, er aber den Teufel tun würde, sich auch nur einmal deshalb zu beschweren, argumentierte Tobi, nun leider nicht mehr zum Kern der Sache kommend. Was lag also näher, so seine Schlussfolgerung, als eine Party zu organisieren in einem richtigen Club mit viel Publikum, bei der Marius den ganzen Abend auflegen durfte, ohne, dass ihm jemand dazwischenfunkte.
Die Idee war gut, entschied Julian, allein an der Ausführung haperte es. Woher, wollte er von Tobi wissen, sollten sie einen Club bekommen, noch dazu einen gut besuchten, beziehungsweise, wie sollten sie einen Veranstalter davon überzeugen, Marius eine ganze Nacht lang, die Macht über die Turntables zu überlassen. Genau dies, fuhr Tobi fort, sei bisher die Schwachstelle seiner Idee, aber es würde ihnen mit Sicherheit noch etwas einfallen, wenn sie alle gemeinsam nach einer Lösung suchten. Vielleicht, schlug er vor, könnten sie ja alle zusammen an einem Samstag ins Alando gehen, Kira und Lena würden vorher dafür sorgen, dass alle Flyer, auf denen der Name des DJs zu lesen war wieder eingesammelt und durch eigene, mit Marius Namen darauf, ersetzt wurden. Danach könne Yasmin gleich nach Eröffnung des Clubs vor dem DJ-Pult tanzen, damit der Typ abgelenkt sei, und währenddessen, würde Marc sich dessen Plattenkoffer vornehmen und Honig darüber kippen. Sobald ihr Opfer dann die nächste Platte aufzulegen versuchte, würde sie durch den Honig kleben und haken und grauenvoll klingen, er würde eine andere ausprobieren, und dann schließlich frustriert feststellen, dass all seine schwarzen Scheiben ruiniert waren. Daraufhin würde das Publikum rebellieren und den Typen aus dem Club jagen, was wiederum die Zeit für Tobis und Julians Einsatz sei, die nun zum Chef des Clubs gehen müssten, um diesen großzügig und selbstverständlich ohne Hintergedanken davon zu überzeugen, dass sie die Retter in der Not seien. Wenn sie ihn überzeugt hätten, oder aber, wenn er eingesehen hatte, dass er auf die Schnelle keinen anderen Ersatz bekommen könne, würde er Marius hinter die Turntables stellen und der Abend war gerettet.
Es fiel Julian schwer, Tobi von seinem genialen Plan abzubringen, und erst als er fragte, ob Tobi selbst sich denn fürs Ausziehen zur Verfügung stellen würde, falls der DJ schwul sei, brachte ihn dazu, seine Idee zu verwerfen. Vielleicht war es ja nur eine blöde Idee gewesen, räumte Tobi ein, aber jetzt war es Julian, der ihm widersprach. Sicher würde es schwer sein, das zu realisieren, doch er sei schließlich derjenige, der jetzt in Marius Musikzimmer, oder wie immer er es nannte, wohnte, und darum würde er alle Hebel in Bewegung setzen, um Tobis Idee zu verwirklichen. Tobias fiel ein Stein vom Herzen als er das hörte, denn nach der Abfuhr von Marc, hatte er schon selbst geglaubt, es wäre besser, es sein zu lassen. Wenn Julian allerdings mithalf, würden die anderen vielleicht auch noch zusagen, und der Gedanke daran, endlich einmal etwas ureigenes auf die Beine zu stellen, auch wenn es nur eine Party war, spornte ihn unheimlich an. Natürlich hatte er auch schon als Jugendlicher diverse Geburtstagsfeten organisiert, was im übrigen auch meistens schon schwer genug gewesen war, aber dies hier würde nicht einfach nur irgendeine Party, sondern ein Event werden. Ein Event, das neue Maßstäbe setzte, alles bisher dagewesene in den Schatten stellte und eine völlig neue Partyära einleitete. Naja, zumindest konnte er diesen Text verwenden, wenn es ihm gelingen würde, auch den Redakteur der NOZ, die im Nachhinein darüber berichten würde, ebenfalls mit Honig außer Gefecht zu setzen.
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Nachdem Marius gegangen war, kam Kira in Lenas Zimmer, um genauer zu erfahren, was vorgefallen war. Das Mädchen saß an seinem Schreibtisch und malte. Ein einziger Blick auf das Bild, das besonders durch die düsteren Farben auffiel, verriet Kira, dass Lena ihre Strafe doch nicht ganz so gelassen hinnahm wie sie tat.
„Hey, was wird denn das?“
Das Bild zeigte eine Pyramide, die allerdings eher einem mitteleuropäischen Gartenhaus glich und davor eine schwarze Gestalt, die Lena ihr als Mumie vorstellte. Um die Mumie herum standen mehrere andere Personen mit finsteren Gesichtsausdrücken und ein schwarzer Mond schien vom Himmel herab.
„Und wie kommst du darauf, 'ne Mumie zu malen?“
„Also neulich hat Papa gesagt, er gipst mich ein als ich ihn geärgert hab. Und da hab ich mir vorgestellt dass ich dann aussehe wie ne Mumie.“
Das klang allerdings logisch. Vielleicht hätte Marius sie tatsächlich eingipsen sollen, statt ihr den antiquierten Hausarrest aufzubrummen. Kira zumindest hielt diese Art der Strafe für ein wenig aus der Mode gekommen, und ihre eigenen Erziehungsmethoden würden vermutlich ganz anders aussehen.
„Also, wenn du willst, rede ich noch mal mit deinem Papa, und dann könnte ich dich eingipsen, wenn du willst. Das kann man nämlich wirklich machen, und der Abdruck gibt dann eine ganz tolle Maske von dir.“
Lena sah sie mit großen Augen an und war sofort begeistert. Sie wollte sich gerne in eine Mumie verwandeln und außerdem war das ja auch viel spannender als Hausarrest zu haben. Kira versprach, in den folgenden Tagen Gips zu besorgen, und dann könnten sie loslegen.
„Vorher erzähl mir doch aber bitte noch mal, was heute eigentlich los war.“, bat sie.
„Naja ich hab ganz normal mit Tschaikowsky im Garten gespielt“, begann das Mädchen, „und dann hat dieser blöde Felix angefangen uns zu ärgern.“
Felix hatte offenbar aus dem Nachbargarten heraus mit einem Spuckrohr auf das Kaninchen gezielt, was Lena zur Weißglut getrieben hatte. Sie hatte ihm gedroht, er solle das lassen, weil sie sonst Kira hole wolle, und die würde ihn dann bestrafen. Lena erzählte es frei heraus und ahnte nicht einmal, wie gerne Kira das getan hätte.
„Und dann hat er gesagt 'hol die Hexe doch ruhig, vor der habe ich keine Angst'“
„Bitte wie hat er mich genannt?“
„Ja, er hat gesagt du wärst ne Hexe, weil du immer ganz komische Sachen anziehst.“
„Dieses kleine Arschloch!“, rutschte es Kira heraus, und sie hätte noch mehr gesagt, wenn ihr nicht eine Siebenjährige gegenüber gesessen hätte.
Im folgenden Streit hatte Lena ihm zuerst erklärt, dass Kira keine Hexe, sondern eine gute Zauberin sei, sich dann nicht anders zu helfen gewusst, und da Felix es ohnehin verdient hatte, mit voller Kraft zugetreten. Kira stellte sich bildlich vor, wie dem Jungen daraufhin die Luft wegblieb, er sich vor Schmerzen krümmte und ihn Tränen in die Augen traten. Zu schade, dass sie nicht dabei gewesen war, denn das hätte sie doch zu gerne gesehen. Am liebsten hätte sie Lena für ihre Heldentat auch noch gelobt, denn immerhin war es nicht einfach, einen zehn Jahre älteren Jungen mit einem einzigen Tritt außer Gefecht zu setzen, aber leider war Gewalt als Lösung ja nicht zulässig.
„Trotzdem darfst du ihn nicht treten.“, dozierte sie deshalb und war froh, dass Lena nicht nach Gründen fragte.
„Wollte ich ja auch nicht, aber er hat mich so geärgert, dass ich nicht mehr anders konnte.“
„Dann musst du dir beim nächsten Mal eben etwas anderes einfallen lassen oder ihn einfach stehen lassen und nicht beachten.“
Sie hörte sich schon an wie eine waschechte Pädagogin, vor allem, weil sie sich ihre Worte selbst nicht abnehmen konnte.
„Ich wollte ihn ja auch stehen lassen“, verteidigte Lena sich jetzt, „ich konnte ja nicht ahnen, dass der Schwächling von dem einen Tritt gleich umfällt und losheult...“
„Wow!“, entfuhr es Kira nun, all ihre Beherrschung vergessend, „Er hat echt geheult? Ich meine, richtig losgeflennt? Ist ja cool... ich meine, das ist wirklich böse von dir gewesen. Ganz, ganz böse.“
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„Habt ihr euch eigentlich mal überlegt, was das für ein Heidengeld kosten wird?“
Marc hatte Yasmin und Tobi bis jetzt schweigend zugehört und keine Einwände vorgebracht, während sie ihm euphorisch von ihren Plänen, Partyveranstalter zu werden, berichtet hatten. Er musste zugeben, dass die Idee reizvoll war und bestimmt eine tolle Überraschung für Marius werden könnte. Und dass Tobias von der Sache begeistert war, war ja klar, nur konnte er sich nicht vorstellen, wie er Yasmin, die ja sonst die Kritik in Person war, dazu gebracht hatte, auf seinen Zug aufzuspringen. Besser noch, sie wirkte noch mehr vom Tatendrang gepackt als er selbst und schien keinerlei Zweifel an der Durchführung aufkommen zu lassen.
„Sicher haben wir daran gedacht“, versuchte sie seiner Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, „aber wenn wir uns alle ein wenig ins Zeug legen und es gemeinsam anpacken, dann können wir es trotzdem schaffen.“
Marc schüttelte verständnislos den Kopf. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, Sponsoren für die Party aufzutreiben, was ihm allerdings auch ausgeschlossen schien, blieben immer noch die Schwierigkeiten der Organisation und letztlich des Marketings. Und selbst unter der Voraussetzung, das eine gute Fee ihnen hierbei half, würde es selbst der nicht möglich sein, einen Club zu finden, der das Risiko eingehen würde, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen, deren Line-Up aus nur einem einzigen DJ, noch dazu einem gänzlich unbekannten, bestand.
„Okay, dann müssen wir eben noch einen weiteren, namenhaften DJ dazuholen.“
„Weißt du überhaupt, wie viel diese Typen dafür verlangen, dass sie eine Stunde lang nichts tun außer schwarze Scheiben auf die Plattenteller zu legen?“
Yasmins und Tobis Optimismus war jedoch ungebrochen. Sie behaupteten, mit allen Schwierigkeiten schon fertig zu werden, und wenn man am Ende zur Not einen großen Namen auf den Flyer drucken und hinterher erklären müsste, der große Name habe leider im letzten Moment abgesagt, wie große Namen das ja gerne mal tun.
„Aber das ist doch noch längst nicht alles. Es muss für die Dekoration gesorgt werden, ihr müsst den Leuten auch irgendetwas an Show bieten, und so weiter, und so weiter.“
„Wir müssen uns eben alle sehr ins Zeug legen“, dachte Yasmin laut, „und bei der Deko wird vielleicht Kira etwas einfallen, die ist schließlich Künstlerin.“
Langsam schienen ihr doch Zweifel zu kommen.
„Stimmt“, stachelte Tobi zu neuer Begeisterung an, „Kira könnte auch einen Piercing-Room organisieren. Und du, Yasmin, und Julian, ihr könntet als Gogotänzer auftreten...“
Auch wenn er sich das Gegenteil erhofft hatte, war dies vermutlich der Todesstoß für ihre Euphorie, denn bei dem letzten Vorschlag, sprang sie aus dem Sessel hoch, auf dem sie gesessen hatte und funkelte Tobi vernichtend an.
„Sehe ich vielleicht aus wie ein Gogo-Girl?“
Tobi wurde kleinlaut als er grinsend antwortete: „Das nicht, aber wenn du beim Tanzen genauso energisch bist wie jetzt, dann bekommen wir das schon hin.“
Marc verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Da hatten die beiden ihre Idee gerade erst ausgesprochen und etwas von Gemeinsamkeit gefaselt, und schon gingen sie sich wieder an die Gurgel.
„Jetzt hört mal zu“, griff Marc ein, bevor Blut fließen konnte, „also alles selber machen können wir nicht. Wenn überhaupt, dann brauchen wir ein vernünftiges Konzept und vor allem einen Sponsor. Wenn ihr unbedingt Gogos haben wollt, dann könnten wir die Tanzschule einschalten, ich könnte dazu einen Kurs anbieten und etwas auf die Beine stellen, und dann hätten wir auch gleich den passenden Geldgeber.“
Yasmin und Tobi ließen von ihrem Streit ab und guckten ihn verwundert mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hatten mit allem gerechnet, aber damit am allerwenigsten. Yasmin konnte sich gerade noch zurückhalten, Marc um den Hals zu fallen, denn sein Vorschlag war nicht nur brauchbar, sondern geradezu genial und der erste große Schritt zur Lösung aller Probleme, die sich ihnen in den Weg stellten.
„Das heißt im Klartext: du machst mit?“
„Muss ich ja wohl, denn alleine schlagt ihr euch ja die Köpfe ein, bevor Marius überhaupt von seinem Glück erfährt.“
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Jetzt war sie also da, die berühmte Maiwoche, das angeblich größte Event in Osnabrück, eine Mischung aus einem Altstadtfest und einem Festival. In der ganzen Stadt waren Bühnen aufgebaut, auf denen zum Teil durchaus bekannte Bands spielten, an jeder Ecke gab es Erdbeerbowle zu trinken, und die Stimmung war dementsprechend ausgelassen. Für die Strecke vom Neumarkt zum Dom, die er sonst in nicht mal zehn Minuten zurücklegte, hatte Julian jetzt knapp zwei Stunden gebraucht, und gerade gehen konnte er auch nicht mehr. Es war eine blöde Idee gewesen, gleich nach der Arbeit, ohne etwas im Magen mit seinen Kollegen loszuziehen, aber bisher hatte es sich trotzdem gelohnt.
Im Augenblick stand er gerade vor eine Bühne, auf der eine Coverband auftrat, und wunderte sich, dass man selbst im dichtesten Gedränge noch tanzen konnte. Um ihn herum hüpften Kinder, traten ältere Leute im Takt von einem Fuß auf den anderen und feierten Menschen im Alter seiner Eltern als gäbe es kein Morgen. Nur seinen Anschluss hatte er irgendwie verloren, wie er jetzt bemerkte, und er guckte sich suchend um. Keiner war mehr zu sehen. Einige hatte gesagt, sie wollten noch zur Bühne am Herrenteichswall gehen, und wenn Julian sich sputete und die Verfolgung aufnahm, würde er sie dort vielleicht wiederfinden.
Leider war sputen in dichtem Gedränge ein sehr weitläufiger Begriff, wiederfinden ebenso wenig möglich wie das entdecken der Nadel im Heuhaufen, und mit einigen Gläsern Erdbeerbowle im Magen, die ihm inzwischen zu Kopf gestiegen waren, stellte sich sein Vorhaben als schlichtweg unmöglich heraus. Wenn er wenigstens einen gesehen hätte, den er kannte, aber in solchen Situationen war Osnabrück dann eben doch kein Dorf. Von überall her erklang Musik, Julian wurde mal in diese, mal in jene Richtung geschoben, zu allem Übel fing es auch noch an zu regnen, und das alles, konnte einem auch die schönste Veranstaltung verleiden.
„Hi, Julian, wie geht’s?, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich, und als er sich umdrehte, wurde er schon wieder von einem Menschenschwall mitgerissen. Er kämpfte dagegen an und erkannte schließlich Anna, der die Stimme gehörte.
„Ach, ganz gut, nur meine Leute habe ich leider verloren.“
Anna musste lachen, denn auch sie war auf der Suche nach ihre Freundinnen. Vorhin an der Bude mit den Crêpes hatte sie sie noch gesehen, aber nur wenige Minuten später war sie im Getümmel alleine gewesen.
„Naja, also wenn du willst, können wir ja gemeinsam suchen.“
Julian willigte ein, und sie kämpften nun wenigstens zu zweit gegen den nicht abreißenden Strom von Besuchern an, der ihnen, egal wohin sie auch gingen, immer entgegen zu kommen schien. Ihre Leute fanden sie natürlich beide nicht wieder, dafür aber noch einige Stände, an denen es frische Maibowle zu kaufen gab, und darum versank der Rest des Abends dann in einer erdbeerroten Nebelwolke.
Erst als sie am nächsten Morgen aufwachte, wurde Annas Kopf wieder klar, allerdings auch nur für wenige Minuten, denn dann fragte sie sich, was denn alles in der abendlichen Nebelwolke verschollen war. Zumindest lag Julian jetzt neben ihr im Bett, noch seelenruhig schlafend, und sie konnte sich erinnern, wie er dorthin gekommen war.
Als er aufwachte, fragte sie als erstes: „Sag mal, haben wir oder haben wir nicht?“
Sie hatten. Und auch, wenn er sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern konnte, fiel es Anna schwer, ihm zu verstehen zu geben, dass das kein neuer Anfang, sondern nur ein Ausrutscher gewesen war. Sie hätte sich dafür ohrfeigen können, oder lieber noch ihn, aber er versicherte ihr glaubhaft, nichts getan zu haben, was sie nicht wollte. Außerdem sei er ebenfalls nicht mehr nüchtern gewesen, und im Grunde sei die Initiative sogar von ihr ausgegangen. Vielleicht hätte es ihr gut getan, die Beleidigte zu spielen und ihm die Hölle heiß zu machen, zumindest hätte es ihm unmissverständlich klar gemacht, dass sie nichts mehr von ihm wollte, nur leider klang er glaubhaft und guckte sie dabei so unschuldig an, dass sie ihn fast hätte knuddeln können. Und wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie Marc auf die gleiche Weise kennen gelernt, nur dass sie damals in seinem Bett aufgewacht war und sich an nichts hatte erinnern können.
Sie war erleichtert als Julian irgendwann nach Hause ging und ihr fiel ein Stein vom Herzen als er sie dabei nicht einmal fragte, wann sie sich wiedersehen würden. Kaum war er zur Tür hinaus, atmete sie erleichtert auf, zündete sich eine Zigarette an und sagte sich zum x-ten Mal, dass das aufhören musste, dass sie nicht mehr zu viel trinken und vor allem keine Männer mehr abschleppen durfte. Dabei ging es ihr gar nicht mal nur um Moralvorstellungen, aber was brachte ihr selbst der tollste Sex, wenn sie sich hinterher nicht mehr daran erinnerte?
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Marktforschungstechnisch durchdacht eingeräumte Supermärkte waren das schlimmste. Seit sie seinen Supermarkt an der Ecke angeblich strategisch günstig und absolut kundenfreundlich umgebaut hatten, fand Marius nichts mehr wieder. Die Tütensuppen standen neben dem Klopapier, der Kaffee neben den Zahnbürsten und die leckeren Kekse mit den Schokostückchen, die Lena immer gerne aß, hatte er gar nicht wiedergefunden. Alles andere hatte er jetzt zum Glück beisammen, die wahrscheinlich ebenfalls strategisch günstige Schlange an der Kasse hatte er auch überwunden, und nun wartete ein gemütlicher Feierabend auf ihn. Hoffentlich.
Als er allerdings in die Küche kam, traf ihn fast der Schlag. Lauter Sachen, von denen er nur die wenigsten eindeutig benennen konnte, lagen wild herum, hier Berge von Papier, dort eine Eimer mit Kleister, mitten auf dem Tisch Gipsrollen, und die leckeren Kekse mit den Schokostückchen auch irgendwo dazwischen. Das tollste aber war, dass seine Tochter wie tot auf dem Fußboden lag und Kira über ihr kniete.
„Was ist denn hier los?“, polterte Marius los und wünschte seinem ersehnten Feierabend eine schöne Zeit ohne ihn.
Lena richtete sich auf, strahlte ihn an und erklärte dann voller Stolz: „Kira macht mir jetzt Brüste!“
Bitte was war los? Marius richtete seinen fragenden Blick auf Kira, die laut loslachte und wartete auf eine Erklärung.
„Nein, keine Brüste. Eine Büste.“
Der fragende Blick des Hausherren veranlasste sie zu einer weiteren Erklärung.
„Du hast ihr doch neulich damit gedroht, sie einzugipsen. Und genau das machen wir jetzt. Ich mache ihr eine Gipsmaske bis zum Hals und zu den Schultern, und wenn das dann hart ist, haben wir eine Büste von deiner Tochter, die wir aufs Klavier stellen könnten, wenn wir ein hätten.“
Ein wenig lockerte sich Marius angespannte Mine bei dieser Erklärung, das Chaos in der Küche gefiel ihm allerdings trotzdem noch nicht. Aber wenn Lena unbedingt Mumie spielen wollte und Kira sogar Lust dazu hatte, ihr eine Gipsmaske zu machen, sollten sie doch. Auf jeden Fall würde es eine Weile dauern und er könnte in aller Ruhe seine Beine hochlegen.
„Papa kann die Brüste ja auf seine Plattenspieler stellen.“
Na sicher, das wäre bestimmt fantastisch. Schließlich hätte er ja, wäre er ein erfolgreicher Musiker geworden, vermutlich auch öfter mal Brüste um sich herum. Wie auch immer, er wollte sich auf keinen Fall einmischen, sein Tag war lang und stressig gewesen, und ein entspannender Abend vor dem Fernseher war auch eine verlockende Aussicht. Er könnte natürlich auch die Zeit nutzen, seine Plattenspieler abstauben und ein bisschen Musik machen.
„Sag mal“, fragte Kira beiläufig, „hat Felix eigentlich deine Entschuldigung neulich angenommen oder ist er Lena noch sauer?“
„Ach, er hat nicht viel dazu gesagt, ihm war es wohl eher peinlich“, beantwortete Marius ihre Frage, „aber ich habe ihn und Ramone für Freitagabend zum Grillen eingeladen.“
Augenblicklich zuckte Kira zusammen als hätte sie etwas gestochen. Sie schluckte, sog hörbar die Luft ein, hob den Kopf und fragte: „Du hast was?“
Marius wiederholte das mit der Einladung und Kira fiel es schwer, die Fassung zu wahren. Es war sicherlich nicht damit zu rechnen, dass die beiden absagen würden, dafür aber umso mehr damit, dass sie am Freitag nicht zuhause sein würde. Erst beobachtete der kleine Spanner sie jeden Abend, beleidigte sie als Hexe, und dann sollte sie mit ihm zusammen an einem Tisch sitzen und tun als sei nichts gewesen? Sie dachte gar nicht daran. Wenn überhaupt, würde sie das kleine Miststück auf den Grill legen und warten bis er gut durch war. Es war ja schön, wenn Marius das alles höchstens noch lustig fand, ihr ging es definitiv anders und sie konnte nicht einfach darüber hinweggehen. Manchmal wurde sie aus Marius nicht schlau. Einerseits war er total verständnisvoll und für jedermanns Probleme und Sorgen offen, und auf der anderen Seite konnte er ein absoluter Prinzipienreiter sein, der sich aufregte, wenn die Küche auch mal zum mumifizieren zweckentfremdet wurde, aber um jeden Preis alle Wogen glättete, nur damit man bei den Nachbarn nicht in einem schlechten Licht dastand.
Da es leider nichts half, sich darüber aufzuregen, wandte sie sich wieder Lena zu, ermahnte sie, ganz still zu liegen, und fing an, die erste Gipsschicht aufzutragen.
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Weil sonst leider niemand mitkommen wollte, fragte Yasmin Tobi, ob er mit ihr über die Maiwoche schlendern wollte, und wie zu erwarten war, sagte er sofort zu.
Sie sahen sich einige Bands an, tranken etwas, trafen weitere Bekannte, und alles in allem wurde es ein sehr netter Abend. Außerdem musste Yasmin immer wieder über Tobi staunen, der sich heute ganz als Kavalier gab, nicht zuließ, dass sie etwas selbst bezahlte, und dabei waren die Getränkepreise horrende, und nicht einmal eine einige Stichelei losließ. Wenn sie Bekannte von ihm trafen, zu neunzig Prozent waren es umhertorkelnde, grölende Bierleichen, hielt er sich zurück, rutschte nicht auf deren Niveau ab, obwohl sie genau wusste, es war eine Überwindung für ihn, sich wohlerzogen zu benehmen, und darüber hinaus war er sogar noch unterhaltsam und witzig.
„Was ist heute eigentlich mit dir los?“, wollte sie irgendwann unvermittelt wissen, „Du bist heute so... na ja, menschlich eben.“
Er lächelte sie schüchtern an und drehte sich dann weg, weil er tatsächlich ein bisschen rot wurde.
„Ach, es ist nur, ich habe mir gedacht, du wirktest in letzter Zeit ziemlich unglücklich, und da dachte ich, also ich hatte das Gefühl, ich müsse halt nett zu dir sein.“
Wenn sie es sich recht überlegte, lag er damit nicht falsch. Die letzten Tage und Wochen war bei ihr alles schief gegangen, zuerst Hasis Seitensprung, bis hin zu ihrem missglückten Versöhnungsversuch. Das alles hatte sich auf ihre Laune ausgewirkt, und auch, wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, konnte sie sich noch immer nicht damit abfinden, Julian verloren zu haben. Falls er glaubte, sie würde sich durch den Korb, den er ihr gegeben hatte, abschrecken lassen und aufgeben, dann hatte er sich geschnitten. Es gab für eine Frau schließlich noch mehr und wesentlich subtilere Methoden, um einen Mann zu werben. Eine davon beispielsweise war, ihn eifersüchtig zu machen, und sie überlegte jetzt hin und her, ob sie Tobi für ein solches Spielchen benutzen konnte. Direkt darauf ansprechen konnte sie ihn sicher nicht, aber da er ja inzwischen ein guter Freund und noch dazu nett zu ihr war, war sie sich auch noch nicht im Klaren, ob sie ihn ohne sein Wissen in ihre Pläne einbeziehen konnte.
„Du, ich glaube, wenn ich nicht bald etwas esse, dann bin ich nach dem nächsten Bier blau.“
„Du hast Recht, mir geht es nicht anders. Lass uns doch da drüben ne Pizza bestellen.“
Sie steuerten die Bude an, und ohne zu zögern bestellte Tobi zwei vegetarische Pizza und lud Yasmin damit auch noch zum Essen ein.
„Warte mal“, hielt sie plötzlich irritiert inne, „seit wann isst du denn vegetarische Pizza?“
„Wieso denn nicht, ich werde schon nicht gleich davon sterben.“
„Aber da ist doch gar kein totes Tier drauf...“
„Eben darum. Sonst küsst du mich ja nachher nicht.“
Yasmins überrumpelter Blick war unbezahlbar und Tobi hätte gerne einen Fotoapparat dabei gehabt. Im ersten Moment wusste sie nichts darauf zu antworten, und er fragte sich schon, ob seine Offenheit und Direktheit vielleicht unangebracht war.
„Tobi, wieso sollte ich dich küssen?“
Jetzt war es leider zu spät für einen Rückzieher, und er musste seine Tour durchziehen. Egal, was am Ende dabei herauskam.
„Ich dachte, du hättest Bock drauf. Und außerdem habe ich schließlich extra für dich abgenommen und mir neue Klamotten gekauft.“
Der Überraschungsangriff war ihm zumindest geglückt, denn noch immer kam von ihr keine direkte und somit auch keine abweisende Antwort. Im Gegenteil, sie schien sogar verlegen zu sein, woraus er schloss, dass er ihr zumindest nicht egal war.
Um sie nicht weiter bloßzustellen, wechselte Tobi, nachdem sie aufgegessen hatten, das Thema und schlug vor, noch eine weitere Band anzuhören, die angeblich gut sein sollte. Yasmin nahm sein Angebot dankend an, bestimmt nicht zuletzt auch aus dem Grund, dass man vor einer Bühne schlecht tiefschürfende Gespräche führen konnte. Er wollte sie ja nicht bewusst überrumpeln, wusste nur leider auch nicht, wie er ihr anders hätte beibringen sollen, was in ihm vorging. Er hoffte und glaubte, oder glaubte zu hoffen, dass sie ihn verstand, und beschloss deshalb, sie nicht zu drängen, sondern in aller Ruhe auf ihre Reaktion zu warten. Wenn er ihr Schweigen nicht falsch interpretierte, dann brauchte sie einfach ein wenig Zeit, um über seine anmache nachzudenken, und diese Zeit würde er ihr lassen, auch wenn es ihn noch so drängte, nachzufragen. Dass er nicht nachfragte bedeutete aber außerdem, dass er die Hoffnung noch nicht aufgeben musste, denn keine Antwort war in diesem Falle immerhin kein Nein.
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„Kommst du noch auf ein Bierchen mit auf die Maiwoche?“
Marc war früher in der Schule in Deutsch nie besonders gut gewesen, aber dass diese Formulierung alles andere als logisch war, wusste sogar er. Warum ging man auf eine Veranstaltung, um sich dann dort unter die Leute zu mischen? Und überhaupt, warum hieß es auf ein Bierchen, wenn man am Ende doch nur wieder unter dem Tisch lag? Die deutsche Sprache war eben alles andere als sinnvoll, was vermutlich daran lag, dass das ganze Leben wenig Sinn hatte, wenn man genauer darüber nachdachte. Aber wenn man in einer Stimmung war, in der man sich nach dem Sinn des Lebens fragte, dann war es wiederum äußerstsinnvoll, Bier zu trinken, um die Leere des Lebens wenigstens mit Alkohol aufzufüllen.
„Klar, aber dann lasst uns einen Rucksack mit ein paar Bierdosen mitnehmen, denn da ist das Zeug ja doch nur teuer und schmeckt nach Wasser.“
„Okay, gut, besser ist das.“
Noch so ein blöder Satz, auch egal, Hauptsache, der Abend war gerettet und er konnte abschalten, ohne dabei den Fernseher oder ein sonstiges Medium der Zerstreuung einschalten zu müssen. Es war ohnehin lange her, dass er mit seinen Mannschaftskollegen vom Handball losgezogen war, denn meistens hatte keiner Zeit oder Lust, wodurch gemeinsame Abende oft ausblieben. Und wenn dann mal etwas auf die Beine gestellt wurde, hatte er garantiert schon etwas anderes vor, entweder im Rahmen der Tanzschule oder vom Judo aus oder aber er hatte sich mit einer Frau verabredet, die er nicht warten lassen konnte.
Manchmal kam es ihm vor als hatte er einfach zu viel um die Ohren und könne sich auf nichts davon mehr richtig konzentrieren. Jeder Abend war bei ihm verplant, immer gab es Verpflichtungen, und wenn nicht, dann beanspruchte mit Sicherheit einer seiner Mitbewohner seine Zeit. Er hatte ja nichts dagegen, die Hausgemeinschaft zu pflegen, aber es war ganz und gar nicht sein Ding, ständig einen auf große Familie zu machen.
Insofern war er sehr froh, nächste Woche alles für ein paar Tage hinter sich lassen zu können, weil er seine Eltern besuchen musste. Seine Mutter wäre zu Recht enttäuscht, wenn er nicht zu ihrem Geburtstag käme, und er freute sich darauf, einen Abend mit seinen alten Kumpels in ihrer ehemaligen Stammkneipe zu verbringen. Einerseits entwickelte man sich im Leben immer weiter, und das war auch gut so, doch andererseits war es auch immer wieder ein schönes Gefühl, zu seinen Wurzeln zurückzukehren und die alten Zeiten aufleben zu lassen.
„Ey, Marc, du bist dran 'ne Runde zu schmeißen.“
Gedankenverloren holte er sechs neue Bier, und mit einem Mal, wurde ihm klar, warum er nur selten mit den Jungs loszog. Wenn sie unterwegs waren, gab es nur das Bier, dass sie verband, und Alkohol war für ihn leider keine echt Alternative zu einem gelungenen Abend. Selbstverständlich hatte er sich als Jugendlicher auch jedes Wochenende erneut die Gehirnzellen weggesoffen, auf Dauer gab ihm das allerdings nichts. Ab und zu konnte es vielleicht schön sein, einen Zustand zu erreichen, in dem man alles nur wie durch einen Nebel mitbekam, aber seit er damals neben Anna in seinem Bett aufgewacht war und sich an nichts erinnern konnte, machte er sich öfter bewusst, wie kurz das Leben war und dass es schade war, zu viel Zeit davon betrunken zu erleben. Außerdem war Bier verdammt teuer, ungesund und ging mit der Zeit auf die Kondition. Ganz zu schweigen davon, dass er es für kindisch hielt, wegzugehen, nur um sich zuzuballern, war ihm seine körperliche Verfassung wichtig, und wenn er merkte, dass er beim Sport schlechter wurde, dann hörte der Spaß auf. Laut Anna war es die pure Selbstverliebtheit, die ihn das denken ließ, doch wenn er sich jetzt seine Kumpels ansah, die lustlos von einer Bierbude zu nächsten torkelten, sträubte sich alles in ihm dagegen, derart trostlos zu wirken.
Er wollte sich nicht einmal vorhalten müssen, einen umständlichen Lebensweg gegangen zu sein, ihm war es wichtig, dass er zu dem stehen konnte, was er tat. Er genoss es immer wieder, wenn er auf sich selbst stolz sein konnte, und bisher klappte das ganz gut. Niemals würde er seine Tage verbummeln wollen wie Tobi es tat oder zum Langweiler mutieren wie Marius, nein, er war stolz darauf, dass er stets das beste aus einer Situation machte. Und die nächste Herausforderung, die es zu bezwingen galt, war diese Party für Marius. Tobi alleine würde nie im Leben etwas Vernünftiges auf die Beine stellen können, Julian fehlte einfach der Ehrgeiz, und Kira drehte sich seiner Meinung nach zu sehr um sich selbst, um etwas auf die Beine stellen zu können. Dafür war aber Yasmin jemand, dem alles gelang, was sie sich vornahm, und mit ihr zusammen, würde er die Party schon hinbekommen. Zugegeben, er mochte sie immer noch nicht, was sicher auch daran lag, dass sie ihm in gewisser Hinsicht ähnlich war, aber es reizte ihn dennoch, mit ihr zusammen etwas auf die Beine zu stellen, auf das sie stolz sein konnten.
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Die Kohlen hatte Marius bereits auf den Grill geschüttet, die Würstchen und Maiskolben lagen auch bereit, Getränke waren kaltgestellt, nur diese verflixte Grillzange war nicht auffindbar. Dabei konnte er sich ganz genau daran erinnern, sie noch vor nicht allzu langer Zeit gesehen und an ihren Platz geräumt zu haben. Aber wenn man nicht alles versteckte oder ankettete, konnte man sicher sein, dass es genau dann, wenn man es brauchte, verschwunden und unauffindbar war.
„Tobi, sag mal, hast du die Grillzange irgendwo gesehen?“
Er war gerade dabei, einen Salat zu machen, konnte Marius aber natürlich auch nicht weiterhelfen. Leise fluchte Marius vor sich hin, guckte noch einmal auf der Terasse nach, ob sie vielleicht schon jemand herausgelegt hatte, aber dem war natürlich auch nicht so.
„Suchst du was?“, fragte Kira, die ein paar Teller und das zugehörige Besteck auf dem Tisch platzierte.
„Die Grillzange ist weg.“, stellte Marius frustriert fest, „Du hast sie auch nicht gesehen, oder?“
Die Angesprochene schüttelte den Kopf und entschied, dass sie dann eben ohne die blöde Zange grillen mussten, was auch kein Beinbruch sei. Ein Beinbruch nicht, gab Marius zurück, aber er konnte es nicht ausstehen, wenn etwas nicht da war, wohin es gehörte.
„Na, umso besser“, entgegnete Kira sarkastisch, „dann blasen wir das Ganze ab. Ist mir sowieso lieber.“
Das hatte Marius gerade noch gefehlt. Schon als er Kira von dem Grillen erzählt hatte, war sie nicht begeistert gewesen, und seitdem muffelte sie dauernd herum, wenn es um das Thema ging. Langsam wurde Marius gereizt.
„Kannst du mir mal bitte sagen, was dein Problem ist?“
„Was mein Problem ist? Allerdings kann ich dir das sagen. Ich ärgere mich seit Wochen, dass dieser kleine Idiot von nebenan mir nachts ins Zimmer glotzt, und dir fällt nichts besseres ein als ihn auch noch zum Grillen einzuladen.“
Gut, vielleicht hatte Felix ja sogar ein oder zweimal einen Blick in Kiras Zimmer geworfen, nur war das doch noch lange kein Grund, gleich auszurasten. Er konnte schließlich nichts daran ändern, dass die Fenster sich fast gegenüber lagen, wenn es sie störte, dass Felix guckte, dann sollte sie die Vorhänge zuziehen, und außerdem glaubte er noch nicht einmal, dass der Junge wirklich absichtlich rübergestarrt hatte.
„Nein, du bist zu empfindlich, das ist dein Problem.“, warf er ihr jetzt an den Kopf und ärgerte sich noch im selben Augenblick darüber, dass er sich nicht besser unter Kontrolle hatte.
Seine Worte trafen Kira wie ein Schlag, denn das war bestimmt nicht ihr Grund, und unter aufkommender Wut, blaffte sie zurück: „Nein, ich bin nicht zu empfindlich, aber du bist ein pedantischer Kontrollfreak, der nicht damit leben kann, wenn nicht alles läuft wie er sich das vorstellt oder glaubt, dass es zu sein hat.“
Daraufhin knallte sie das Besteck auf den Tisch, ging ins Haus und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Nur zu gerne hätte sie Marius den wahren Grund gesagt, warum die Angelegenheit sie aus der Fassung brachte, denn streiten wollte sie mit ihm nicht, aber jetzt war sicher nicht die richtige Zeit dafür. Vielleicht würde sich ja später am Abend oder in den nächsten Tagen eine Gelegenheit dazu bieten. Zumindest hielt sie es für angebracht, mit ihm darüber zu reden, nicht zuletzt, weil sie wusste, dass es auch ihr gut tun würde.
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Er hatte keine Lust, und es war ihm auch peinlich, mit zu Marius kommen zu müssen, aber seine Mutter kannte kein Pardon. Als Marius sich neulich für Lenas gemeinen Tritt entschuldigt hatte, hatte sie Felix nur einen bösen Blick zugeworfen, und jetzt hatte sie ihn vor die Alternative gestellt, entweder, er kam mit rüber zum Grillen und entschuldigte sich noch mal bei Lena, weil er sie geärgert hatte, oder sie würde ihn die nächsten zwei Wochen nicht in die Disco lassen. Dabei fragte er sich, was er denn da drüben sollte, er kannte die Leute doch alle nicht, und wenn Lena denen erzählt hatte, warum sie ihn getreten hatte, dann wollten sie ihn auch bestimmt nicht kennen lernen. Und außerdem rechnete er ganz fest damit, dass irgendjemand Witze darüber machen würde, dass er sich von einer Siebenjährigen auf die Matte schicken ließ, und das konnte er auch nicht gebrauchen.
„Muss ich echt unbedingt mit?“, wagte er einen letzten Versuch, seinem Schicksal zu entkommen, doch seine Mutter blieb hart und bekräftigte noch einmal, dass ihr Verbot auch dann galt, wenn er sich vor zehn Uhr entfernen würde.
„Nun komm schon, Felix“, fügte sie besänftigend hinzu, „dir wird schon niemand den Kopf abreißen, und außerdem bist du doch sonst auch nicht kontaktscheu.“
Mit kontaktscheu hatte das alles ja auch nicht zu tun, es ging vielmehr darum, dass die alle doch schon ein schlechtes Bild von ihm hatten, bevor sie ihn überhaupt kannten. Aber es gab wohl keinen Ausweg, und er musste sich der elterlichen Gewalt beugen.
„Hallo, schön, dass ihr kommt“, begrüßte Marius sie wenig später, „ich habe den Grill schon an, und ich schätze, wir können gleich essen.“
In seiner Stimme lag keinerlei Groll gegen Felix, was ihm ein wenig Hoffnung gab, doch ungeschoren davon zu kommen, und er folgte Ramona mit ein bisschen weniger Nervosität im Magen in den nachbarlichen Garten.
Die Leute, die er bis jetzt nur von weitem kannte, saßen alle um den Gartentisch, auf dem Grill lagen Bratwürste, Koteletts und Maiskolben. Lena war auch da und beäugte ihn misstrauisch. Die anderen aber wirkten wesentlich weniger feindselig als er sich das ausgemalt hatte, keiner begrüßte ihn mit dem Spruch 'na, tut’s noch weh', und Felix hoffte, dass das auch so bleiben würde.
„Kommt, setzt euch“, begrüßte sie der Typ, der am Grill stand, „die Würste sind gleich durch und Bier und Cola steht da drüben.“
Soweit wirkte also alles ganz harmlos. Aber die, die er Lena gegenüber als Hexe bezeichnet hatte, war auch noch nicht da, und wenn jemand das Vorrecht hatte, ihm den Kopf abzureißen, dann war sie es wohl. Vielleicht war sie ja gerade in den Keller gegangen, um ihm einen Kräuterdrink zu mixen, der ihn in einen Frosch verwandeln würde. Oder besser noch in ein Löwenzahnblatt, dann konnte der Hase, den er beschossen hatte, sich auch gleich an ihm rächen. Die anderen schienen ihm jedenfalls nicht die Pest an den Hals zu wünschen.
Es folgte eine allgemeine Vorstellungsrunde, und als Marius kurz darauf mit der Hexe auftauchte, wurde auf gute Nachbarschaft angestoßen. Im Laufe des Abends musste Felix dann seine Vorurteile revidieren, denn Tobi, Marc, Julian und Yasmin waren sympathischer als er gedacht hatte, einzig und allein Kira redete kein Wort mit ihm und suchte im Kopf wahrscheinlich schon die Zutaten für ihren Zaubertrank zusammen.
Entgegen all seiner Erwartungen wurde es später dann noch richtig lustig, und als Ramona ihm zuflüsterte, von ihr aus dürfe er sich jetzt auch verdrücken, lehnte er freiwillig ab und blieb.
„Hey“, verkündete Tobi irgendwann, „wenn jetzt noch jemand den Karottensalat aufisst, ist tatsächlich alles alle geworden.“
Da sich niemand bereiterklärte, hielt Tobi die Salatschüssel einem nach dem anderen unter die Nase und versuchte, die Reste an den Mann zu bringen.
„Felix, was ist mit dir? Ist garantiert gesund und außerdem gut für die Augen.“
Bevor er antworten konnte, lachte Kira laut auf und entgegnete scharf: „Dann braucht er es nicht zu essen. Gute Augen hat er schon!“
„Wie bitte?“, hakte Yasmin lachend nach, „Woher weißt du denn, ob Felix gute „Augen hat?“
Kira warf Felix daraufhin einen giftigen Blick zu und erläuterte, sie könne das sehr wohl beurteilen, denn schließlich würde sie ihn ja fast jeden Abend dabei erwischen, wie er in ihr Zimmer gaffte.
„Was ist?“, entfuhr es Felix, „Was mache ich?“
Kira wiederholte ihren Vorwurf und sah dabei aus als würde sie ihm am liebsten die Augen auskratzen. Also doch eine Hexe, und wenn sie es tat, würde er den Karottensalat auch nicht mehr benötigen. Die anderen hörten der Diskussion gespannt zu und wartete ab, was noch passieren würde, nur Marius sah aus als wäre ihm das Thema unangenehm, und er wäre vermutlich der einzige, der Kira daran hindern würde, wie eine Furie auf Felix loszugehen.
Aber die Anschuldigung wollte er nicht auf sich sitzen lassen und darum beeilte er sich zu sagen: „Jetzt mach mal halblang. Ich hab dich noch nie beobachtet.“
„Ach hör doch auf, ich habe dich schon mehrmals genau gesehen wie du rübergeglotzt hast...“
„Ja, rübergeguckt hab ich ja auch“, gab Felix kleinlaut zu, „aber doch nicht zu dir! Ich hab Yasmin beobachtet.“
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Julian musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen als er Yasmins Gesicht sah, aber als Marc und Tobi sich daraufhin anguckten und losprusteten, war es auch um seine Beherrschung geschehen.
„Es freut mich, dass ihr euch amüsiert!“, giftete Yasmin.
Tobi und Marc schossen fast die Tränen in die Augen, und selbst Ramona konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Kira und Yasmin hingegen, konnten überhaupt nicht darüber lachen, und Felix wurde schamesrot und starrte auf den Boden, der sich zu seinem Ärger nicht unter ihm auftat und ihn verschluckte.
Julian bekam allmählich Mitleid mit ihm und bemerkte diplomatisch: „Ich muss zugeben, ich könnte meine Blicke auch nicht bei mir behalten, wenn ich eure beiden Schlafzimmerfenster vor mir hätte.“
„Stimmt genau“, pflichtete Tobi ihm bei, „wer könnte bei solchem Angebot schon widerstehen?“
Beide Bemerkungen nahmen der Situation wenigstens etwas die Spannung. Yasmins Aufregung verflüchtigte sich allmählich, wie immer, wenn man ihr Komplimente machte, und auch Kiras Anspannung fiel von ihr ab. Felix warf einen schüchternen Blick in die Runde, und bevor jemand noch etwas sagen konnte, wechselte Marius geschickt das Thema und erklärte dann, er müsse jetzt erst mal Lena ins Bett bringen.
Das veranlasste die anderen dazu, das Geschirr abzuräumen und sich nach drinnen zurückzuziehen, denn inzwischen hatte es sich draußen merklich abgekühlt. Ramona und Felix standen zunächst etwas zögerlich herum, aber da ausgerechnet Kira über ihren Schatten sprang und fragte, ob sie noch mit hereinkämen, lehnten sie nicht ab.
„Puh“, stöhnte Tobi auf als sie alle im Wohnzimmer saßen, „ich dachte schon, wir werden Marius nie los.“
„Wieso willst du ihn denn loswerden?“
Tobi erklärte, dass er gerne noch einige Pläne in Bezug auf Marius Party schmieden würde, denn da gab es noch viel zu tun. Marc hatte es bisher nicht geschafft, die Tanzschule davon zu überzeugen, als Sponsor einzuspringen, über die Deko hatten sie sich bis jetzt noch gar keine Gedanken gemacht, es mussten noch Flyer gedruckt werden, bis jetzt war Marius nach wie vor der einzige DJ, der an dem Abend auflegen würde, und, was das schlimmste war, bisher gab es weder einen Termin, noch einen Ort für die Veranstaltung.
„Ich habe beim Alando angerufen, und die haben wortlos wieder aufgelegt“, fing Tobi an, seine Niederlagen aufzuzählen, „im Hyde Park haben sie nur gelacht als ich gesagt habe, welche Musik gespielt werden soll, und der Typ vom Works wollte wissen, was für Events wir denn bisher organisiert haben, und da musste ich auch passen.“
„Dann können wir die Sache damit als gescheitert ansehen?“
Nein, noch wollte Tobi nicht aufgeben, dann mussten sie eben auf eine kleinere Location ausweichen, und wenn alle Stricke rissen, würde er zur Not auch eigenhändig ein großes Zelt im Schlosspark aufbauen und die Party dort steigen lassen.
Leider machten diese Aussichten alles andere als Mut, und wenn Marc und Yasmin nicht vehement dafür plädiert hätten, nicht gleich schon bei den ersten Problemchen den Kopf in den Sand zu stecken, hätte Julian der Mut verlassen und er hätte die Idee beerdigt. Schade zwar, aber was nützte es, gegen Windmühlen zu kämpfen?
„Worum geht es denn überhaupt?“, schaltete sich jetzt Ramona ein, und Tobi begann zu erklären.
„Also ich kenne den Chef vom Labor ganz gut, und er schuldet mir noch einen Gefallen. Wenn ihr wollt, sehe ich mal, was ich machen kann.“
Alle Augen richteten sich jetzt auf Ramona, und in Julian keimte wieder etwas wie Hoffnung auf. Ramona räumte ein, dass sie nichts versprechen könne, aber schließlich müsse man es auf einen Versuch ankommen lassen, und die Idee sei alles andere als schlecht.
Bevor sie allerdings weiterreden konnten, tauchte Marius wieder auf, Lena schlief jetzt, und er wunderte sich, warum sie alle ohne etwas zu trinken herumsaßen. Ob es etwas zu besprechen gab, wollte er wissen, denn sie würden alle ziemlich ernste Gesichter machen.
„Nein, wir haben nur gerade darüber gesprochen, dass man ja auch im Schlosspark ganz gut grillen kann...“
„Genau, und zelten könnte man da auch...“
„Ja, und wir dachten, dass man da bestimmt viele Leute kennen lernt. Und es ist ja schließlich immer gut, wenn man viele Leute kennt...“
Marius guckte zwar etwas komisch, stellte aber keine Fragen, außer der, ob jemand noch eine Tasse Kaffee mittrinken würde. Und einige Stunden später als Ramona und Felix nach Hause gingen, entschuldigte der Junge sich noch einmal bei Kira und Yasmin und versprach Besserung. Julian musste immer noch darüber grinsen, denn im Grunde fand er sein Vergehen gar nicht schlimm, sondern in der Tat in höchstem Maße nachvollziehbar, und ganz nebenbei hatte Felix seine Strafe ja auch schon von Lena erhalten.
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Yasmin flüchtete sich in den folgenden Tagen in die Arbeit und merkte, dass sie Tobi mehr oder weniger bewusst aus dem Weg ging. Ohne dass er darüber sprach, spürte sie, dass er auf eine Antwort von ihr wartete. Seine Sticheleien blieben völlig aus, und immer, wenn sie sich über den Weg liefen, gab er ihr zu verstehen, dass er sich in sie verguckt hatte. Da sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte, machte sie oft freiwillig Überstunden, nahm sich abends etwas mit Freundinnen vor und bemühte sich, selten zu Hause zu sein, um der Gefahr zu entgehen, dass er sie direkt fragte.
Dabei wusste sie nicht einmal, was sie genau empfand. Einerseits schmeichelte es ihr, andererseits fühlte sie zwar Zuneidung und Freundschaft für ihn, jedoch keine Liebe. Sie wollte ihn als Freund, nicht aber als Partner, und sie hatte Angst, auch die Freundschaft aufs Spiel zu setzen, wenn sie ihm einen Korb gab. Im Grunde schmeichelte es ihr auch, dass Felix sie heimlich beobachtet hatte. Am vergangenen Samstag hätte sie es niemals zugegeben, doch die Tatsache, dass sie für den Jungen sozusagen Objekt der Begierde war, hob ihr Selbstwertgefühl. Das hieß allerdings noch lange nicht, dass sie auch etwas für ihn empfinden musste. Bei Tobi lag der Sachverhalt ähnlich, mit dem Unterschied, dass sie für ihn sehr wohl etwas empfand. Freundschaft. Aber keine Liebe. Zugegeben, eine inzwischen tiefe Freundschaft, denn wie oft kam es schon vor, dass ein Mann direkt zugab, für die Frau die er begehrte, an seinem Äußeren zu arbeiten. Leider reichte das alleine nicht aus, um auch bei ihr etwas wie Leidenschaft zu entwickeln. Sicher war Tobi nicht der schlechteste, den sie bekommen könnte, und sicher gab es auch genügend Beziehungen, die nicht mit einem großen Knall begannen.
Unter anderen Umständen hätte sie ihm vielleicht sogar eine Chance gegeben, hätte es darauf ankommen lassen und die Dinge laufen lassen. Nur war ihr auch bewusst, dass das, wenn es nicht klappen sollte, auch ein Ende der Freundschaft bedeuten würde. Und dieses Risiko war sie nicht bereit einzugehen. Wie aber sollte sie ihm das sagen? Wie konnte sie ihm schonend beibringen, dass sie ihn zwar mochte, aber nicht liebte? Es musste bald ein Gespräch stattfinden, das war ihr klar. Nur wie? Sie befürchtete, er könne sich vor den Kopf gestoßen fühlen und sich dann von ihr zurückziehen. Das wollte sie doch auch auf keine Fall.
Und warum wollte sie das nicht? Weil er ihr wichtig war. Wichtig, ja, aber was bedeutete das? War es nur die Zuneigung zu ihm, oder vielleicht doch mehr? Je länger sie über die Sache nachdachte, desto unsicherer wurde sie, und darum zögerte sie es immer und immer wieder heraus, mit ihm zu reden.
Es war toll, einen Partner zu haben, der einen geradezu vergötterte. Leider war Tobi aber auch jemand, der genug Probleme hatte, sein eigenes Leben in sinnvolle Bahnen zu lenken und ihr deshalb keinen Halt geben konnte. Nicht nur sie wollte in einer Beziehung bewundert werden, sondern sie wollte auch bewundern, wollte jemanden haben, zu dem sie aufschauen konnte, mit dem sie gegebenenfalls angeben konnte, für den sie sich jedenfalls nicht zu schämen brauchte. Und das alles natürlich ohne, dass sie dabei immer nur die zweite Geige spielte. Tobi war selbstverständlich lieb, verständnisvoll und nicht auf den Kopf gefallen, aber jemand, zu dem sie aufschauen konnte, war er mit Sicherheit nicht. Sie musste einräumen, dass sie auch zu Julian nur am Anfang aufgeschaut hatte, denn im Grunde war er ein Schwächling, der eher eine Mutter als eine Frau brauchte, aber dennoch war das etwas anderes gewesen. Oder sie wollte inzwischen eben etwas anderes, erwartete mehr von einer Beziehung als nur einen netten Mann.
Vielleicht wusste sie aber auch gar nicht, was sie eigentlich wollte und durfte deshalb nicht vorschnell handeln. Konnte es nicht sein, dass, wenn sie Tobi jetzt eine Abfuhr erteilte, sie es später bereuen würde? Und warum war sie es überhaupt, die immer alle Entscheidungen treffen musste? Genau das war der Punkt. Wenn Tobi an ihr interessiert war, sollte er nicht gleich am Anfang aufgeben, sondern um sie kämpfen. Er sollte ihr beweisen, wie ernst es ihm war, und vielleicht könnte er dadurch sogar tiefere Gefühle in ihr wecken. Immerhin hatte es schon bei Romeo und Julia Wunder gewirkt, wenn ein Mann sich ordentlich ins Zeug legte, und sie war es ja wohl auch wert. Blieb also nur noch zu hoffen, dass auch Tobi diese Erkenntnis kam und er sie realisierte.
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Die Geburtstagsfeier seine Mutter war eine Qual gewesen. Laufend horchten Verwandte ihn aus, was er denn jetzt mache, wie es ihm ginge, ob er eine Freundin hatte und wann er denn endlich wieder nach Hause ziehen wolle. Sogar seine Großeltern hatten bis jetzt nicht akzeptieren können, dass Marc weggezogen war und sein eigenes Leben führe. Er sei schon ein echter Wessi geworden, beklagten sie, dabei gehöre er doch hier hin, und wohin sollte das denn noch führen, wenn alle jungen Leute wegzogen. Nur mit Mühe hatte Marc den Abend überstanden und war froh, dass wenigstens seine Eltern seine Entscheidungen akzeptierten, ohne auf ihn einzureden.
Inzwischen saß er mit seinen früheren Schulfreunden in ihrer ehemaligen Stammkneipe und war froh, in Erinnerungen schwelgen zu können, ohne dass sie einem aufgedrängt wurden. Angefangen hatte es natürlich auch mit den Berichten, was jeder jetzt tat, aber wie immer waren sie schon bald dazu übergegangen, die Gegenwart ruhen zu lassen und einen Schritt in die gemeinsame Vergangenheit zu tun.
„Alter, weißt du noch, wie wir damals nachts ins Schwimmbad eingebrochen sind und der Bademeister seinen Hund auf uns gehetzt hat?“
Ja, sie wussten es alle noch, und auch an die anderen Geschichten, die sie gemeinsam erlebt hatten, konnten sie sich erinnern als wäre es erst gestern passiert.
„Ich denke noch oft an unseren Trip nach Holland, wie wir mit dem Fahrrad los sind und schon in Hannover in den Zug eingestiegen sind.“
„Alter, das war doch gar nichts, viel besser war doch die Rückfahrt, auf der wir alle total stoned waren und uns kaum noch senkrecht halten konnten.“
Es lief ab wie immer, nur dass diesmal von den meisten Erlebnissen lediglich die Kurzfassungen dargeboten wurden und Marc das Gefühl hatte, es fehle den Erinnerungen die wahre Begeisterung. Wenn sie sich sonst trafen, kamen sie meist aus dem Lachen nicht mehr heraus, aber heute schüttelten sie oftmals die Köpfe, fast wie alte Männer, die von ihren Kriegserlebnissen berichteten.
„Die Zeiten ändern sich, Alter,und wir werden auch langsam erwachsen.“
André sprach diesen Satz lächelnd aus, erntete aber von allen Seiten Zustimmung, die sich ein wenig resigniert anhörte. Es schwang etwas wie Trauer mit, dass sie damals fast täglich etwas auf die Beine gestellt hatten, jetzt aber vom Alltag eingeholt und außer Gefecht gesetzt wurden. In der Tat wie alte Männer, schoss es Marc wieder und wieder durch den Kopf und er bestellte sich ein weiteres Bier mit Cola.
„Kann ich noch ein Krefelder haben?“
„Ein was bitte?“
„Ein... ein Diesel meine ich.“
„Okay, kommt sofort.“
Ihn hatte es also auch erwischt. Erwachsenwerden, sich von früheren Heldentaten und Gewohnheiten distanzieren und sich resigniert dem Alltagstrott hingeben. Ein neues Leben beginnen und das Vergangene hinter sich lassen. Scheiße.
René war schließlich der erste, der sich, um Stunden früher als bei ihren letzten Treffen, mit der Begründung verabschiedete, er müsse ja morgen früh raus. Die anderen folgten schon bald seinem Beispiel und schließlich saß Marc allein mit Steven am Tisch, der den ganzen Abend über auffallend wenig gesagt hatte.
„Und?“, fragte er jetzt, „Wann fährst du wieder nach Osnabrück?“
„Eigentlich wollte ich bis übermorgen bleiben, aber ich schätze, ich fahre morgen schon.“
„Mit dem Zug?“
Marc hob den Kopf, erkannte das Blitzen in den Augen seines Freundes, musste grinsen und schüttelte dann den Kopf.
Sehr früh am darauffolgenden Tag schnappten sie sich ihre Fahrräder und machten sich auf den Weg. Diesmal würden sie jedenfalls nicht schon in Hannover schlapp machen und den Zug nehmen.
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Marius staunte nicht schlecht als Ramona klingelte und nicht ihn, sondern Tobi sprechen wollte. Er hätte niemals gedacht, dass es derart schnell gehen würde, einen freundschaftlich nachbarlichen Kontakt herzustellen. Selbst Kira schien sich, was die Sache mit Felix anging, beruhigt zu haben.
„Was willst du denn eigentlich von Tobi?“
„Tja, Marius“, wich Ramona ihm augenzwinkernd aus, „du darfst alles essen, aber nicht alles wissen.“
Dann klopfte sie an und wurde von Tobi hereingebeten. Zunächst wunderte er sich auch, warum Ramona mit ihm sprechen wollte, aber als sie erklärte, worum es ging, verstand er sofort.
Sie hatte nämlich schon heute mit ihrem Bekannten gesprochen und einigermaßen gute Neuigkeiten. Er sei im Prinzip froh, in seinem Club ein außergewöhnliches Event zu starten, nur möchte er vorher selbstverständlich ein Konzept sehen, insbesondere das Line-up sei interessant, es könne aber auch sein Resident mit einbezogen werden, und welche Styles aufgelegt werden, müsse er natürlich auch vorher wissen. Das Marketing könne man gemeinsam besprechen, die Finanzierung allerdings obliege den Veranstaltern, und es wäre schön, wenn die ihm vorher mitteilen könnten, welche Crowd sie sich etwa vorstellen.
„Na bitte, das klingt doch gar nicht mal schlecht!“, rief Tobi freudig aus und schöpfte wieder neue Hoffnung.
„Klar, das klingt toll“, stimmte Ramona ihm zu, „nur leider habe ich die Hälfte von dem, was er gesagt hat nicht kapiert und immer nur ja gesagt.“
Knapp erklärte Tobi ihr, dass ihr Bekannter damit wissen wolle, wen sie sich ungefähr als Zielpublikum vorstellten, und wer denn auflegen würde. Der Resident sei der festangestellte DJ im Club, erklärte er, aber das reiche natürlich nicht aus, um etwas Besonderes anzukündigen, und mit der Frage nach den Styles meine er, welche Richtung der elektronischen Musik sie denn spielen wollten, die Unterschiede seien leider doch extrem groß, und nicht jeder Style passe in jede Location.
Ramona schüttelte ein wenig überfordert den Kopf und beklagte sich resigniert: „Und das soll jemand verstehen? Ich wusste nicht mal, dass es dabei verschiedene Richtungen gibt.“
„Ich kenne mich da auch nicht aus, aber wenn du Marius sagst, er legt Techno auf, dreht er dir den Hals um, weil House und Techno angeblich nichts miteinander zu tun haben, das was Julian hört, nennt sich Trance, Kira regt sich auf, wenn jemand EBM mit Industrial verwechselt, und wenn jemand Gabba, Goa und Jungle verwechselt, steht darauf meistens auch die Todesstrafe.“
„Felix behauptet jedenfalls immer, er stehe auf Schranz; hat das auch etwas damit zu tun?“
„Frag mich doch nicht, ich höre Musik, die mir gefällt, und fertig ist die Kiste.“
An ihrem Gesichtsausdruck las Tobi ab, dass Ramona jetzt keinen Schritt weiter war, aber sie versprach dennoch zu helfen, wenn sie Hilfe brauchten, und Felix habe sich auch angeboten, sei sogar ganz begeistert von der Idee, eine eigene Party zu veranstalten.
Vielleicht konnte ja doch noch etwas aus seinem Vorhaben werden, sagte Tobi sich, anfangs hätte er jedenfalls nicht vermutet, dass es so kompliziert werden würde, danach hätte er niemals erwartet, dass es überhaupt klappen könnte, und inzwischen wusste er, dass sie sich einer großen aber nicht unmöglichen Aufgabe gestellt hatten. Hoffentlich war es den Aufwand auch wert.
„Auf alle Fälle ist es das“, munterte Ramona ihn auf, „Marius wird schließlich nur einmal im Leben dreißig, und an eine Aktion wie diese, wird er sich sein Leben lang erinnern und euch dankbar sein. Ich finde es jedenfalls toll, dass ihr das auf die Beine stellt.“
Aus diesem Blickwinkel hatte Tobi die Sache noch gar nicht betrachtet. Wenn er weiterhin derart gelobt werden würde, könnte er glatt noch glauben, etwas Gutes und Bedeutendes für die gesamte Menschheit zu tun. Und am Ende würde er vermutlich professioneller Partyveranstalter werden und als größenwahnsinniger Geldsack mit einer Villa in Südfrankreich und einer Yacht im Mittelmeer enden.
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Da ihr Zimmer zu vollgestellt war und sie außerdem den Gestank der Farbe nicht die ganze Nacht ertragen wollte, hatte Kira sich mit Lena in die Küche verzogen. Gegessen wurde bereits, und deshalb konnte sich auch niemand mehr über das Chaos beschweren.
Lenas Gipsbüste war inzwischen trocken, und jetzt wollten sie sie gemeinsam bemalen. Auch wenn weiß bestimmt am besten zu einer Büste passte, wollte Lena sie bunt machen, und Kira war das nicht unrecht, denn das machte schließlich mehr Spaß als sie nur zu lackieren und aufs nicht vorhandene Klavier zu stellen. Das Geschöpf sollte am Ende eine Zauberin darstellen, hatte Lena vorgeschlagen, oder aber eine Vampirin, denn sie beide hatten keine Ahnung, wie man eine Zauberin darstellte. Zuerst malte Lena die Augen rot und umrandete sie dunkel, was zugegeben ziemlich gruselig aussah. Danach entschieden sie, dass die Haut eines Vampirs weiß war, und da das aber langweilig war, würde es eben doch eine Zauberin werden, eine mit roten Augen und einem sehr bunten Gesicht. Als Grundfarbe wählten sie ein helles Braun, und darauf kam dann eine abenteuerliche Kriegsbemalung in alles Farben, die Kiras Palette hergab. Um den Hals herum malten sie eine goldene Kette, an der wiederum Edensteine in verschiedenen Farben hingen.
Als sie gerade darüber zankten, ob Diamanten weiß oder blau waren, ging die Tür auf und Yasmin rümpfte angewidert die Nase.
„Igitt! Was stinkt denn hier so bestialisch?“
„Das ist unsere Zauberin“, erklärte Lena fachmännisch, „die hat gerade einen fahren lassen.“
Yasmin konnte darüber gar nicht lachen, sondern beschwerte sich, dass sie ihre Arbeiten ausgerechnet in der Küche machen mussten, wenn andere Leute dort etwas zu essen kochen wollten. Wozu hätte denn jeder sein eigenes Zimmer, wenn am Ende doch jeder jeden Raum belagerte, das wäre wirklich nicht nötig.
Genauso gereizt motzte Kira zurück, dass Yasmins Tofu-Würstchen, oder was auch immer sie kochen würde, auch nicht besser rochen, denn sie sah nicht ein, das Feld zu räumen, nur weil ihre Mitbewohnerin um diese Zeit noch nicht gegessen hatte. Sie und vor allem Lena konnten schließlich nichts dafür, wenn Yasmin Überstunden machte und deswegen schlechte Laune hatte. Danach wandte sie sich wieder dem Malen zu und strafte Yasmin mit Nichtbeachtung. Nur weil alle anderen auf ihre Launen Rücksicht nahmen, musste sie das noch lange nicht tun, und da Lena sowieso bald ins Bett müsste, würde sie jetzt nicht den ganzen Krempel in ihr Zimmer schleppen.
Etwas Unverständliches zischend, drehte Yasmin sich auf dem Absatz um und ließ wütend die Tür ins Schloss fallen, während Lena ihr eingeschüchtert nachsah. In aller Ruhe malte Kira weiter als wäre nichts gewesen, und als Lena nachfragte, ob sie besser aufhören sollten, entschied sie: „Wieso? Yasmin ist doch gegangen. Das heißt für mich, dass wir in aller Ruhe weitermachen können.“
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Sie brachen schon am frühen Morgen auf, Steven holte Marc bei seinen Eltern ab, beide hatten dicke Rucksäcke dabei und waren mehr als willens, die Straße zu bezwingen. Gleich zu Anfang gaben sie richtig Gas oder traten vielmehr richtig zu, denn sie sagten sich, egal, ob sie ihre Kräfte schonten oder nicht, spätestens am Nachmittag würden sie erschöpft sein, und wenn sie bis dahin etliche Kilometer hinter sich gebracht hatten, würde das Durchhalten ihnen leichter fallen.
Die Route hatten sie sich noch am Abend zurecht gelegt, und sie waren fest davon überzeugt, diesmal nicht aufzugeben. Die ersten Kilometer legten sie schweigend zurück, und in einem Tempo, das sie sicherlich nicht die ganze Zeit durchhalten konnten. Was weg ist, ist weg, sagte sich Marc, und er würde sich nicht die Blöße geben und Schwäche zeigen. Es galt sich etwas zu beweisen, und er war froh, dass er durchs Tanzen und durch das Jodo- und Handballtraining durchtrainiert war. Wenn er das nächste Mal seine Eltern besuchte, dessen war er sich sicher, würde es endlich wieder etwas zu erzählen geben an ihrem Stammtisch, und er wusste schon jetzt, dass die anderen ihn und Steven beneiden würden, weil sie selbst nicht mehr in der Lage waren, eine spontane Tour wie diese durchzuziehen.
Etwa gegen Mittag kroch die Sonne hervor und es wurde richtig warm, was anstrengend, aber auch sehr angenehm war, denn die Magdeburger Börde war bei schönem Wetter durchaus sehenswert. Außerdem war die Gegend hier beinahe menschenleer, um sie herum nur Felder, oftmals hatten sie kilometerweit freie Sicht, nur ab und zu kamen sie durch ein kleines, fast vergessenes Dorf. Begriffe wie 'idyllisch' übten auf Marc sonst keine Faszination aus, denn er war ein Stadtmensch, aber diese malerische Einöde gefiel ihm, und er konnte sogar ein wenig Verständnis dafür aufbringen, dass seine Großeltern niemals aus dieser gemütlichen Gegend wegziehen wollten.
Steven allerdings beklagte sich schon nach wenigen Stunden über die Trostlosigkeit, die sie umgab, die Felder und Wiesen waren für ihn Sinnbild einer rückständischen Umgebung für Hinterwäldler, kurz gesagt, der Arsch der Welt. Apropos Arsch, fuhr er fort, der täte ihm auch inzwischen weh, und sie könnten ruhig endlich mal eine Pause machen. Im nächsten Dorf stellten sie ihre Räder vor einem großen Fachwerkhaus ab, das als Gasthaus betitelt war, und bestellten sich eine Bratwurst mit Pommes und dazu ein großes Bier.
Das kühle Nass beruhigte Steven fürs erste, und es konnte weitergehen. Die Landschaft wurde allmählich hügeliger, Wolken zogen auf und ein frischer Wind kühlte sie auf den nächsten Kilometern. Zuerst war es eine willkommene Abwechslung zur brütenden Sonne, dann wurde der Wind jedoch stärker und kam ihnen entgegen, was Steven wiederum zu Nörgeleien veranlasste, und bald darauf legten sie wiederum eine Pause ein und gönnten sich ein Bier für die körperlichen Mühen.
Als sie sich wieder auf den Weg machten, wurden die Wolken dichter, der Wind stärker und bald mischte sich auch Regen dazu, zuerst nur ein leichtes Nieseln, dann immer dickere Tropfen und schließlich folgte ein Wolkenbruch dem nächsten. Stevens Beschwerden wurden immer lauter, er fluchte in einer Tour vor sich hin und schimpfte über die blöde Schnapsidee. Marc konterte, er sei doch früher kein Weichei gewesen und solle sich nicht anstellen, aber auch er war inzwischen völlig durchnässt und die Freude an diesem Ausflug war ihm vergangen. Aufgeben kam jedoch nicht in Frage, eine Schwäche konnte er sich nicht eingestehen, und darum strampelte er weiter gegen den Wind an und bemühte sich, die Unmutsäußerungen seines Freundes zu ignorieren. Ihr Tempo verringerte sich deutlich, ihren Zeitplan hatten sie inzwischen mehrmals über den Haufen geworfen, und was als nettes Erlebnis begonnen hatte, wurde jetzt zu einer echten Qual und noch dazu zu einer Nervenprobe für beide, denn ein Streit schien inzwischen vorprogrammiert.
Kurz vor Braunschweig war es dann soweit, Steven weigerte sich, auch nur einen weiteren Kilometer bei diesem Sauwetter weiterzufahren, und auch wenn Marc immer noch protestierte, war auch er jetzt klitschnass, der Hintern tat ihm weh, und das erhebende Gefühl der Freiheit war der klammen Kälte und dem Ärger über das mangelnde Durchhaltevermögen seines Begleiters gewichen.
Mit am Körper klebenden Klamotten, nass bis auf die Haut und total gefrustet, erreichten sie den Braunschweiger Hauptbahnhof, und zu müde, um sich weiterhin zu zoffen, stieg Steven in den Zug nach Magdeburg, während Marc sein Fahrrad in den nach Osnabrück hievte.
Auf der Fahrt nach Hause, stopfte er sich den Magen mit den mitgenommenen Essensvorräten voll, schaute der Landschaft zu, die draußen vorm Fenster an ihm vorbeiflog und fraß auch seinen Frust in sich hinein. Seine Laune hatte einen absoluten Tiefpunkt erreicht, ihm war kalt, und er hätte heulen mögen, denn das Gefühl, sein Ziel nicht einmal annähernd erreicht zu haben, schmerzte mehr als er erwartet hatte.
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Der Regen wollte scheinbar gar nicht wieder aufhören, noch immer schüttete es eimerweise vom Himmel, und das Wasser überschwemmte die Straßen und riss Zigarettenstummel und anderen Dreck mit sich, bevor es in den Gully stürzte. Felix hatte Tobi versprochen, noch weitere Sponsoren für die Party ausfindig zu machen und war froh gewesen, eine wichtige Aufgabe übernehmen zu dürfen. Jetzt aber war er nur noch müde, total durchnässt und hatte sich wahrscheinlich auch noch eine Erkältung eingefangen. Sponsoren hatte er natürlich auch noch keine gefunden, das Autohaus, bei dem er nachgefragt hatte, hatte abgesagt, die Leute des Kaufhauses L+T ebenso, und gerade eben hatte er sich auch noch eine Absage der Buchhandlung Wenner eingeholt, obwohl dort eine Bekannte von ihm arbeitete, von der er sich mehr Unterstützung erhofft hatte.
Dabei hätte er stolz auf sich sein können, wenn es geklappt hätte, und hatte nicht damit gerechnet, dass die verschiedenen Firmen sich allesamt querstellen würden. Bei der Sparkasse hatte er sogar versprochen, sie dürften einen Infostand in der Disco aufstellen, wenn sie den Druck der Flyer finanzieren würden, doch selbst das hatte ihn keinen Schritt weitergebracht. War es denn nicht mehr wichtig, der sogenannten Zielgruppe nahe zu sein? Hatte denn niemand mehr Interesse daran, die Jugend zu unterstützen und ihnen eine unvergessliche Nacht zu ermöglichen? Wohl nicht. Und dabei konnte er sich noch gut daran erinnern, dass vor einigen Jahren, Partys in Autohäusern der absolute Renner waren und dass selbst die Kirchen christliche Raves organisiert hatten. Scheinbar waren diese Zeiten vorbei, niemand hatte mehr Interesse an den Freizeitaktivitäten der Jugend, aber bitte, wenn sie es wollten, dann würde er eben auf all diese Firmen scheißen. Sie würden die Party auch anders auf die Beine stellen können, und in Zukunft würde er all die Geschäfte, die ihm heute die Hilfe verweigert hatten, meiden und keine Träne vergießen, wenn sie deshalb eines Tages Konkurs anmelden mussten. Wer setzte eigentlich die Lüge in die Welt, der Kapitalismus sei die tollste Errungenschaft der Menschheit?
Der Himmel über ihm war mittlerweile nicht mehr grau, sondern schwarz, die wenigen Passanten, die noch unterwegs waren, hetzten von einem Vordach zum nächsten, und Felix war es inzwischen egal, denn er sah sowieso längst aus wie frisch geduscht.
Bevor er endgültig den Rückzug antrat, wagte er noch eine letzten Versuch in einem Kiosk, und außerdem waren seine Zigaretten durch den Regen durchweicht und er brauchte neue. Der alte Mann hinter dem Tresen fragte ihn freundlich, womit er dienen könne, und Felix brachte sein Anliegen vor.
„Also erst mal brauche ich ne Schachtel Basic, und dann wollte ich fragen, ob sie vielleicht Interesse hätten, eine House Party zu sponsern?“
„Bitte was willst du?“
„Ich möchte, dass sie unsere Party unterstützen, ein House Event, das demnächst stattfinden soll, und dazu brauchen wir noch Leute, die uns die Druckkosten für die Flyer vorschießen.“
„Wir verkaufen nur Zigaretten.“
„Ja, das ist schön für sie, aber trotzdem sind sie doch bestimmt an Werbung interessiert, oder nicht? Und das Sponsoring einer Houseveranstaltung wäre doch toll, oder?“
„Was wird im Haus veranstaltet?“
„Nein, nein, House, das ist diese elektronische Musik, sie wissen schon, da wo die Leute in der Disco rumhopsen und alte Knacker wie sie den Untergang des Abendlandes befürchten.“
Der Alte verstand gar nichts mehr, guckte ihn nur skeptisch an. Felix holte noch einmal weiter aus, erklärte ihm umständlich etwas von Marketing und Zielgruppenverhalten und Produktplacement am Puls der Zeit. Noch immer machte sich im Gesicht des Verkäufers ein großes Fragezeichen breit. In einem letzten Ansturm von verzweifeltem Tatendrang, schlug vor, dann könne er doch mit Marlboro oder Philip Morris oder Lucky Strike den Deal machen, wenn der Alte ihm nur die Connections verschaffen würde. Das Fragezeichen blieb weiterhin, wo es war.
Als Felix später nach Hause kam, nieste er in einer Tour und tropfte wie ein Hund nach einem Bad in der Hase, worauf Ramona ihn sofort abfing und ihm befahl, seine Sachen auszuziehen und heiß zu duschen. Ohne den leisesten Anflug von Protest, gehorchte er seiner Mutter und pellte sich aus seinen nassen Klamotten, was gar nicht so leicht war. Alles klebte an ihm, aus seinen Schuhen lief mindestens ein halber Liter Regenwasser, sein T-Shirt war längst durchsichtig geworden, und die Hose klebte an ihm wie die Haut am Bismarckhering, und das, obwohl es eine Schlaghose war.
„Kannst du mal ziehen?“, bat er seine Mutter nachdem er den Kampf aufgegeben hatte, „Ich komme aus der verdammten Hose nicht raus.“
Sie grinste darauf nur besserwisserisch, frei nach dem Motto, hättest du auf mich gehört, wäre das nicht passiert, verkniff sich aber solche Sprüche und frotzelte nur: „Das letzte Mal, dass ich dich umziehen durfte ist zwar schon fast fünfzehn Jahre her, aber ich denke, ich bin noch nicht ganz aus der Übung.“
Felix war froh, sich keine Moralpredigt anhören zu müssen, ganz im Gegenteil, Ramona schien sogar ein wenig stolz auf ihn zu sein, dass er mit solchem Eifer zu helfen versuchte.
„Hast du denn wenigstens etwas erreicht?“
Knapp schilderte er ihr seine Niederlagen und erntete dafür echtes Bedauern.
„Am Ende war ich noch bei 'nem alten Knacker im Tabakladen, aber der hat nicht mal kapiert, was ich von ihm wollte.“, schloss er seinen resignierten Bericht.
„Dann hat also dein Einsatz überhaupt gar nichts gebracht?“
„Och, so kann man das nicht sagen... Am Ende hat der Alte mir dann immerhin 'ne Schachtel Zigaretten geschenkt, weil er mich loswerden wollte.“
*****
Marius hatte es den ganzen Tag über nicht geschafft, sich auch nur eine Minute ruhig hinzusetzten, und darum war er jetzt umso glücklicher, dass Lena im Bett und alle anderen ausgeflogen waren.
Entspannt, ließ er sich in seinen Lieblingssessel fallen und griff zur Fernbedienung der Stereoanlage. Er startete das Tape, das ihm Frank schon vor Wochen aufgenommen hatte, und leise Houseklänge durchfluteten den Raum, der jetzt nur noch durch einige Kerzen erhellt wurde. Dann griff er neben sich zu der Tasse grünen Tees, nahm einen Schluck, lehnte sich zufrieden zurück und schloss die Augen. Müde war er noch nicht, obwohl er seit Stunden auf den Beinen war, er sehnte sich nur nach Ruhe.
Er hing seinen Gedanken nach, grübelte über Glück, Freundschaft, Zukunft, den Sinn des Lebens und ob er morgen Klopapier kaufen musste nach und lauschte nebenbei dem Mixtape. Das war übrigens gar nicht mal schlecht, also dafür, dass es ein Freund von Frank ohne DJ Erfahrung aufgenommen hatte. Die Musik war sehr sphärisch, und deshalb genau das Richtige an einem Tag wie diesem, die Übergänge waren sauber, und die Musik entwickelte sich langsam aber stetig, also genau wie es sein sollte. Ein guter Mix musste fließen, ein Thema musste ins andere übergehen, wobei keine Brüche entstehen durften, und die Übergänge mindestens genauso gut sein musste wie die einzelnen Lieder. Eine endlose Abfolge, die sich langsam weiterentwickelte, sollte es sein, zwar immer mit den gleichen Elementen, aber sie niemals wiederholend. Und am Ende kam man wieder dort an, wo man gestartet war, fast wie im Leben, wo sich auch nichts wiederholte, sondern sich immer weiterentwickelte, und am Ende verschwand man einfach wieder von der Bildfläche. Vielleicht hinkte dieser Vergleich etwas oder war zu pessimistisch, aber diesen langsamen, fast unmerklichen Verlauf, den man nur schwer in einzelne Teile trennen konnte, da sie zu dicht miteinander verwoben waren, den konnte man schon irgendwie vergleichen. Na gut, das mit dem Ende erschien ihm noch etwas fragwürdig, denn woher sollte er wissen, dass man wieder dort landete, wo man angefangen hatte, und vielleicht gab es ja doch einen Himmel und einen Gott, der sozusagen ein DJ war und aufpasste, dass dieses Mixtape des Lebens noch tanzbar war.
Vielleicht sollte er doch besser ins Bett gehen, bevor er noch allzu philosophisch wurde, aber etwas war dran an dem Bild. Der Gedanke, dass es im Leben immer weiterging, und dass Veränderungen immer auch eine Weiterentwicklung waren, gefiel ihm. Im Grunde war er schon immer jemand gewesen, der sich vor Veränderungen fürchtete und es am liebsten hatte, wenn alles blieb wie es war, doch das würde Stillstand bedeuten, einen Sprung in der Platte, und niemand würde dann noch tanzen können.
Die letzten größeren Veränderung in seinem Leben lagen noch nicht lange zurück, erst Karinas plötzlicher Abschied und dann die Gründung seiner Wohngemeinschaft, und er wusste selbst zu gut, dass er diese Übergänge leider nicht fließend hinbekommen hatte. Trotzdem war es noch nicht zu spät, das beste daraus zu machen, und auch, wenn er nicht über alles die Kontrolle haben konnte, hieß das noch lange nicht, gleich alles hinschmeißen zu müssen.
Ohne dass er es wollte, flossen seine Gedanken zu Kira und dem, was sie ihm neulich an den Kopf geworfen hatte. War er wirklich pedantisch? Musste er tatsächlich um jeden Preis die volle Kontrolle behalten? Es tat ihm leid, dass er sie verletzt hatte, gerade sie, die immer für jeden ein offenes Ohr hatte und ihre eigenen Bedürfnisse am besten von ihnen allen hinten anstellen konnte. Es tat ihm leid, dass er in seinem Jähzorn aufbrausend und ungerecht gewesen war zu jemandem, der es nicht verdient hatte. Dabei war Kira doch etwas ganz Besonderes für ihn, ein Mensch, den er sogar oft bewunderte für die Gelassenheit, Ruhe und Leichtigkeit, mit der sie lästige Alltagsdinge meisterte, über die er sich unnötig aufregte. Sie war bestimmt die letzte, der er wehtun wollte, denn wenn er ehrlich war, stand sie ihm von all seinen neuen Hausgenossen, Lena selbstverständlich ausgenommen, am nächsten.
*****
Tobi trat in Marcs Zimmer ohne anzuklopfen. Marc war gerade dabei, Tschaikowsky zu füttern und fragte ungehalten, ob irgendwo ein Schild stehe, dass heute bei ihm Tag der offenen Tür sei. Da auch Tobis Stimmung nicht die beste war, reagierte er nicht auf den Vorwurf und setzte sich aufs Bett. Er hatte bis auf Kiras Studio noch immer keinen einzigen Sponsor für ihre Party gefunden und war ein wenig genervt, dass Marc es offenbar noch nicht für nötig gehalten hatte, in der Tanzschule nachzufragen, sondern stattdessen lieber mit dem Fahrrad durch die Weltgeschichte geeiert war.
„Keine Angst, ich wollte dich nicht lange stören, sondern nur wissen, wann du es denn für nötig hältst, endlich mal dein Versprechen, was unsere Gogos angeht, einzulösen.“
Betont langsam setzte Marc das Kaninchen wieder in seinen Käfig, und räumte das Futter beiseite. Dann erst hielt er es für nötig, Tobi zu antworten.
„Falls es dich interessiert, ich habe heute mit meinem Chef gesprochen, und alles klar gemacht. Die Tanzschule wird uns finanziell großzügig unterstützen, ich habe einen Kurs angeboten, und wenn wir eine Bühne bekommen, kann ich eine kleine Tanzshow anbieten.“
Das war fantastisch, und Tobi einigermaßen platt. Endlich mal wieder eine gute Nachricht. Jetzt konnten sie sich endlich zusammensetzen, ein Motto überlegen und dann mit der detaillierten Planung beginnen. Die Bühne würde kein Problem darstellen, einige Tanzeinlagen würden dem Publikum ordentlich einheizen, und wenn die Tanzschule Schirmherr der Veranstaltung war, konnte man sogar fast schon von kulturellem Anspruch sprechen.
„Ja hey, das ist doch spitze!“, lobte Tobi und merkte, wie seine Stimmung umschwang, „Aber warum machst du denn dann noch so ein mieses Gesicht?“
„Ach nichts“, wich Marc ihm aus, „schon gut, es ist nichts.“
„Klar, du erzählst mir gerade, dass sich unsere Geldsorgen in Luft aufgelöst haben und siehst dabei aus als müsstest du alles aus eigener Tasche bezahlen.“
„Quatsch, damit hat es nichts zu tun, ich bin eben nur nicht gut drauf, weil die Tage bei meinen Eltern... auf deutsch gesagt einfach scheiße waren.“
Zuerst wusste nicht, ob er weiter nachbohren oder Marc lieber in Ruhe lassen sollte, aber dann hakte er aus einem Impuls heraus doch nach. Marc seufzte kurz und erzählte ihm von dem Geburtstag seiner Mutter, dem Treffen mit seinen Freunden, das ihn völlig desillusioniert hatte und dem gescheiterten Versuch, zusammen mit Steven die alten Zeiten wieder aufleben zu lassen. Tobi hatte noch nie erlebt, dass Marc offen über Gefühle sprach, doch diese Enttäuschung nagte an ihm, weil er jetzt die definitive Gewissheit hatte, dieser Lebensabschnitt war zuende und würde auch nicht mehr zurückzuholen sein. Der sonst beinahe unantastbare Supersportler und Aufreißer zeigte offen seine Schwächen, und Tobias fühlte sich dadurch etwas überrumpelt und wusste nicht, wie er auf die Situation reagieren sollte.
„Weißt du“, setzte Marc noch hinzu, „das schlimmste ist gar nicht mal, dass wir aufgegeben haben, sondern dieses Gefühl, dass man sich mit den ehemalig besten Freunden nichts mehr zu sagen hat. Das einfach alles an Bedeutung verliert, was man gemeinsam erlebt hat.“
„Ob du es glaubst oder nicht“, fand Tobi seine Sprache wieder, „ich weiß ganz gut, wovon du redest. Wenn ich meine ehemalige Clique mal wiedersehe, läuft es kaum anders.“
Es war tatsächlich so. Wenn er seine Eltern oder alte Freunde besuchte, wurde über Geschehnisse in der Umgebung gesprochen, wer jetzt mit wem zusammen war, wer sich getrennt hatte, wer wen betrog, wer verstorben war, wer arbeitslos geworden war und all diese Dinge, bei denen Tobi nicht mehr mitreden konnte. Und wenn er sich mit seinen früheren Kumpels traf, kreisten die Gespräche um deren Jobs, um den nächsten Urlaub, manchmal auch um Kindererziehung, alles Themen, bei denen er leider nicht mithalten konnte. Sobald er dann etwas von seinem Studium oder anderen Dingen aus seinem Leben erzählte, wurde er oft nur mitleidig angeguckt, und schon wurde das Thema wieder gewechselt. In ihrer Gesellschaft kam sich Tobi schon seit längerem als Loser vor, denn sie alle waren dabei, eine Familie zu gründen, verdienten das dicke Geld, und sie alle hatten kein Interesse mehr für das Leben eines sich noch in der Ausbildung befindlichen Singles.
„Ich schätze, es ist wohl normal, dass Freunde kommen und gehen, dass man sich ständig nach neuen Leuten umgucken muss, und dass nichts für immer bleibt.“
Im Grunde hatte er Marc Trost oder Mut zusprechen wollen, jetzt war er allerdings selber deprimiert, weil ihm bewusst wurde, dass auch er keinen einzigen wirklichen Freund hatte oder früher scheinbar gehabt hatte.
„Ja, es scheint so“, stimmte Marc ihm zu, „am Ende bist du doch immer wieder allein und auf dich gestellt.“
Nie im Leben hätte Tobi erwartet, einmal derart offen mit Marc sprechen zu können, schon gar nicht über die Enttäuschungen des Lebens. Trotzdem schien es in diesem Augenblick das normalste der Welt, dass sie sich gegenseitig eine solche Offenheit entgegenbrachten. Und das, obwohl man Männern doch nachsagte, sie könnten nicht über Gefühle reden. Vielleicht bahnte sich zwischen ihnen ja in diesem Augenblick doch noch eine Freundschaft an, denn wenn es stimmte, dass man sich für jeden Lebensabschnitt neue Freunde suchen musste, dann hatten sie sich ranzuhalten.
„Ich glaube, du solltest auf diese Idioten pfeifen“, beschloss Tobi, „die sitzen alle noch dort wo sie geboren wurden, schlagen die Richtung ein, die am leichtesten ist, während wir es wenigstens geschafft haben, von zuhause wegzukommen und unseren eigenen Weg zu gehen.“
„Klasse“, lobte Marc ironisch, „Hast du mal daran gedacht, bei der Telefonseelsorge zu arbeiten?“
*****
Kaum hatte Marius das Haus verlassen, um zum Elternabend in Lenas Schule zu gehen, trommelte Marc alle zusammen und rief auch bei Ramona und Felix an, ob sie kurz herüber kommen könnten.
Nachdem sie alle im Wohnzimmer saßen, trugen sie zusammen, was sie bisher schon erreicht hatten, und was noch getan werden musste. Die Location stand fest, Die Finanzierung schien durch die Tanzschule weitestgehend geregelt, aber sie hatten noch immer kein Programm, mindestens ein weiterer DJ musste her, sie brauchten noch immer ein Motto, und dann musste noch das Marketing in die Wege geleitet werden.
„Das mit dem Drucken ist kein Problem“, bot sich Kira an, „ich kenne eine günstige Druckerei, mit denen kann ich einen Preis aushandeln für Plakate und Flyer.“
„Prima, also bist du dafür zuständig, und wir anderen können uns um andere Sachen kümmern.“, verteilte Marc die Aufgaben, denn einer musste ja schließlich die Funktion des Projektleiters übernehmen.
„Wie steht es mit einem anderen DJ?“
In diesem Punkt machte sich allgemeine Ratlosigkeit breit, denn keiner von ihnen war genug in die Szene involviert, um die lokalen Größen persönlich zu kennen. Nach einer schnellen Überschlagsrechnung ihrer Finanzen, stellten sie aber auch fest, dass es nicht möglich sein würde, einen bekannten DJ zu buchen, und darum musste es auch anders gehen.
„Ich kenne die Jungs von Dormitory ganz gut“, warf Tobi ein, „aber ich glaube, eine Metalband hilft uns nicht wirklich weiter, oder?“
„Na sicher doch, und ich hole dann noch eine befreundete Gothictruppe dazu, dann passt das fast perfekt.“
Schließlich druckste Felix ein bisschen herum und schlug dann vor: „Ich könnte Pepsi fragen, ob sie Bock hat, aufzulegen. Sie ist zumindest schon ab und zu mal in einigen Clubs eingesprungen.“
„Pepsi?“
„Nee, danke, ich hab’ keinen Durst.“
Nach einigem Nachbohren, fanden sie heraus, dass Pepsi eine Freundin von Felix war, die übrigens den Spitznamen trug, weil sie keinen Alkohol, sondern immer nur Cola trank. Sie war vernarrt in ihre Musik und hatte außer auf einigen Schulfesten und Geburtstagsfeiern sogar schon in ein paar Discos der Umgebung mixen dürfen, war also nicht völlig unbekannt. Sofort wurde Felix befohlen, mit ihr zu sprechen und sie zu überreden, einzusteigen. Es war zwar nicht nur House, was sie auflegte, doch das war inzwischen auch egal, Hauptsache, sie hatten jemanden, der Musik machte.
„Und wenn sie absagt, verkleidet Felix sich als Paul van Dyk, und Yasmin gibt mit Julian und Marc einen Live-Act wie Kosheen oder so.“
Nachdem das nun geklärt war, musste immer noch ein Motto gefunden werden, wobei sie sich alle schwer taten, denn schließlich kannte sich keiner richtig in der Houseszene aus und wusste, welche Elemente dort für Publikumszulauf sorgten. Es fielen Vorschläge wie 'DJ Marius’ Birthday Party' oder 'Our House is your Castle' und nicht zuletzt 'Zu House ist es doch am schönsten', nur leider klang das alles mehr als bescheuert.
„Wie wäre es denn mit 'Burning down the House'?“
„Das war ein Song von Tom Jones, meinst du echt, das passt? Und außerdem könnte ich mir vorstellen, dass der Clubbesitzer dieser Titel nicht gefallen könnte.“
„Hey wartet mal“, schaltete sich Julian ein, „das ganze hat doch was mit tanzen zu tun... Wie wäre es denn mit 'Dance on Volcano'?“
„Ist das nicht zu abgegriffen?“
„Aber Kira hat mal dieses tolle Bild von einem Vulkanausbruch gemalt, das könnte man auf die Plakate drucken.“
Yasmin warf nun ein, dass ein Vulkan doch weder mit ihnen, noch mit Marius, noch mit House etwas zu tun habe, ob es nicht etwas gäbe, was besser als Motto passen würde. Tobi schlug vor, sie können das ganze auch einfach 'House Party' nennen, denn immerhin gehe es ja um die gleichnamige Musikrichtung, und außerdem wohnen sie schließlich alle in einem Haus, aber der Vorschlag mit dem Tanz auf dem Vulkan war noch nicht vom Tisch.
„Hey“, meldete sich jetzt auch Kira zu Wort, „ich habe aus noch Gips übrig, und vielleicht können wir daraus einen Vulkan für die Bühne bauen, aus dem oben ein Feuerwerk steigt, wie vor dem Mirage in Las Vegas.“
„Wann warst du denn in Las Vegas?“
„War ich nicht, aber der Vulkan steht da trotzdem, und ich glaube, das könnte echt gut aussehen.“
Julian und Marc waren sofort begeistert von der Idee, ihnen fiel noch ein, dass es doch auch diese Lampen gab, die wie Fackeln aussahen, und überhaupt könne man die ganze Deko feurig aussehen lassen. Flammen aus Laserstrahlen, der typische Disconebel würde auch dazu passen, brennenden Sambuco zum Sonderpreis, damit könne man viel machen.
„Du hast doch neulich mit Lena diese Gipsmaske gemacht“, gab sich schließlich auch Yasmin geschlagen, „wie wäre es denn, wenn du von uns alles sowas machst, dann ist es nämlich doch wieder persönlich.“
Die Idee war also geboren, und auch, wenn noch sehr viel zu tun war bis zu Marius, war es von jetzt an nur noch eine Frage der Zeit und der Koordination, bis der 'Dance on Volcano' steigen würde. Kira wollte sich noch heute Abend an die Gestaltung des Flyers machen, Marc würde ihren Entwurf dann einscannen und digital nachbereiten, Tobi überredete Yasmin, ihn am kommenden Tag in die Stadt zu begleiten, um nach einer Möglichkeit für das Feuerwerk zu suchen, und Felix versprach, sofort alle seine Bekannten zu überreden, auf jeden Fall zu der Party zu kommen und alles andere dafür abzusagen.
*****
Mittwoch Morgen, Mathe bei Stockmann, Langeweile vorprogrammiert. Jetzt nur nicht wieder einschlafen, auch wenn es schwer fällt, aber das Aufwachen und Aufstehen war vorhin schon schlimm genug. Tobias verfluchte alle Bestimmungen, die es ihm vorschrieben, Mathematikvorlesungen besuchen zu müssen, das war doch völlig unnötig und vermutlich nur als reine Qual gedacht, und er verfluchte sich selbst, weil er zu blöd gewesen war, ein anderes Wahlpflichtfach zu nehmen. Er sah sich im Raum um, den anderen ging es genauso wie ihm, sie kritzelten Tribals und andere Muster in ihre Hefte, tuschelten, bauten Kugelschreiber auseinander und wieder zusammen, spielten Käsekästchen oder hingen ihren Gedanken nach. Keiner war beim Thema, alle ganz weit weg, alle außer Stockmann natürlich. Der redete voller Inbrunst über die Schönheit verschiedener Funktionen und deren Graphen und erklärte die tiefere Bedeutung der komplexen Zahlen, die philosophischen Betrachtungen, die man anstellen könne und die Bedeutung dessen für das tägliche Leben. Er unterstrich seine Begeisterung mit ausladenden, bedeutungsschwangeren Gesten, und Tobi fragte sich, ob er das nur tat, um nicht selbst auch selig einzuschlummern.
Tobis Blick ruhte auf dem Dozenten, und ihm schoss durch den Kopf, dass man ihn eigentlich dafür bewundern müsse, dass er nicht ausrastete, wenn er Sachverhalte von fundamentaler Bedeutung erläuterte und sechzig Studenten der Reihe nach vor seinen Augen wegschlafen. Tobis Blick durchbohrte ihn weiterhin gedankenverloren, aber vielleicht machte das ja halbwegs Eindruck und wirkte interessiert. Es war doch ein Fehler, sagte er sich, nach einer langen Nacht in die Vorlesung zu gehen. Und dabei hatte er entgegen jedem Klischee des faulen Studenten noch nicht einmal gesoffen, sondern sie hatten sich ihren Planungen hingegeben. Es hatte gut getan, seine Idee reifen zu sehen, die Begeisterung der anderen hatte ihn angesteckt, und vor allem war es ein tolles Gefühl, dass sie endlich alle an einem Strang zogen und nicht mehr jeder sein eigenes Süppchen kochte. Er fühlte sich nach wie vor als Regisseur einer ganz großen Sache, Veranstalter eines riesigen Festivals oder was auch immer. Und als Regisseur hatte er sich natürlich nicht die Blöße geben können, die Ratssitzung als erster zu Verlassen, noch dazu mit der Begründung, dass am nächsten Morgen um zehn die faszinierende Welt der analytischen Funktionen auf ihn warten würde.
Stockmann war wie immer und wie alle Mathematiker unmöglich gekleidet, rote Hose zum blauen Sakko und um den Hals eine grüne Krawatte, die bei jeder seiner Gesten hin- und herbaumelte wie das Pendel einer alten Standuhr. Tobis Augen blieben an diesem äußerst modischen Kleidungsstück hängen und folgten seinen Bewegungen. Nach links – nach rechts – nach links, immer hin und her und wieder zurück. Er wusste nicht, was ihn daran fesselte, aber er konnte sich nicht von dem Anblick abwenden, kam sich hypnotisiert vor und hörte die Krawatte leise flüstern: „Du wirst jetzt ganz müde, deine Augenlider werden schwer...“
Wie die meisten anderen baute jetzt auch er seinen Kugelschreiber auseinander und kritzelte auf seinem Block herum, um bloß nicht einzuschlafen. Dennoch wurde seine Aufmerksamkeit immer wieder auf die Krawatte seines Professors gerichtet, wohlgemerkt lediglich auf die Krawatte und keinesfalls auf den Inhalt seiner Worte. In den vergangenen Semestern hatte er es gelernt, ein Gähnen, auch wenn der Reiz noch so stark war, erfolgreich zu unterdrücken, aber gegen eine baumelnde Krawatte war er machtlos. Nach links – nach rechts – nach links, hin und her, her und hin, immer wieder. Ein letztes Aufwallen seines Willens, doch es nutzte nichts, seine Augenlider wurden wirklich schwer, die komplexen Zahlen, Stockmann oder die Krawatte sangen ihn in einen süßen Traum von einer besseren Welt.
Erst als er mit dem Kopf auf die Tischplatte knallte und der Raum in schallendes Gelächter ausbrach, war der Bann der Krawatte gebrochen und alle wieder hellwach.
*****
„Du wolltest doch Gipsmasken von uns allen machen“, fragte Julian an Kira gewandt, „wenn du Zeit hast, kannst du gleich mit mir anfangen.“
Kira stimmte zu, holte alles zusammen, was sie für die Masken brauchte und bat Julian, sich auf den Rücken zu legen. Julian tat wie befohlen und überlegte dabei, wie er ihr am besten sagen sollte, was ihm schon lange auf der Seele brannte. Das beste war immer noch, direkt mit der Tür ins Haus zu fallen und nicht lange um den heißen Brei herumzureden.
„Sag mal, kennst du eigentlich das Gefühl, in jemanden verliebt zu sein, obwohl du dir nicht sicher bist und eigentlich weißt, dass ihr nicht zusammen passt?“
„Wie meinst du das?“, fragte Kira verständnislos.
„Also ich meine, wenn du jemanden sehr magst, dir aber im Grunde sicher bist, dass eine Beziehung nicht gut gehen würde und jetzt zweifelst, ob du dich darauf einlassen oder überhaupt ihr etwas davon sagen solltest.“
Sie nickte und gab dann zu, diese Situation sehr wohl zu kennen, das sei schließlich meistens der Fall, wenn man sich nicht ganz sicher war. Julian erklärte, er meine nicht eine dieser Situationen, in denen man sich einfach nicht traute, die Angebetete anzusprechen, sondern wenn man diesen Schritt schon hinter sich hatte.
„Mal angenommen, du hast demjenigen schon einen Korb gegeben und bist dir nun aber nicht sicher, ob es ein Fehler war.“
Er fragte weiter, ob sie denn in einer solchen Situation den Betreffenden darauf ansprechen würde, oder ob sie lieber abwarten würde bis es vielleicht zu spät war. Kira wich seinem fragenden Blick aus und wunderte sich, was das denn plötzlich sollte. Dann fiel es ihr aber wie Schuppen von den Augen, sie erinnerte sich daran, dass Julian sie erst vor kurzem gefragt hatte, ob sie mit ihm schlafen wolle.
„Das ist eine schwere Frage“, wich sie ihm aus, „pauschal kann man das nicht sagen, aber normalerweise überlegt man sich die Sache doch sehr gut, bevor man jemandem einen Korb gibt, und das ist dann entgültig, oder nicht?“
„Schon, aber es kann doch vorkommen, dass man sich hinterher dessen nicht mehr sicher ist und sich dann einfach nicht traut, einen neuen Vorstoß zu machen, verstehst du?“
Ja, sie glaubte schon, dass sie verstand, nur wollte sie ihm darauf keine Antwort geben. Wenn er sich tatsächlich in sie verliebt haben sollte, tat es ihr leid, denn sie mochte ihn, aber mehr war es nicht. Nur wollte sie ihm auch nicht wehtun, und war froh, dass sie in diesem Augenblick die stärkeren Argumente hatte.
„Ich glaube, das kann man wirklich nicht generell sagen... Aber jetzt lieg still, denn ich muss dich jetzt eingipsen.“
Bevor er protestieren konnte, pappte sie ihm eine Lage Gips über den Mund und machte dann konzentriert weiter, als hätte sie keinen Schimmer, worauf er hinaus wollte.
In diesem Augenblick platzte Lena in ihr Zimmer, der langweilig war und die jemanden suchte, der mit ihr spielte. Mit ihrem Papa wollte sie nicht spielen, weil der immer absichtlich verlor, Tschaikowsky schlief, die anderen waren nicht da, und jetzt wusste sie nicht, wie sie ihre Zeit totschlagen sollte.
„Hey“, stellte sie entzückt fest, „du machst Julian ja auch Brüste!“
Da Julian sie unter der Gipsschicht heraus fragend anguckte, erklärte Kira nochmals, dass es sich nicht um Brüste, sondern um eine Büste handele, und hoffte inständig, dass Julian jetzt nicht lachen musste, denn dann würden sie von vorne anfangen können.
„Ich glaube, Brüste braucht er nicht, die findet er schon noch bei anderen Leuten.“
Eine Stunde später waren sie mit ihrer Arbeit fertig, und Julian atmete auf, weil er sich endlich wieder bewegen durfte. Die Kunst in allen Ehren, aber sein Bedarf an Gipsmasken oder Büsten war vorerst gedeckt. Kira erläuterte ihm, dass sie an die Masken noch Körper bauen würde, aber ohne lebendes Modell, und insgesamt würde das bestimmt eine originelle Dekoration abgeben. Er hörte ihr kaum zu, denn seine Fragen beschäftigten ihn noch immer. Er glaubte nicht, dass Kira überhaupt verstanden hatte, worum es ihm ging, und deshalb würde kein Weg daran vorbeiführen, es ihr direkt zu sagen.
„Und du glaubst also ein Korb wäre etwas Entgültiges?“
„Das nicht unbedingt, aber in den meisten Fällen schon.“
„Na gut, dann habe ich wohl unüberlegt gehandelt. Jedenfalls bin ich mir jetzt meiner Sache nicht mehr sicher und würde es gerne rückgängig machen.“
Auf Kiras Stirn bildeten sich Falten als sie fragte: „Wieso du?“
„Ach, ich habe Yasmin doch gesagt, ich wolle nicht wieder mit ihr zusammenkommen. Und jetzt bin ich mir dessen eben gar nicht mehr sicher und weiß nicht, wie ich es ansprechen soll.“
Kiras Mine entspannte sich wieder, und sie atmete erleichtert auf. Ach, darum ging es also. Mit ihr hatte die Angelegenheit nicht im Geringsten zu tun. Alle Panik war umsonst gewesen, und auch ihre Ratschläge musste sie vor diesem Hintergrund noch einmal neu überdenken.
„Ich denke, du solltest einfach offen zu ihr sein und ruhig mit ihr darüber reden. Wenn du jetzt rumläufst und immer wieder Andeutungen machst oder etwas in der Art, kommen schnell Missverständnisse auf, und das hilft euch beiden nicht weiter.“
„Das dumme an der Sache ist einfach, dass ich nicht weiß, ob ich sie noch liebe und nur Angst habe, dass es wieder nicht klappt, oder ob ich es nur aus Gewohnheit noch einmal probieren will.“
Sie redeten noch eine ganze Weile weiter, und auch, wenn Kira erleichtert war, mischte sich etwas wie Eifersucht oder Enttäuschung darunter. Natürlich wollte sie nichts von Julian, aber nachdem nicht einmal Felix an ihr interessiert war, vermisste sie das Gefühl begehrt zu werden. Wenn auch nicht unbedingt von einem der beiden, dann aber doch von jemand anderem. Es war in der Tat oft ein Fehler, nicht auszusprechen, was man empfand und damit war es dringend nötig, endlich darüber zu reden.
*****
Der Hunger trieb Marius in die Küche, in der Marc sich gerade etwas brutzelte. Es roch nach Pilzen und ließ Marius das Wasser im Munde zusammenlaufen. Wieder einmal ertappte er sich dabei zu denken, wie unlogisch es war, dass jeder für sich kochte und wie viel Energie, Arbeit und Aufwand sie sparen könnten, wenn sie alle zusammen das Essen machen würden. Er fragte Marc, ob man seine Portion verlängern könnte, damit es auch für ihn und Lena noch reiche, und sein Mitbewohner hatte nichts dagegen, sondern war sogar froh über die Gesellschaft.
„Dann gib mir doch die restlichen Champignons noch mal aus dem Kühlschrank, dann haue ich die auch noch in die Pfanne, und du kannst noch 'nen Salat dazumachen, dann passt das schon.“
„Du haust wohl gerne mal jemanden in die Pfanne oder wie?“
„Klar, es ist doch immer wieder ein tolles Gefühl, einem Champion zu zeigen, wo der Hammer hängt.“, scherzte Marc.
„Also ich glaube, wenn du die Pilze mit dem Hammer bearbeitest, koche ich doch lieber selbst.“
Lachend öffnete Marius den Kühlschrank und verstummte augenblicklich als ihm ein Schwall Wasser vor die Füße plätscherte. Er guckte verdutzt ins Innere und wurde Zeuge einer mittelgroßen Überschwemmung. Wortlos reichte er Marc die Schale mit den Pilzen und fragte dann irritiert: „Was ist denn hier passiert?“
Der Angesprochene zuckte nur mit den Schultern und erklärte, das Wasser sei vorhin auch schon da gewesen, vermutlich habe wohl jemand auf den Knopf fürs automatische Abtauen gedrückt. Marius schenkte sich jeglichen Kommentar, denn es war sowieso zwecklos und griff selbst zu einem Handtuch, um die Schweinerei aufzuwischen. Es wäre ja auch eine zu schöne Illusion gewesen, dass sich auch nur ein einziges Mal jemand anderes als er um die lästigen Dinge im Haushalt kümmern würde.
Gerade als er mit dem Aufwischen fertig war und auch den umgekippten Gemüsesaft entsorgt hatte, der durch alle Etagen gelaufen war, platzte Yasmin in die Küche und wuselte aufgeregt umher.
„Hat eigentlich wer meinen Autoschlüssel gesehen?“
„Ich glaube, der lag im Flur auf der Kommode.“
„Wie kommt der da denn hin? Ich lege den da nie hin! Habt ihr ihn dahingelegt?“
„Wieso sollten wir?“
Sie rannte wieder raus und rief dann aufgeregt: „Ja, irgendwer muss den doch dahingelegt haben, ich bestimmt nicht, und außerdem ist er da nicht.“
„Dann kann ich dir auch nicht helfen, nun dreh doch nicht gleich am Rad...“
„Im Bad? Wieso im Bad? Was soll mein Schlüssel denn im Bad?“
Bevor Marius oder Marc reagieren konnten, hetzte Yasmin eilig davon. Wenige Minuten später kam sie wieder, ihre Suche war offenbar erfolglos und sie durchstöberte nun alle Schubladen in der Küche.
„Da hat übrigens schon wieder jemand den Klodeckel nicht runtergeklappt, wie oft soll ich denn noch sagen, dass ich das eklig finde?“
Mit einem Grinsen vermutete Marc, es könne ja vielleicht ihr Schlüssel gewesen sein, und nach dem Toilettengang habe er sich versehentlich runtergespült und hatte den Deckel deshalb nicht mehr runterklappen können.
„Sehr witzig!“
Als wenn sie nach dem letzten Strohhalm zu greifen versuchte, sah Yasmin jetzt auch im Kühlschrank nach und stellte dann erstaunt fest: „Oh, das Wasser ist ja weg.“
Jetzt musste Marius sich arg zusammenreißen, um nicht zu explodieren. Kümmerte sich hier denn jeder nur um seine Sachen? Und was würde eigentlich passieren, wenn das Haus mal abbrannte? Würden dann alle seine Mitbewohner davorstehen und streiten, wer denn jetzt die Feuerwehr zu rufen hatte?
*****
In der Schule lief an diesem Tag nichts wie es laufen sollte. Zuerst hatten sie in der ersten Stunde ein Diktat geschrieben, für das Lena vergessen hatte zu üben, und darum wusste sie schon jetzt, dass sie ganz viele Fehler hatte. Später im Sportunterricht sollten sie alle über den hohen Kasten springen und als Lena es nicht schaffte, hatte der blöde Christian wieder dumme Sprüche gemacht, und in Sachkunde hatte Frau Lehmann sie dann auch noch ausgelacht, weil sie behauptet hatte, der Fluss, der durch Osnabrück fließt, würde Tschaikowsky heißen.
Jetzt trottete sie schlechtgelaunt nach Hause und kickte immer wieder eine leere Dose vor sich her. Darum sah sie auch ihren Mitschüler Christian nicht, der plötzlich um eine Ecke bog und sie dabei fast umrannte.
„Pass doch auf wo du hinrennst, du dumme Kuh“, raunzte er sie an und schubste sie grob zur Seite. Das hatte Lena gerade noch gefehlt. Sie wusste, dass Christian ohnehin schon wütend auf sie war, weil sie ihm mal zwischen die Beine getreten hatte, und jetzt musste er ihr ausgerechnet nach so einem bescheuerten Tag über den Weg laufen.
„Haste etwa keine Augen im Kopf du asoziale Ziege?“, stichelte er weiter.
„Doch hab’ ich, aber sowas blödes wie dich gucke ich mir gar nicht erst an.“
Noch einmal schubste Christian sie, und er ärgerte sie auch weiter und behauptete, sie sei asozial. Lena versuchte sich zu wehren, auch wenn sie wusste, dass er stärker war, und sie hatte wirklich Angst vor ihm.
„Ich bin nicht asozial, du bist selber asozial!“
Sie versuchte wieder, ihn zu treten, obwohl ihr Papa ihr das verboten hatte, aber diesmal wich der Junge aus und schlug ihr dann vor die Brust. Lena schlug zurück, traf aber nicht richtig, und sie musste außerdem mit den Tränen kämpfen, die in ihr aufstiegen.
„Heul doch!“, schrie Christian vergnügt, „Du bist doch total asozial und auch noch impotent!“
Lena hatte keine Ahnung, was das hieß, doch er schien mächtig stolz auf das Wort zu sein, und darum musste es wohl etwas ganz schlimmes bedeuten. Sie versuchte abermals, ihn wegzustoßen, doch er war viel stärker als sie, zog sie jetzt in den Haaren und ließ all seine Wut an ihr aus. Bald gelang es Lena nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten, und dann verlor sie auch noch das Gleichgewicht und fiel auf den Gehweg. Das alles hielt Christian nicht ab, sondern stachelte ihn nur noch mehr an, er lachte und dachte gar nicht daran, aufzuhören.
Gerade als er sich auf das am Boden liegende Mädchen stürzen wollte, riss ihn ein Ruck am Kragen plötzlich zurück und er sah sich erstaunt um. Lena erkannte Felix, der Christian zurückgezogen hatte und ihn jetzt grob an seinem Pullover festhielt.
„Hat dir eigentlich mal jemand beigebracht, dass es asozial ist, kleine Mädchen zu schlagen und dass das nur impotente Aschlöcher machen?“, fauchte er Lenas Klassenkamerad an, worauf der richtig Angst zu bekommen schien.
„Wenn du sie noch einmal anfasst, bekommst du es mit mir zu tun, ist das klar?“
Verschüchtert nickte Christian, und als Felix ihn losließ, rannte er schnellstmöglich um die nächste Ecke. Lena war inzwischen wieder aufgestanden und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ausgerechnet Felix, der sie sonst auch nur geärgert hatte, half ihr jetzt aus der Patsche, das konnte sie auf die Schnelle noch nicht unter einen Hut bringen. Und nun zwinkerte Felix ihr auch noch verschwörerisch zu und fragte, ob sie sich wehgetan hatte. Kopfschüttelnd hob sie ihre Schultasche auf und guckte Felix skeptisch an. Vielleicht war er ja doch nicht ganz so blöd wie die Jungs in ihrem Alter. Marc, Tobi und Julian waren ja schließlich auch Jungs und trotzdem nicht blöd. Offenbar gab sich das mit der Blödheit bei Jungs im Laufe der Zeit. Jedenfalls hatte Felix sie gerettet und war gar nicht mehr sauer auf sie, obwohl sie auch ihn getreten hatte, und wie er Christian angeschnauzt hatte, das war sogar richtig cool gewesen.
Nachdem sie zuhause angekommen war und sich von Felix verabschiedet hatte, stürmte sie ins Haus, weil sie das alles erst einmal jemandem erzählen musste. Tobi war der einzige, der da war, aber er hatte Zeit für sie und hörte ihr zu. Er beruhigte sie sogar, dass ein verpatztes Diktat nicht schlimm sei, dann würde sie es eben beim nächsten wieder besser machen, und über den hohen Kasten sei er als Junge auch nie rübergekommen und habe das ganze Ding sogar einmal umgerissen, worauf dann auch alle gelacht hätten. Zu der Sache mit Felix sagte er nur, er würde es gut finden, wenn sie sich nicht mehr mit ihm streiten würden, und vielleicht habe Felix ja auch endlich eingesehen, dass es asozial war, ein kleines Mädchen zu ärgern.
„Du, Tobi“, fragte Lena nach einer kurzen Pause, „was heißt denn eigentlich impotent?“
„Ähm... also“, druckste Tobi herum, „denk mal an dein Mikadospiel... und dann stell dir vor, du tauschst die Holzstäbchen gegen weichgekochte Spaghetti aus...“
*****
Im Grunde hatte Julian gar keine Lust mehr gehabt, zur Geburtstagsparty seines Arbeitskollegen zu gehen, denn er hatte kurz zuvor mit Yasmin über die Wiederaufnahme ihrer Beziehung gesprochen, wobei sie ihn vertröstet, hingehalten oder einfach nur gedemütigt hatte. Jedenfalls hatte sie gesagt, sie wisse noch nicht genau, ob sie es auf einen weiteren Versuch ankommen lassen wolle, und nun war Julian deprimiert und betrachtete das Geschehen um sich herum wie durch einen Schleier. Die Gespräche waren oberflächlich, die Leute gewöhnlich, und die Stimmung stieg proportional zum Alkoholpegel.
Und dann stand sie plötzlich vor ihm.
„Hallo Julian“, sagte sie leise und setzte sich zu ihm, „na das ist ja 'ne Überraschung.“
Ja, das war es in der Tat. Seit Jahren hatte er Katharina nicht mehr gesehen, und hier hatte er am wenigsten damit gerechnet. Schnell war geklärt, dass er den Gastgeber durch seinen Job und sie ihn durch ihre ehemalige Mitbewohnerin kannte, und dann dauerte es nicht lange bis man über alte Zeiten redete. Es fing an mit Fragen, was denn dieser und jener jetzt mache und mündete bald in nostalgische Erinnerungen an gemeinsame Klassenfahrten und Abifeten. Julian hatte sie seit dem Abi nicht mehr gesehen, weil sie schon wenig später eine Studienplatz in Bielefeld bekommen hatte und weggezogen war, und auch er hatte natürlich anderes im Kopf gehabt. Doch jetzt redeten sie über die alten Zeiten als sei es gerade gestern gewesen.
„Weißt du noch... die Party auf der ich mit meinem Freund Schluss gemacht und mich dann den ganzen Abend bei dir ausgeheult hatte?“
Nur zu gut konnte er sich an den Abend erinnern, denn sie hatte die ganze Nacht in seinen Armen gelegen und ihm all ihre Probleme anvertraut und er hatte ihr geraten, ihrem Freund noch eine Chance zu geben, während er immer wieder bemerkt hatte, wie hübsch sie eigentlich war.
„Ja ich kann mich erinnern. Genau wie an die Geburtstagsparty von ich weiß nicht mehr wem als ich so depri war und du mich dann total betrunken nach Hause gebracht hast.“
„Stimmt, du hast dich total zugekippt und mir nicht mal verraten, wieso du überhaupt scheiße drauf warst.“
Aus gutem Grund.
Ob der Erinnerung setzte Katharina ein Lächeln auf, an dem er sich schon damals nicht hatte satt sehen können. Aber es war nicht nur ihr Lächeln gewesen, ihre ganze Art hatte ihn damals fasziniert und in ihren Bann gezogen. Auch jetzt noch waren die Gespräche mit ihr, so oberflächlich sie eigentlich waren, auf eine merkwürdige Weise etwas Besonderes und ihre Ausstrahlung hatte immer noch eine Wirkung auf ihn. Die Langeweile und sein Frust waren jetzt vollkommen verflogen und selbst das Bier, sie konnte es immer noch nicht aus der Flasche trinken, ohne sich zu verschlucken, schmeckte jetzt besser.
„Am schönsten fand ich ja die Jahrgangsfahrt nach Italien, besonders den Abend als wir in dieser Kirche standen und uns ganz ehrfurchtsvoll den Sonnenuntergang durch die bemalten Fenster angesehen haben. Hilfe, war das kitschig, wenn man darüber nachdenkt.“
Das war es sicherlich, aber dort in dieser imposanten, uralten Kirche als das Licht durch die bunten Scheiben eingefallen war, hatte er es als Augenblick vollkommenen Glücks empfunden und den dringenden Wunsch verspürt, Katharina einfach so zu küssen. Aber er hatte es nicht getan, genau wie zu unzähligen anderen Begebenheiten, weil er sich im letzten Moment immer gefragt hatte, was danach passieren würde. War es Angst oder Vernunft gewesen, er wusste es nicht. Aber er würde auch nie erfahren, wie sie denn reagiert hätte. Er musste sich jetzt mit schönen Erinnerungen zufrieden geben, die, wenn er mehr Mut aufgebracht hätte, vielleicht noch schöner oder aber peinlich geworden wären. Es war müßig, jetzt noch über vergangenes nachzugrübeln. Stattdessen führte er lieber sein Gespräch mit Katharina fort, fast wie damals, über Gott und die Welt, ohne die Unterhaltung zum Smalltalk verkommen zu lassen oder durch unangemessenes Philosophieren zu langweilen. Sie saßen einfach nur da und redeten, während die anderen Gäste langsam entweder vom Schlaf oder vom Alkohol übermannt wurden und sich auf den Heimweg machten.
Als schließlich der Gastgeber anfing, aufzuräumen, sahen beide gleichzeitig auf die Uhr, verabschiedeten sich, und Julian brachte Katharina noch bis nach Hause.
Vor ihrer Tür angekommen, wusste er für einen Augenblick nicht, wie er sich von ihr verabschieden sollte, doch als sie ihn dann in die Arme schlang, erwiderte er die Umarmung, die ihn heute wesentlich leichter fiel als vor einigen Jahren.
„Danke, Julian, es war ein echt schöner Abend mit dir.“
„Ja, mit dir auch.“
Dann drehte sie sich um, doch bevor sie den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte, zögerte sie noch einmal und sagte: „Julian... weißt du überhaupt, dass ich mir nie verzeihen konnte, dass ich dir nie gesagt habe, wie verknallt ich damals in dich war?“
Aber bevor er ihr eine Antwort darauf geben konnte, hatte sie die Tür aufgeschlossen und war im Dunkel des Hausflurs verschwunden.
*****
Lange hatte Ramona nach einem Vorwand gesucht, um zu Marius rübergehen zu können, ihr war aber nichts vernünftiges eingefallen und darum entschied sie sich, es auf die plumpe Tour zu versuchen. In aller Eile notierte sie etwas auf einen Zettel, rief Tobi kurz auf seinem Handy an, um festzustellen, dass er nicht zuhause war, dann ging sie zum Nachbarhaus und klingelte. Nach nur wenigen Sekunden öffnete Marius ihr und nahm ihr dann ihre Ausrede ab, sie wolle Tobias ein Rezept vorbeibringen, nach dem er sie neulich gefragt habe. Natürlich ging es ihr nicht um das Rezept, nur konnte sie ihrem Nachbarn ja schlecht sagen, dass sie ihn aushorchen wollte, weil alle anderen beschlossen hatten, es würde am wenigsten auffallen, wenn sie das täte.
„Gut, dann gebe ich dir den Zettel, und dann muss ich leider auch weiter“, spielte sie ihre Rolle, „Frau Künzel, die unter uns wohnt ist letzte Woche achtzig geworden, und da wollte ich noch einen Blumenstrauß besorgen.“
Schneller als gedacht biss Marius an und setzte einen bemitleidenswerten Blick auf als er erwähnte, dass auch er ja bald nullen würde und deshalb schon kurz vor eine Midlifecrisis stand. Ramona griff den Faden dankbar auf, witzelte, er sei doch im Gegensatz zu ihr ein junger Hüpfer, und er solle sich nicht anstellen.
„Vielleicht hast du Recht“, warf er ein, „und trotzdem ist es ein komisches Gefühl, dreißig zu werden, weil du jetzt die Gewissheit hast, dass deine Jugend endgültig vorbei ist und weil du glaubst, dass du endlich erwachsen geworden sein müsstest.“
„Ich verstehe gut, was du meinst. Mir geht es ja heute noch manchmal so, dass ich glaube, ich bin meinem Alter noch gar nicht gewachsen und möchte vieles noch einmal ruhiger und überlegter angehen lassen.“
Er stimmte ihr zu. Lange habe er versucht, seine Tätigkeit als DJ, ein berufliches Fortkommen und seine Ehe unter einen Hut zu bekommen, resümierte er, und jetzt habe er alles in den Sand gesetzt. Einerseits habe er das Gefühl, viele Entscheidungen in der Vergangenheit übereilt getroffen zu haben, andererseits fühlte er sich noch nicht reif genug, um spießig zu werden. Beim Wort spießig horchte Ramona auf und beschwerte sich gespielt gekränkt über seine offenbare Meinung, alle Menschen über dreißig seien spießig.
„Okay, Ausnahmen bestätigen die Regel.“
„Das will ich aber auch meinen. Sag mal... feierst du denn groß?“
Sie versuchte, die Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen und als Marius antwortete, ohne Verdacht zu schöpfen, beglückwünschte sie sich, weil es einfacher gewesen war als sie sich das Aushorchen vorgestellt hatte.
„Was heißt schon groß? Ich habe ein paar Leute eingeladen, Familie, Freunde, aber nichts Besonderes. Du bist natürlich auch herzlich eingeladen.“
„Danke, ich komme gerne rüber, wann wolltest du denn?“
„Ich denke direkt an meinem Geburtstag abends dann.“
Das war nicht die Antwort, die Ramona hatte hören wollen, denn sein Geburtstag fiel auf einen Dienstag. Die Auflage des Clubbesitzer war aber, was auch logisch war, dass die Party an einem Samstag steigen sollte, und da wäre es praktischer, wenn Marius von vornherein am Wochenende einlud.
„Och schade“, sie versuchte immer noch beiläufig zu klingen, oder zumindest aber nicht als wenn sie ihm etwas einreden wollte, „in der Woche sind Geburtstagsfeiern doch immer recht kurz, ich dachte, du feierst vielleicht am Wochenende, das wäre doch lustiger, oder nicht?“
Marius lachte kurz auf und raunte ihr dann verschwörerisch zu: „Darum feiere ich ja in der Woche. Weil ich genau weiß, dass ich an dem Tag richtig depressiv sein werde und hoffe, dass alles schnell vorbei ist.“
„Na ja, du musst es wissen, aber schließlich wird man nur einmal im Leben dreißig, und ich kann mich nicht erinnern, dass du dir früher die Gelegenheit hättest entgehen lassen, eine tolle Party zu geben.“
„Sag mal, was wollt ihr eigentlich alle von mir? Yasmin hat mich gestern auch schon gefragt, warum ich denn unbedingt in der Woche feiern will.“
Ups, hoffentlich schöpfte er nicht doch noch Verdacht. Immerhin war das tolle an einer Überraschungsparty, dass die Party eine Überraschung war. Selbstverständlich würden sie ihm an seinem Geburtstag verraten, was auf ihn zukam, damit er Zeit hatte, sich ein Set zurechtzulegen, nur wäre es eben alles leichter, wenn man bis dahin alles unter Dach und Fach hatte.
„Siehst du“, redete sie sich heraus, „es sind eben auch noch andere der Meinung, dass du für eine Feier in der Woche noch zu jung bist.“
„Okay, vielleicht steigere ich mich wirklich zu sehr in diese Zahl oder diese magische Grenze oder was auch immer rein.“
„Genau das denke ich. Wer sich alt fühlt, altert auch schneller.“
„Na gut, dann lade ich dich hiermit für den Samstag nach meinem Geburtstag zu einer nicht depressiven Party ein.“
Das wäre geschafft. Ramona bedankte sich und setzte in Gedanken hinzu, dass die Party sogar ganz sicher nicht depressiv werden würde.
*****
Nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Kühlschrank keineswegs unabsichtlich abgetaut, sondern im Eimer war, hatten sie einen Techniker gerufen, der eventuell retten sollte, was zu retten ist. Natürlich hatte dieser versprochen, sofort zu kommen, aber das war vor drei Tagen gewesen. Und dann hatte er ausgerechnet heute wieder angerufen, er würde in zwei Stunden bei ihnen vorbeischauen und alles in Ordnung bringen. Yasmin hätte sich wahrlich schöneres vorstellen können an ihrem freien Tag als nutzlos herumzusitzen und auf den guten Mann mit den ungenauen Zeitangaben zu warten. Aber Kira und Tobi waren losgefahren, um die Flyer in die Druckerei zu bringen, Julian und Marius mussten arbeiten und Marc hatte sich heute morgen noch nicht blicken lassen und wohl eine anstrengende Nacht verbracht. Die zwei Stunden waren natürlich auch längst verstrichen, doch wenn es jeden Augenblick klingeln konnte, machte Yasmin natürlich auch nichts anderes, denn sobald sie sich an etwas anderes setzen würde, würde ihr Besucher wahrscheinlich wie auf Kommando vor der Tür stehen.
Endlich schlurfte wenigstens Marc in die Küche, verschlafen, zerzaust und abgekämpft aussehend. Sie stichelte, er solle sich doch lieber Frauen aussuchen, die nicht so kraftraubend waren, er ignorierte sie geflissentlich und goss sich ein Glas Milch ein.
„Igitt, die ist ja sauer!“
„Kein Wunder“, gab Yasmin gereizt zurück, „der Kühlschrank ist ja auch seit Tagen kaputt.“
Dann erklärte sie ihm, dass gleich jemand vorbeikommen würde, der sich darum kümmern wollte und bat ihn, doch bitte auf den Mann zu warten, denn sie müsse leider ganz dringend weg. Bevor Marc sie reagieren und sie aufhalten konnte, und das dauerte heute etwas länger als gewöhnlich, war sie zur Tür hinaus und damit verschwunden. Na schön, dann würde er eben auf diesen Mechaniker oder Installateur oder was auch immer warten, es gab schließlich schlimmeres. Wenigstens schenkte Lena, die gerade von der Schule kam, ihm jetzt Gesellschaft, aber nur, erpresste sie ihn, wenn er ihr dafür Spaghetti kochen würde.
„Gut, aber zuerst muss ich mal duschen, um richtig wach zu werden. Du kannst ja schon mal den Topf und die Nudeln zusammensuchen, ich bin gleich wieder da.“
Ergeben nickte Lena, unterdrückte das Knurren ihres Magens und machte sich dann daran, Wasser in den Topf zu füllen, die Spaghetti hineinzutun und den Herd anzuschalten. Sie hatte mächtigen Hunger, und wenn sie Marc half, würde sie vielleicht schneller etwas zu essen bekommen.
Genau in diesem Moment klingelte es an der Tür und als Lena aufmachte, stand ein Mann mit einem sehr großen Karton davor.
„Hallo, Kleine“, ächzte er unter seiner Last, „das ist euer neuer Kühlschrank. Zeig mir doch mal bitte die Küche.“
Lena ging voraus und schaute dann fasziniert zu, wie der Mann aus der großen Kiste einen ebenso großen Kühlschrank herausholte und in die Ecke wuchtete. Er wollte wissen, wo denn der alte Kühlschrank sei, und als Lena es ihm zeigte, murmelte er: „Ach, eingebaut ist das gute Stück... na, dann müssen wir doch mal sehen, was man da machen kann.“
Daraufhin wuchtete er den alten aus dem Schrank und den neuen stattdessen hinein, was leider nicht einfach war, denn der alte Kühlschrank war ein wenig kleiner als der neue.
„Egal“, kommentierte er, „was nicht passt, wird passen gemacht.“
Lena beobachtete fasziniert sein Tun, wunderte sich etwas und hoffte, Marc würde gleich mit Duschen fertig sein, denn sie wusste nicht, ob das alles richtig war, was der Mann da machte. Die Spaghetti hatte sie inzwischen völlig vergessen.
*****
Als Yasmin von ihrer Shoppingtour zurückkam, traf sie fast der Schlag. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld und Marc und Lena standen hilflos mittendrin. Offenbar war der neue Kühlschrank geliefert worden, nur leider passte er nicht richtig in den dafür vorgesehenen Schrank. Kurzerhand war deshalb die Schranktür abmontiert worden, genau wie die Abdeckung des Gerätes und beides stand jetzt in einer Wasserlache, die vom übergekochten Spaghettiwasser herrührte. Auch wenn es nicht mehr nötig war, da sich alles von selbst erklärte, beschrieben ihr Lena und Marc wie es zu dem Chaos gekommen war und wischten dann weiter mit Taschentüchern den Boden auf.
„Hat der Kühlschrankmensch den Wischmopp auch mitgenommen oder was macht ihr da?“
„Wo haben wir denn einen Wischmopp?“, fragte Marc, der nicht an Hausarbeit gewöhnt war, leicht irritiert.
Männer waren doch wirklich zu nichts zu gebrauchen! Aber sie mussten mit der Katastrophe fertig werden, bevor Marius von der Arbeit kam, denn sonst würde es Zoff geben.
„Also gut“, entschied Yasmin rigoros, „Lena, du holst den Wischmopp, Marc du einen Eimer, und dann müssen wir die Sauerei hier in den Griff bekommen.“
Marc nickte und machte sich auf den Weg, während Lena protestierte: „Ich hab’ aber Hunger.“
„Na gut, Planänderung: du rufst beim Pizzadienst an und bestellst dreimal Spaghetti, und Marc und ich werden uns um die Schweinerei kümmern.“
Wenn sie gewusst hätte, dass sie ihren freien Tag mit Aufräumen verbringen würde, wäre sie noch länger in der Stadt geblieben. Sie hatte sich extra beeilt, weil sie schon eine Vorahnung gehabt hatte, und jetzt hatte es sich mal wieder bestätigt, dass man Männer einfach nicht alleine lassen konnte.
Als Marc mit dem Eimer zurückkam, machte sie ihrem Ärger Luft und fauchte ihn an: „Ihr habt ein Gehirn und einen Schwanz, aber leider nur genug Blut um eines davon ausreichend zu versorgen!“
„Hey, was hätte ich denn machen sollen, ich war unter der Dusche...“
„Ja ja, und als Gott die Intelligenz verteilte, warst du gerade auf dem Klo.“
Wie meistens ignorierte er ihre Sprüche, was sie natürlich noch mehr zum Kochen brachte, und fing wortlos an, den Boden zu wischen. Dass er sich dabei ungeschickt anstellte, kam ihr gerade recht und gab ihr neuen Zündstoff für ihren Wutausbruch.
„Weißt du, was der Unterschied zwischen dem Yeti und einem intelligenten Mann ist?“
„Ja, ich weiß“, antwortete er, ironisch lächelnd, „den Yeti soll schon mal jemand gesehen haben. Aber ich schätze mal, es gibt ihn genauso wenig wie eine Frau, die nicht alles stehen und liegen lässt, wenn sie die Möglichkeit hat, sich neue Schuhe zu kaufen.“
Dabei warf er einen Seitenblick auf ihre Einkaufstüte, was Yasmin fast rasend machte. War es vielleicht ihre Schuld, dass er unfähig war? Sie hatte schließlich nicht ahnen können, dass er die ganze Verantwortung auf ein siebenjähriges Mädchen abwälzen und sich verdrücken würde.
„Kümmere du dich um deinen Scheiß“, riet sie ihm drohend, „und lass mich meine Sachen machen, denn ich kann Spaghetti kochen, ohne dass es hinterher nach Krieg aussieht.“
„Hui, jetzt weiß ich endlich, woher der Spruch kommt, Frauen seien wie Handschellen...“
„Was ist los?“
„Na, du siehst es doch... immer gleich eingeschnappt.“
„Dafür sind Männer wie Bierflaschen. Vom Hals an aufwärts sind beide leer.“
Ihn schien das alles nur zu amüsieren, und das machte sie richtig sauer. Das hier war bestimmt kein Rumschäkern, denn sie meinte es bitterernst. Wenn jemand ein Kind mit einem großen Topf voller kochender Spaghetti alleine ließ, sollte er sich hinterher nicht über die Konsequenzen wundern. Klar, er hatte sich von Anfang an mit dem blöden Karnickel bei Lena und auch bei Marius eingeschleimt, aber wenn es darauf ankam, dachte er natürlich lieber erst an seine Körperpflege als an alles andere. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was alles hätte passieren können.
„Boah, du bist echt einzigartig“, warf sie ihm vor Wut schäumend an den Kopf, „zumindest hoffe ich das für die Menschheit! Es müsst so eine Maschine geben, in die Du Deinen Kopf reinsteckst, die dann Deine Gedanken analysiert, und die Dir dann sagt, was Du tun sollst. Bei dir würde unten wahrscheinlich ein Zettelchen rauskommen, auf dem draufsteht `Syntax Error`.“
Ruhig weiter den Boden aufwischend, ließ Marc ihre Anfeindungen ins Leere laufen, und als sie schließlich eine Pause machte, um Luft zu holen, meinte er trocken: „Wie kommt es eigentlich, dass du so süß bist, wenn du dich aufregst?“
„Ich hab deinen Anteil noch dazubekommen.“
Obwohl sie ihrer Meinung nach schlagfertig reagiert hatte, irritierte sie seine Frage und warf sie ein bisschen aus der Bahn. Wie kam er dazu, ihr ausgerechnet jetzt Komplimente zu machen? Ausgerechnet er.
„Ich glaube“, fuhr er fort, „ich hätte dich gerne früher kennen gelernt.“
Yasmin sah ihn ratlos an und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wie meinte er denn das jetzt?
„Das wäre bestimmt richtig nett gewesen. Also ich meine, bevor du sprechen konntest, warst du bestimmt ganz verträglich.“
„Allerdings war ich das, aber dann lernte ich die Männer kennen und wurde fortan nur enttäuscht“, konterte sie, „Aber dafür haben deine Eltern dir früher bestimmt ein Kotelett umgehängt, damit wenigstens der Hund mit dir spielte.“
„Nein, es war eine Würstchenkette, aber keine Sorge, eins hat er übriggelassen.“
Die Augen zur Decke verdrehend, gab Yasmin auf und zog es vor, den Rest der Arbeit schweigend zu erledigen, ohne dabei Marc auch nur noch eines einzigen Blickes zu würdigen.
*****
Voller Vorfreude fuhr Tobi zur Druckerei, um die Flyer und Plakate abzuholen. Seine Stimmung hätte überragend sein müssen, sie war es aber nicht. Er war schlecht gelaunt und irgendwie melancholisch. Und er kannte sogar den Grund für seine schlechte Laune, denn der wohnte mit ihm unter einem Dach und ging ihm seit Tagen, ach was, seit Wochen aus dem Weg. Vielleicht hätte er Yasmin gar nicht sagen sollen, was er für sie empfand, dann wäre zumindest ihr Umgang mit ihm wesentlich unkomplizierter gewesen. Dafür war es nun leider zu spät, er hatte ihr seine Liebe gestanden, und sie hatte es vorgezogen, ihm keinen direkten Korb zu geben, sondern sich zurückzuziehen und zu tun als wäre das nie passiert. Lange hatte er überlegt, wie er sie am besten fragen könne, was jetzt werden sollte, doch er wollte sie nicht festnageln, wollte ihr keinesfalls das Gefühl geben, sie zu bedrängen. Die beste Taktik war abzuwarten, sich ganz normal zu verhalten und auf den richtigen Augenblick zu warten, wenn sie das Gespräch suchte oder zumindest empfänglich dafür war.
Er hatte auch schon versucht, sie sich aus dem Kopf zu schlagen, leider ohne Erfolg. Wie konnte man auch über eine Frau hinwegkommen, die einem jeden Tag über den Weg lief, und bei der man von jeder Geste, jedem Wort, jedem Lächeln sofort wieder in Flammen stand? Wie sollte sich ein Typ wie er gegen diese engelsgleiche Gestalt wehren? Gut, vielleicht war engelsgleich nicht ganz der passende Ausdruck, denn immerhin konnte sie auch sehr teuflische Züge an den Tag legen. Amazone passte viel besser zu ihr. Die waren doch auch kriegerisch, unerreichbar für einen Mann und zugleich unglaublich begehrenswert. Oder hielten es die Amazonen wie die Schwarzen Witwen und töteten ihre Männer, nachdem sie sie nicht mehr gebrauchen konnten? Das würde er bei Yasmin allerdings nur ungern riskieren.
Bis jetzt hing er noch immer an seinem Leben, besonders in Tagen, in denen sich seine große Karriere als Partyveranstalter ankündigte. Während er sich das druckfrische Material aushändigen ließ und es dann bei Kira im Studio zwischenlagerte, hing er seinen Tagträumen nach. Am Anfang stand der 'Dance on Volcano', der selbstverständlich ein Riesenerfolg werden würde, und dann würden wie von selbst andere Veranstalter an ihn herantreten, um ihn zu bitten, ihre Veranstaltungen zu inszenieren. Vielleicht würde es mit der Maiwoche oder ähnlichem anfangen, aber schon bald darauf würde er sich einen Namen gemacht haben und in die Fußstapfen von Fritz Rau treten. Große Festivals von der Güte des 'Hurricane' oder 'Rock am Ring' würde er organisieren, die Massen begeistern und mit Künstlern der ersten Garde zusammenarbeiten. Linkin Park, Placebo, Blur, sie alle würden sich darum reißen, dass er ihre Tourneen organisierte, Dave Gahan, Nick Cave und Jon Bon Jovi würden seine besten Freunde sein, und er würde es sich auf seiner eigenen Insel in der Karibik gemütlich machen. Oder besser noch ein Haus am Strand von Venice Beach, das war trendiger und für die Wintermonate eine Farm in Arizone, auf der er in aller Ruhe entspannen und neue Konzepte entwickeln konnte. Die Rolling Stones in irgendeiner großen Höhle mit atemberaubender Akustik, ein Friedenskonzert auf einem amerikanischen Flugzeugträger im Pazifik, das gleichzeitig in alle Länder der Erde übertragen wird, und natürlich das Revival von 'Dance on Volcano' direkt auf der Spitze des Vesuvs.
Und wenn er erst reich und berühmt wäre, würde sich auch Yasmin um ihn reißen, würde zutiefst bereuen, dass sie ihn früher einmal verschmäht hatte und sich ihm sozusagen vor die Füße werfen. Allerdings wusste er jetzt noch nicht genau, ob er sie dann nicht zugunsten von Jennifer Lopez sitzen lassen würde.
*****
In der Nacht hatte Kira wieder einen ihrer wiederkehrenden Alpträume gehabt und war schweißgebadet aufgewacht. Das hatte dazu geführt, dass sie sich den ganzen Tag über auf nichts richtig konzentrieren konnte und immerzu abgelenkt war, was beim Tätowieren nicht gerade förderlich war. Inzwischen war es Abend, und die Gedanken an den Traum verfolgten sie noch immer. War es ein Traum oder doch eine Erinnerung? Vermutlich eine Mischung aus beidem, nur leider wusste sie nicht, wie sie es loswerden konnte.
Der erste Schritt war, das hatte auch ihr Therapeut damals immer gesagt, möglichst offen mit einem vertrauten Menschen über alles zu sprechen. Sie wusste genau, es würde ihr schwer fallen, Marius gewisse Dinge zu erzählen, aber alleine kam sie inzwischen nicht mehr damit klar. Und sie hoffte, Marius würde ihr zuhören, Verständnis für sie haben und ihr helfen können. Sicher war es verdammt viel verlangt, aber es war der einzige Strohhalm, an den sie sich im Augenblick klammern konnte.
Sie fand ihren Mitbewohner im Wohnzimmer, zum Glück alleine, und er schien gutgelaunt zu sein, wobei sie noch nicht wusste, ob sie das als gute oder schlechte Voraussetzung werten sollte. Ohne Umschweife setzte sie sich zu ihm und fragte, ob er Zeit zum Reden habe, es gäbe da etwas, was sie mit ihm besprechen wollte. Sie suchte nach einer Art Abwehr in seinen Worten und Gesten, konnte jedoch nichts entdecken. Also begann sie zögerlich: „Weißt du, ich glaube, ich sollte dir erklären, warum ich neulich in Bezug auf Felix so überreagiert habe.“
„Du brauchst mir nichts erklären, wenn du nicht willst“, bremste Marius sie verständnisvoll, „aber wenn du mir etwas erzählen willst, dann raus damit, ich habe ein offenes Ohr.“
„Gut, denn es ging im Grunde nicht um die Sache mit Felix, sondern um etwas, das viel weiter zurückliegt, das ich aber nicht verdrängen kann.“
Damals bei ihrem Therapeuten war es Kira am Ende leicht gefallen, über all die Dinge zu sprechen, die damals passiert waren, sie hatte ihre Geschichte fast automatisch herunterrasseln können, und der Psychologe war letztlich auch der Ansicht gewesen, sie habe die Erlebnisse verarbeitet. Allerdings hatte sie schon damals nicht glauben können, dass man derartige Erinnerungen ein für alle Mal loswerden konnte. Auch jetzt saß ihr wieder ein dicker Kloß im Hals und sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte.
„Es ist jetzt schon an die zwanzig Jahre her“, begann sie stockend und spürte dabei wie ihr Mund trocken wurde, „also genaugenommen hat es sogar schon vor über zwanzig Jahren angefangen.“
Um Marius nicht gleich komplett zu schocken, begann sie vorsichtig von ihrer Kindheit und ihrer Familie zu erzählen, in der es Probleme gab wie in jeder anderen Familie auch. Das Geld war immer knapp gewesen, was bei ihren Eltern oft zu Streitereien geführt hatte, und wie jedes Kind hatte Kira darunter gelitten. Im Grunde begann die Sache aber erst, fuhr sie fort, als ihr Vater arbeitslos wurde und nur noch ihre Mutter für den Lebensunterhalt aufzukommen hatte. Damals hatte Kira nicht verstanden, was in ihrem Vater vorging, erst sehr viel später war ihr bewusst geworden, dass er sich nutzlos gefühlt hatte und dass die Tatsache, von seiner Frau finanziert zu werden an seinem Ego, seinem Stolz, seinen Machoallüren oder woran auch immer gewaltig geknabbert hat. Ihre Mutter war demnach nur selten zuhause, ihr Vater immer, aber auch immer schlecht gelaunt, und das kleine Mädchen musste immer mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen, die ja für einen Mann nicht zuträglich waren.
Das Schrillen der Türklingel riss sie jäh aus ihrer Unterhaltung und unterbrach ihre Erinnerungen. Pflichtbewusst öffnete Marius und bat dann einen Mann herein, der für Kira unsichtbar, unhörbar und vor allem unwillkommen war. Als Marius endlich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war er in Rage geraten und fuhr sich gestresst durch die Haare.
„Das kann doch wohl nicht wahr sein“, polterte er, „dieses... ich meine, dieser nette Mann hat gerade den Kühlschrank wieder abgeholt und mir dann offenbart, dass es noch zwei Wochen dauert, bis der neue geliefert werden kann. Das ist doch echt die Höhe!“
Stumm nickend gestand Kira sich ein, dass jetzt nicht der richtige Augenblick war, um ihr Gespräch fortzuführen. Wie immer, wenn Marius etwas gegen den Strich ging, regte er sich maßlos auf und hatte keinen Platz mehr für andere Gedanken.
„Kannst du mir mal erklären, wie wir zwei Wochen lang ohne Kühlschrank auskommen sollen? Ausgerechnet jetzt, wo es Sommer wird und mein Geburtstag ansteht! Dann hätte er den anderen doch wenigstens hier lassen können, oder nicht? Kannst du mir mal verraten, was das soll?“
Sie konnte es nicht.
*****
Ziellos surfte Julian durch Internet, konnte sich dabei aber auf nichts konzentrieren. In Gedanken war er immer noch beim gestrigen Abend. Warum nur hatte er sich auf diese Tussi eingelassen? Warum hatte er sich in der Disco anbaggern lassen und war dann auch gleich auf sämtliche Annäherungsversuche eingegangen? Und warum musste ihm als er knutschend mit diesem Mädchen, an dessen Namen er sich nicht einmal mehr erinnern konnte, ausgerechnet Yasmin über den Weg laufen? Er hatte doch nur seinen Spaß haben wollen, es hatte ihm geschmeichelt wie distanzlos sie ihn umgarnt hatte, und er war schließlich auch nur ein Mann. Man konnte es wohl als Pech bezeichnen, dass Yasmin auch im Alando gewesen war, und dass sie ihm gerade im richtigen, oder besser gesagt falschen und absolut unpassenden Augenblick über den Weg laufen musste. Aber warum wurde ausgerechnet er gezielt vom Pech verfolgt? Eine Wiederaufnahme ihrer Beziehung konnte er sich vorerst jedenfalls von der Backe streichen.
Mit dem Vorhaben, sich auf andere Gedanken zu bringen, surfte er weiter durchs World Wide Web, versuchte sich bei einigen Onlinespielchen oder klickte sich durch etliche Bildergalerien von Frauen, die leider allesamt nicht mit Yasmin mithalten konnten. Sie war nun einmal die beste, sein Schatzi, einzigartig und für ihn vielleicht für immer verloren. Dabei war er anfangs froh gewesen, aus einer Beziehung entkommen zu sein, die ihn einengte und ihm nicht das gab, was er suchte. Und blöd wie er war, hatte er sich nach der Begegnung mit seiner Ex auch noch die andere durch die Lappen gehen lassen. Wie ein Idiot kam er sich vor, jemand, der nicht wusste, was er wollte und zu blöd war, eigene Entscheidungen zu treffen.
Während er sich in seine Selbstvorwürfe hineinsteigerte, flog plötzlich die Tür auf und Marc stand hinter ihm. Aus einem Reflex heraus schloss Julian erst einmal das Fenster mit den netten Bildern und regte sich dann darüber auf, dass jener nicht vorher angeklopft hatte.
„Ich habe angeklopft“, verteidigte sich sein Mitbewohner, „ aber du warst anscheinend zu beschäftigt, um es zu hören.“
Die Röte stieg Julian ins Gesicht, und um die peinliche Situation zu retten, fragte er: „Was willst du denn eigentlich so dringendes?“
Ohne Umschweife erklärte Marc, dass es Probleme bei seiner Performance in der Tanzschule gäbe, und dass er dringend noch einen männlichen guten Tänzer für den Auftritt brauche. Auf Julians Frage, warum er ausgerechnet ihn bitte, antwortete Marc, er wisse schließlich, dass Julian tanzen könne, und außerdem brauchte er jemanden, der sozusagen das Pendant zu ihm selbst war, und dazu seien die meisten seiner Schüler zu jung.
„Das klingt soweit einleuchtend“, räumte Julian ein, „aber ich dachte trotzdem, seit der Geschichte mit Anna würdest du nicht mehr mit mir reden.“
„Ich will ja auch nicht mit dir reden, sondern lediglich mit dir tanzen. Nein, ich weiß schon, was du meinst...“, er stockte ein wenig, bevor er fortfuhr, „aber ich schätze, es ist an der Zeit, das Kriegsbeil zu begraben. Keine Frau sollte es wert sein, dass wegen ihr eine Freundschaft in die Brüche geht.“
Ein dicker Kloß machte sich in Julians Hals breit. Derart ehrliche Worte hatte er von Marc nicht erwartet, und er wusste, er sog sie sich nicht nur aus den Fingern, weil er jemanden für seinen Auftritt brauchte. Mehrmals musste Julian schlucken, bevor er seine Sprache wiederfand, und selbst dann fehlten ihm noch die Worte.
„Also gut, wann soll ich zur Probe kommen?“
Selbst gegen einen Frosch im Hals ankämpfend, teilte Marc seinem wiedergewonnenen Freund mit, wann sie üben wollten, und er war froh, dass Julian jetzt nicht darauf bestand, ein tiefschürfendes, klärendes Gespräch zu führen. Es war ihm schwer genug gefallen, überhaupt über seinen Schatten zu springen, aber seine Worte waren zutiefst ehrlich gemeint. Nach der Pleite mit seinen ehemaligen Kumpels hatte er begriffen, wie wertvoll Freundschaften waren, und in Bezug auf Julian war ihm klar geworden, dass auch er oftmals sehr leichtfertig damit umgegangen war. Vielleicht gab es nicht viele Menschen, auf die man sich zu jeder Zeit und unter allen Umständen verlassen konnte, aber die Freundschaften, die man hatte, sollte man pflegen.
Im Nachhinein war er froh, die Angelegenheit hinter sich gebracht zu haben, denn er musste zugeben, dass es für ihn kaum etwas schwereres gab als Fehler und Schwächen zuzugeben oder ehrlich zu seinen Gefühlen zu stehen. Marc war froh, dass er in vielem stark war oder wenigstens wirkte, aber er hasste jene Momente, in denen er nicht die absolute Selbstsicherheit ausstrahlen konnte. Das Gefühl, auf andere angewiesen zu sein, war schmerzlich, nur leider schaffte selbst er es nicht auf Dauer, alleine durchs Leben zu kommen. Und langsam begriff er, dass seine Mitbewohner hier im Haus vielleicht mehr als nur das waren, vielleicht mehr als jene Clique aus seiner Schulzeit, von der er gedacht hatte, nichts könne sie trennen.
*****
Schere, Klebstoff, Filzstifte und Papierreste lagen wild verstreut im gesamten Wohnzimmer herum, und inmitten dieser kreativen Wirkungsstätte saß Lena und erklärte Ramona, was sie gebastelt hatte. Vor Stunden war sie herübergekommen, um hier zu basteln, denn ihr Papa durfte ja nicht vorher schon sehen, was er zum Geburtstag bekommen würde. Sie hatte auf einen großen, flachen Karton ein spitzes Dach geklebt, Fenster hineingeschnitten und in jedes dieser Fenster eine Figur gesetzt.
„Das hier ist Papa“, erläuterte sie stolz, „das bin ich, das ist Kira, das ist Marc, das ist Tobi, das ist Yasmin und das ist Julian.“
Bewundernd lobte Ramona jede einzelne Figur, bevor ihr Blick schließlich auf etwas fiel, das nicht wie ein Mensch aussah, von dem sie aber auch nicht wusste, was es sonst darstellen könnte.
„Und was ist das braune Dings hier?“
„Das ist doch Tschaikowsky!“, erklärte Lena erbost, weil man doch das Wesen mit den übergroßen Ohren ihrer Meinung nach leicht als Kaninchen hätte enttarnen können.
Noch einmal lobte Ramona ihr Werk und entschuldigte sich betreten für ihren mangelnden Kunstverstand. Bis auf den leicht misslungenen Hasen war es ja auch echt gut geworden, vor allem, weil Lena ganz alleine auf die Idee gekommen war und jede Hilfe abgelehnt hatte. Mit Sicherheit würde Marius sich über das Miniaturhaus freuen, denn von Kindern gebastelte Geschenke waren immer noch die schönsten. Schade, dass es bei ihr schon länger her war, dass sie von Felix etwas selbstgebasteltes geschenkt bekommen hatte, geschweige denn überhaupt etwas zum Geburtstag bekommen hatte, den er inzwischen regelmäßig vergaß.
„Hoffentlich ist Papa nicht da, wenn ich gleich rübergehe, der darf das ja noch nicht sehen.“
Sie könne das Haus doch hier lassen, bot Ramona ihr an, dann bestehe keine Gefahr, und morgen könne sie es dann noch vor der Schule abholen und es ihm geben. Lena nahm das Angebot begeistert an. Sie verlangte, Ramona solle gut darauf aufpassen und wandte sich zu Gehen.
„Hey, Moment mal“, hielt Ramona das Mädchen zurück, „wie sieht es denn mit Aufräumen aus?“
Bevor Lena nach Ausflüchten suchen konnte, tappte Felix verschlafen in die Küche und besah sich skeptisch das Kunstwerk. Offensichtlich hatte er mal wieder den Nachmittag verschlafen, seine Klamotten waren zerknittert und sein Gesichtsausdruck ebenfalls. Eine Moralpredigt über einen geordneten Tagesablauf wäre vielleicht angebracht, doch da Ramona wusste wie zwecklos es war, behielt sie ihren Kommentar für sich. Stattdessen erzählte sie ihm, wie toll Lena gebastelt hatte, um ihm vielleicht auch noch ein Wort des Lobes zu entlocken.
„Ja, ist toll“, kommentierte er wenig enthusiastisch, „aber war soll der komische Esel da?“
„Das ist kein Esel, du Blödi, das ist Tschaikowsky, das sieht man doch!“, regte Lena sich auf und schüttelte entrüstet den Kopf.
„Aha.“
Sich ein Lächeln verkneifend ermahnte Ramona ihre Nachbarin noch einmal, doch bitte aufzuräumen, denn wenn sie ihr schon half, konnte Lena wenigstens ihre Sachen wieder selbst zusammensuchen. Da Lena sich immer noch sträubte und herausreden wollte, sie müsse aber nach Hause, kramte Ramona den ältesten aber wirksamsten aller pädagogischen Kniffe heraus und drohte: „Entweder, du räumst jetzt auf, oder ich zähle bis drei...!“
Die Wunderwaffe hatte auch nach jahrzehntelanger Abnutzung ihre Wirkung nicht verloren. Während Lena sich der Chaosbeseitigung widmete, warf Felix seiner Mutter ob ihrer Strenge einen bewundernden Blick zu.
„Das hat früher bei dir auch schon immer funktioniert.“, erklärte sie.
„Stimmt, ich erinnere mich, dass du dauernd bis drei gezählt hast, und das ganze in einem Tonfall, der einer griechischen Göttin der Bedrohung alle Ehre gemacht hätte. Aber ich hab überhaupt keine Ahnung mehr, was passierte, wenn du bei drei angekommen warst.“
Ramona zuckte ratlos mit den Schultern, bevor sie zugab: „Genaugenommen habe ich auch nie bis drei gezählt, weil ich immer nur bis zwei gekommen bin. Danach hast du immer genau das gemacht, was ich verlangt habe.“
„Und was wäre passiert, wenn ich es nicht gemacht hätte?“
„Keine Ahnung. Darüber habe ich nie nachgedacht, und einen Plan B hat es nie gegeben“, breitete sie ihre erzieherischen Maßnamen bereitwillig vor ihm aus und lachte dann ein wenig hilflos, „aber ich bin dir heute noch dankbar, dass du es niemals so weit hast kommen lassen.“
*****
Am Morgen von Marius Geburtstag weckte Tobi alle seine Mitbewohner, Lena schlich rüber zu Ramona, um ihr Geschenk abzuholen, Julian und Marc holten die große Torte aus dem Keller, die sie alle zusammen gebacken hatten, und Yasmin und Kira deckten den Tisch, rund um den Flyer zum „Dance on Volcano“. Als alles fertig war, verhielten sie sich ganz still, und Lena weckte ihren Papa und bat ihn, in die Küche zu kommen. Während Marius sich noch verschlafen die Augen rieb, stimmten alle anderen ein Ständchen an und entzündeten die dreißig Kerzen auf der Torte.
Es dauerte einige Minuten bis Marius wach genug war, um zu verstehen, was vor sich ging, doch dann war er tatsächlich ein bisschen gerührt. Lena war die erste, die ihm ihr Geschenk präsentierte, alle anderen behandelten ihn wie einen König, setzten ihn an den Tisch, schenkten ihm Kaffee ein und forderten ihn auf, die Torte anzuschneiden. Dabei fiel der Blick ihres Vermieters und Freundes natürlich auch auf den Flyer, und ein fragender Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Ich verstehe nicht...“, setzte er an.
„Was gibt es da zu verstehen? Am Samstag steigt deine Geburtstagsparty und du wirst dort auflegen.“
„Keine Sorge, deine Gäste wissen alle Bescheid.“
„Wir haben uns gedacht, da du selten genug den DJ rauskehren darfst, sollst du wenigstens an deinem Geburtstag dazu Gelegenheit haben.“
„Es wird deine große Party, dein Event und vielleicht ja auch doch noch dein großer Durchbruch.“
Es war Marius nur allzu deutlich anzusehen, wie sprachlos und überrascht er war. Immer wieder guckte er von einem zum anderen und dann wieder auf den Flyer als könne er es noch immer nicht glauben. Dabei richteten sich alle Augen gespannt auf ihn und warteten auf die Reaktion. In Tobi wie auch den anderen kamen leise Zweifel auf, vielleicht doch nicht genau ins Schwarze getroffen zu haben. Es konnte ja immerhin sein, dass sie sich getäuscht hatten und ihm das Auflegen doch nicht mehr fehlte. Oder er hatte sich damit abgefunden, niemals mehr als DJ aufzutreten und das Geschenk machte ihn eher wehmütig als glücklich. Es entstand ein Augenblick der angespannten, erwartungsvollen Stille.
Endlich hatte Marius seine Sprache wiedergefunden und fragte ungläubig: „Dann heißt das also, dass ich auf meiner eigenen Geburtstagsparty auch noch arbeiten muss?“
Tobi registrierte, dass alle anderen wie auch er selbst zusammenzuckten, doch dann strahlte Marius über das ganze Gesicht, erhob sich und schloss sie alle in die Arme.
„Ich glaube, das ist das beste Geschenk, das ich je bekommen habe“, und mit einem Seitenblick auf Lena fügte er hinzu, „bis auf das tolle Haus natürlich!“
Damit war die Anspannung gebrochen. Seine Freude war echt, sein Geschenk gefiel ihm, die Mühe hatte sich gelohnt. Nach dem ersten Stück Torte, horchte er sie genau aus, wie sie auf die Idee gekommen waren und wie sie diese umgesetzt hatten. Je mehr sie alle erzählten, desto begeisterter wurde Marius, er fand es absolut atemberaubend, dass sie sich alle seinetwegen so sehr ins Zeug gelegt hatten. Ihm war durchaus klar, wie viel Mühe die Planung gekostet haben musste, denn er selbst hatte sich ja früher oft genug um Bookings und andere Dinge kümmern müssen.
Später, als alle anderen schon wieder mit anderem beschäftigt waren und Tobi sich um den Abwasch kümmerte, klopfte er sich gedanklich auf die Schulter. Er konnte stolz auf sich sein, denn er hatte es geschafft. Es war ihm gelungen, seine Idee in die Tat umzusetzen und zu verwirklichen. Und es war ein schönes Gefühl, einmal nicht der Loser zu sein. Selbst Marc hatte es nicht dargestellt als sei er maßgeblich für die Umsetzung verantwortlich, obwohl Tobi genau das befürchtet hatte. Aber das Gegenteil war eingetreten, alle hatten betont, dass es seine Idee gewesen war, und zwar erst nachdem klar war, dass Marius sich über sein Geschenkt freute. Tobis steiler Karriere als Partyveranstalter stand somit nichts mehr im Wege. Andererseits durfte er sich auch nicht zu früh freuen, denn bisher war lediglich der Gastgeber von der Party überzeugt worden, und ob sie ein Erfolg werden würde, zeigte sich erst am Wochenende. Immerhin konnte die Veranstaltung auch jetzt noch zum finanziellen Fiasko für sie alle werden, wenn nämlich die zahlenden Besucher ausblieben und sie am Ende nur mit den Freunden von Marius und einem Berg von Kosten dastanden. Den ersten Schritt hatte er erfolgreich hinter sich gebracht, doch wenn seine Karriere nicht schon den Bach hinuntergehen sollte, bevor sie begonnen hatte, gab es noch viel zu tun.
*****
Wenn man keinen Kühlschrank zur Verfügung hatte, war einkaufen nicht leicht. Normalerweise machte es Julian nichts aus, die Besorgungen zu erledigen, doch jetzt musste er auf Milch, Joghurt, Tiefkühlpizza und alles andere, was sie aufgrund ihres nicht vorhandenen Kühlschrankes nicht lagern konnten, verzichten. Cola, Orangensaft und andere Getränke schmeckte gekühlt sicherlich auch besser, aber um die kam man nicht herum, nur Bier ließ er weg, denn zimmerwarmes Bier war nun echt eklig. Auch die Butter würden sie weich werden lassen müssen, und Streichkäse würde es in den nächsten Tagen keinen geben. Aber wenigstens Wurst musste er mitbringen, zur Not musste sie eben schnell verbraucht werden.
„Bitteschön?“, flötete ihm die Verkäuferin an der Fleischtheke freundlich entgegen, und er bestellte seine dreihundertfünfzig Gramm Salami. Leider gab es mindestens sechs Sorten Salami, und die nette Dame wollte natürlich wissen, welche er haben wolle.
„Ähm... ich glaube, ich nehme die hier vorne, da links.“
Einem ungeschriebenen Naturgesetz zufolge deutete die Verkäuferin natürlich auf genau jene Wurst, die von seiner gewünschten am weitesten entfernt lag und fragte dann: „Diese hier? Das ist Gourmet-Peperoni-Salami.“
Es war Julian völlig egal, wie seine Mettwurst hieß, zur Not würde er sie auch unter dem Namen Paul kaufen, aber genau die mit Peperoni sollte es nun einmal nicht sein. Den betont freundlichen Tonfall der Frau hinter der Theke nachahmend, korrigierte er sie, dass er nicht jene, sondern die Sorte auf der anderen Seite haben wolle.
Nach drei weiteren Fehlversuchen spießte sie endlich die gewünschte Wurst auf ihre Gabel und wog sie ab, wobei sie ihm erklärte, dass es sich hierbei um die gute Münsterländische mit einem Hauch Basilikum handele.
„Das sind jetzt dreihundertundsechsundvierzig Gramm, darf es gern ein bisschen mehr sein?“
„Nein danke, dreihundertundsechsundvierzig Gramm sind absolut perfekt. Vielen Dank, und ich möchte auch nicht sonst noch etwas.“
Mit seiner hart erkämpften Beute schob Julian den Einkaufswagen weiter durch die Regale, vorbei an plärrenden Kindern und deren nörgelnden Müttern.
Weiter ging es mir Obst und Gemüse, und auch hier war die Auswahl durch die häusliche Küchensituation leider begrenzt. Yasmin hatte aber unbedingt darauf bestanden, dass er Papayas mitbringen sollte. Die gab es auch, nur dummerweise konnte er sie unter den ungefähr zweihundert Knöpfen auf der Wage nicht finden und wog sie deshalb als Mangos ab, in der Hoffnung, dass er dabei kein schlechtes Geschäft machte.
Wenn er jetzt noch pünktlich zur Probe in der Tanzschule kommen wollte, musste er sich beeilen, nur leider stand ihm die größte Hürde noch bevor. Die Schlange an der Kasse war nicht lang, wenigstens etwas, aber dafür drängelte sich kurz bevor er an der Reihe war eine Rentnerin vor ihn, mit der Begründung, sie habe ja nur ein Teil. Freundlich lächelnd verzichtete Julian auf einen Einspruch, bereute seine Entscheidung jedoch schon wenige Sekunden später, als die Alte nämlich der Kassiererin den erfreuten Satz zurief: „Ich glaube, ich habe es passend.“
Langsam und konzentriert fing sie an, ihre Münzen vor sich auszubreiten, die Eurostücke zählte sie selber ab, nur bei den Cents haperte es. Sie habe leider ihre Brille nicht dabei, erklärte sie und bat die Kassiererin, ihr doch die neunundneunzig Cent abzuzählen, was ein erbostes Raunen der Schlange hervorrief. Dieses Zeichen des Unmutes ignorierend zählte die junge Frau an der Kasse das Geld nach, blieb jedoch bei achtundachtzig Cent hängen, worauf die Rentnerin einlenkte, sie müsse auch ihr anderes Portemonnaie in der Tasche haben, und eifrig danach zu suchen begann. Einige Leute weiter hinten in der Schlange wechselten in weiser Voraussicht schnell an die andere Kasse, und tatsächlich dauert es eine scheinbare Ewigkeit, bis die alte Dame die zweite Geldbörse gefunden hatte. Aus dieser förderte sie jetzt einen fünfzig Euroschein zutage, klaubte das Kleingeld wieder zusammen und es konnte endlich weitergehen. Wieso eigentlich, fragte sich Julian, bewahrten ältere Menschen ihr Barvermögen immer an möglichst vielen unterschiedlichen Orten auf und vergaßen beim Einkaufen auch grundsätzlich ihre Brille?
„Entschuldigung“, fiel es der Alten plötzlich ein, „kann es sein, dass sie mir zu wenig Wechselgeld gegeben haben?“
Die Kassiererin zählte noch einmal nach und beteuerte dann, sie habe keinen Fehler gemacht. Zufrieden nickte die Kundin und kramte ihre Sachen zusammen, doch bevor Julian nun endlich zahlen konnte, drehte sie sich noch einmal um und deutete wichtigtuerisch auf den Bon.
„Hier steht, ich hätte zweineunundneunzig zahlen müssen. Meine Pfefferminzplätzchen kosten aber doch nur einsneunundneunzig.“
Noch einmal wurde die Verpackung eingescannt, nein, der Preis stimmte, die Kassiererin wendete sich wieder Julian zu, und die Alte zog ab. Während Julian bezahlte und seine Sachen verstaute, bemerkte er wie die Rentnerin, die schon beim Ausgang angelangt war, noch einmal umdrehte, zurückkam und etwas von Angeboten und Werbeprospekten erzählte. Er hörte ihr allerdings nicht mehr zu, sondern ergriff schnell genug die Flucht.
*****
„Kira, du wolltest doch neulich über irgendetwas mit mir reden, oder?“
Zuerst war sie erschrocken, weil Marius von sich aus auf das Thema zurückkam, doch dann sagte sie sich, dass sie es ihm auf jeden Fall erzählen wollte, und jeder Zeitpunkt war genauso passend oder unpassend wie jetzt.
„Gut, aber nimm dir ein wenig Zeit, es ist nämlich keine einfache Geschichte.“
„Das dachte ich mir schon“, gab Marius verständnisvoll zurück, „also wir waren bei deiner Familie. Dein Vater war arbeitslos, deine Mutter nie zuhause und du musstest viele Pflichten übernehmen.“
Stumm nickend versetzte sich Kira wieder in die Vergangenheit und versuchte dann, alles so zu erzählen wie sie es empfunden hatte, ohne es dramatischer zu gestalten als es war und auch ohne zu untertreiben und ihre Gefühle herunterzuspielen. Sie erinnerte sich sehr deutlich an unzählige Gelegenheiten, bei denen es Streit zwischen ihren Eltern gegeben hatte, oft aufgrund von Nichtigkeiten, meist jedoch ging es um die Finanzen und darum, dass Kiras Vater seine Frau als Rabenmutter beschimpfte, weil sie nie für ihre Tochter, viel weniger aber noch für ihn da war. Damals hatte Kira nicht alles einordnen können, im Nachhinein wurde ihr jedoch immer klarer, dass die Schuld nicht allein bei ihrem ständig nörgelnden Vater lag, wie sie es damals empfunden hatte. Tatsächlich hatte ihre Mutter viel gearbeitet und sich sozusagen für die Familie krumm gelegt, nur ab einem gewissen Zeitpunkt fing auch sie an, ihren Frust auf den Vater zu übertragen, was das Verhältnis zwischen ihnen nicht gerade besserte. Als kleines Kind hatte Kira jedoch immer nur mitbekommen, dass ihr Vater zunehmend gereizter wurde, immer unzufrieden war, weil er nichts zu tun hatte und abends ihrer Mutter auch noch den Feierabend zur Hölle machte. Sie hatte immer geglaubt, es läge an seinem Ärger über die Arbeitslosigkeit, doch wie sie viel später erst erfahren hatte, war es nicht nur das. Vielmehr verlor er für ihre Mutter auch an Attraktivität, und wie sie viel später einmal zugegeben hatte, verweigerte sie ihm jegliche Zärtlichkeit und wandte sich immer mehr von ihm ab.
Bevor sie fortfahren konnte, musste sie einmal tief durchatmen, um sich zu sammeln. In Marius Augen versuchte sie seine Gedanken zu lesen, was leider nicht möglich war, aber sie hoffte, er würde sie, nachdem er alles wusste nicht wie ein rohes Ei behandeln und sich ihr gegenüber aufgrund von Mitleid oder was auch immer anders verhalten. Leider taten das die meisten Menschen, mit denen sie über ihre Geschichte gesprochen hatten, und genau das war der falsche Weg, um endlich damit abzuschließen.
Über Jahre hinweg war die Stimmung in ihrem Elternhaus angespannt gewesen, ihre Mutter hatte sich immer mehr vom Vater distanziert, aber je älter Kira wurde, desto mehr heulten sich beide bei ihr aus und gaben ihr damit das Gefühl, zwischen den Fronten zu stehen. Kira konnte einerseits ihren Vater verstehen, weil sie jeden Tag auf neue sah, wie schwer es ihm fiel, immer nur zuhause zu sitzen, sie stand aber auch auf der Seite ihrer Mutter, für deren allabendliche Abgespanntheit sie ebenfalls Verständnis aufbringen konnte. Über Jahre hinweg hatte sie das Gefühl, als seelischer Mülleimer missbraucht zu werden und handeln zu müssen, obwohl sie nicht wusste wie. Dies änderte sich schlagartig als sie zum ersten Mal mit ansehen musste, wie ihr Vater bei einem Streit in Rage auf ihre Mutter einschlug und erst aufhörte als diese sich im Badezimmer einschloss. Nach diesem Vorfall waren alle Beteiligten entsetzt gewesen, am allermeisten Kira, die damals etwa dreizehn gewesen sein musste und nicht verstand, was sich vor ihren Augen und Ohren abgespielt hatte.
Leider war es nicht bei diesem einen Mal geblieben, im Gegenteil, von da an kam es immer öfter vor, dass ihr Vater im Zorn die Hand gegen seine Frau erhob, und in Kiras Herzen breitete sich etwas wie Hass aus, Hass, der sich mit jedem Mal verstärkte und sie eindeutig Position ergreifen ließ.
„Hat er dich denn auch...?“, warf Marius entsetzt ein.
„Nein, er hat mich nie angefasst, mich nie geschlagen und auch sonst nichts getan, was strafbar gewesen wäre.“
Aber er hatte sie angestarrt. Sie angestarrt und mit seinen Blicken verschlungen. Das erste Mal war es ihr aufgefallen, nachdem sie langsam gelernt hatte, dass Jungs und Mädchen nicht nur miteinander streiten konnten, also etwa als sie in die Pubertät kam. Wenn sie im Bad gestanden hatte, war ihr Vater immer wieder unter hergesuchten Vorwänden hereingekommen und hatte seine Blicke nicht von ihr lösen können. Anfangs hatte sie dem keine Bedeutung zugemessen, doch je älter sie wurde, desto mehr verstand sie, dass es sich hierbei nicht um Blicke handelte, die ein Vater seiner Tochter zuwerfen sollte. Sie hatte schließlich angefangen, sich im Bad einzuschließen, bald darauf hatte sie auch immer ihre Zimmertür abgeschlossen, aber es hatte nie aufgehört. Immer wieder hatte er sie versucht anzustarren, niemals mehr, aber sie fühlte sich von dennoch missbraucht und bekam Angst vor ihm. Ab einem gewissen Alter hatte sie genau gewusst, was in seinem Kopf vorging, wenn er sie betrachtete, und sie hatte nur noch Ekel für diesen Mann empfunden.
„Verstehst du jetzt, warum mich Felix so aus der Fassung gebracht hat?“
„Allerdings. Ich kann mir zwar absolut nicht vorstellen, wie sowas ist, aber ich verstehe sehr gut, dass es dich damals fast wahnsinnig gemacht haben musste. Wenn ich mir ausmale, jemand würde Lena auf diese Weise anstarren, ich glaube, ich würde Amok laufen.“
*****
Aus einem tiefen Impuls heraus schloss Marius Kira in die Arme. Sie zitterte unter seiner Berührung und es war ihr anzumerken, wie sehr sie die Geschichte immer noch aufwühlte. Er hätte ihr Kraft geben und zur Seite stehen wollen, und darum hielt er sie fest wie er es mit Lena machte, wenn sie Kummer hatte. Kira jedoch wandte sich aus seiner Umklammerung und schüttelte den Kopf. Was sie brauchte war ganz bestimmt kein hilfloses Mitleid, machte sie ihm klar, das alles lag in der Vergangenheit und jetzt war sie auf der suche nach etwas anderem, eine Perspektive, die es ihr erlaubte, ihr Leben ohne diese Last weiterzuführen. Gelitten hatte sie unter den Blicken ihres Vaters und deren Auswirkungen genug, damit musste endlich Schluss sein. Auch wenn es Marius schwer fiel, versuchte er sie zu verstehen, und als er länger darüber nachdachte, musste er ihr zustimmen. Wenn man Schiffbruch erlitten hatte, nützte es nichts, den Wrackteilen hinterher zu tauchen, sondern man musste sich schleunigst ein neues Schiff oder wenigstens ein Floß suchen. Sein Floß nach dem Schiffbruch in seiner Ehe war diese Wohngemeinschaft, und obwohl er wusste, dass seine neuen Freunde niemals eine intakte Familie ersetzen konnten, gaben sie ihm wenigstens den nötigen Halt.
Kira hatte sehr viel länger gebraucht, um ein Floß zu finden, dass stark genug war, um sie zu tragen, erzählte sie, und wenn sie es sich recht überlegte, war sie noch immer auf der Suche. Ganz zu Anfang hatte sie Halt in der Musik gesucht, was Marius sehr gut nachvollziehen konnte, und das war auch ihre erste Berührung mit der Gothicszene gewesen. Dort glaubte sie, Verständnis gefunden zu haben, was sich aber letztlich als Irrtum herausstellte, doch gewisse schwarze Ambitionen konnte sie nicht wieder ablegen. Leider reichte das alles nicht aus, um die immer noch andauernden beklemmenden Blicke ihres Vaters zu kompensieren, und im Alter von siebzehn hatte sie sich von einer Brücke stürzen wollen. Damals leider, aus heutiger Sicht zum Glück war der Versucht gescheitert, stattdessen hatten sich Psychologen und Therapeuten ihrer angenommen, denen sie allerdings nie erzählt hatte, was wirklich in ihr vorging, und darum ging hinterher alles weiter wie bisher. Ihr Vater schlug ihre Mutter immer noch, geilte sich nach wie vor am Anblick seiner Tochter auf und das Familienleben war für Kira unerträglich. Durch etliche falsche Freunde machte sie ihre ersten Drogenerfahrungen, es gelang ihr kurzzeitig von zuhause auszuziehen, doch nach einem zweiten Selbstmordversuch wurde sie wieder in eine Therapie geschickt und wohnte danach wieder zuhause.
Wie gefesselt hing Marius an Kiras Lippen und konnte kaum fassen, was sie ihm erzählte. Noch immer empfand er Mitleid mit ihr, aber die Abgeklärtheit, mit der sie jetzt über all diese schrecklichen Ereignisse sprach, weckte auch etwas wie Bewunderung in ihm. Sie redete über ihre Vergangenheit wie man über etwas redete, das lange vergangen war, keine Bedeutung mehr hatte und einen nur noch in besonders düsteren Augenblicken wieder einholte.
„Das Ende vom Lied ist“, fuhr sie fort, „dass meine Mutter sich doch zum Glück für alle Beteiligten zwei Jahre später von ihm getrennt hat, ich weit genug weggezogen bin und dann noch drei Jahre später endlich von mir aus einen Therapeuten aufgesucht habe.“
Marius war noch immer sprachlos und wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Jetzt war es Kira, die sich an ihn lehnte und offenbar das Bedürfnis nach menschlicher Wärme hatte.
„Hört sich an, wie die typische Story eines Grufties, oder?“
„Nein, tut es nicht“, wehrte Marius zaghaft ab, „und außerdem interessieren mich nicht die Klischees, sondern der Mensch, dem das alles passiert ist.“
Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen, denn das klang ja wohl ebenso überzeugend als hätte er es frisch aus einem psychologischen Lehrbuch abgelesen. Etwas Besseres fiel ihm aber leider auch nicht ein.
„Ist schon okay, wenn du nicht weißt, was du sagen sollst“, lenkte Kira ein und es wirkte fast als war sie es jetzt, die ihn tröstete, „das geht den meisten so, und manchmal ist es einfach besser, gar nichts zu sagen.“
Gut, sie wollte kein Mitleid, sondern nur Verständnis. Nichts lag ihr ferner als wenn er sie jetzt als das bedauernswerte Würstchen ansehen würde, und er hoffte, er könne es sich verkneifen. Natürlich nahm ihre Geschichte ihn mit und natürlich erfüllte ihn ihr Schicksal mit Trauer. Aber viel mehr noch bewunderte er sie dafür, dass sie es geschafft hatte, das alles hinter sich zu lassen und inzwischen offen darüber reden zu können. Viel zu viele Menschen zerbrachen an dem, was sie durchmachen mussten, und einige ruhten sich oftmals sogar auf ihrer schlechten Kindheit aus und missbrauchten sie als Ausrede für späteres Versagen. Das alles tat Kira nicht, sondern sie hatte sich zu einer starken Frau entwickelt, die auf ihn bis jetzt beinahe unverwundbar gewirkt hatte. Und da war noch mehr. Neben allen Gefühlen wie Mitgefühl und Bewunderung mischte sich auch eine tiefe Zuneigung darunter, ein Gefühl der Vertrautheit und Verbundenheit. Und dieses Gefühl war nicht erst dadurch entstanden, dass sie ihn in ihre schwache Seite eingeweiht hatte, sondern er vermutete vielmehr, es sei schon früher da gewesen. Jedenfalls verwirrte es ihn in unbekanntem Maße, und er wusste nicht, wie er ihr das alles jetzt hätte erklären sollen. Aber wie hatte sie noch gesagt? Manchmal war es einfach besser, gar nichts zu sagen. Der richtige Zeitpunkt würde sich schon noch ergeben.
*****
„Hey, wenn du mich jetzt noch zu Brei machst, kann ich morgen nicht tanzen.“
„Weichei, elendes!“, zischte Marc und grinste Julian dann herausfordernd an. Sofort stieg der auf die Provokation ein und ging erneut auf ihn los. Marc ließ ihm jedoch keine Chance und schickte ihn sofort wieder auf die Matte. Wenn er ihn beim Judo besiegen wollte, musste er schon früher aufstehen, dachte er sich und lächelte triumphierend.
Nach dem Training beschlossen sie, noch ins Anyway zu gehen, um dort ihre wiedergewonnenen Freundschaft zu feiern. Der Laden war wie immer brechend voll und alle Tische besetzt. Zum Glück war es noch warm genug, um draußen zu sitzen, was sie dann auch taten. Marc machte Julian wegen der Affäre mit Anna keine Vorwürfe mehr, es wäre ohnehin irgendwann in die Brüche gegangen, und immerhin hieß es nicht umsonst, im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt. Stattdessen redeten sie über dies und das, gingen die Tanzshow noch einmal durch und ließen sich ihre Altbierbowle schmecken. Das Gespräch kam auch auf Freundschaften und die Erfahrungen, die Marc bei seinem letzten Besuch in Magdeburg gemacht hatte.
„Weißt du, was dein Problem ist?“, warf Julian ihm an den Kopf, „Du nimmst dich einfach viel zu ernst.“
„Ach... und das sagt mir ausgerechnet jemand, der beim Judo Angst hat, ich könne ihm, was weiß ich, seine Frisur ruinieren?“
„Das ist 'was völlig anderes.“
Der Vorwurf war so gemeint, dass Marc sich und seine Belange zu wichtig nehme und daher nicht damit klarkam, wenn andere seine Einstellungen nicht teilten, erklärte Julian weiter. Ein Stück weit hatte er damit sogar recht, musste Marc sich eingestehen, aber er würde den Teufel tun und das jetzt zugeben. Stattdessen bestellte er lieber noch eine Bowle für beide und lenkte das Gespräch dann wieder auf andere Themen.
Als sie spät abends nach Hause kamen, empfing Tobias Marc schon an der Tür und teilte ihm mit, er habe Besuch, der schon seit Stunden auf ihn warte. Sofort wurde Marc neugierig, ging im Kopf die Liste derer durch, die ihn besuchen und dann ewig warten würden, aber ihm fiel niemand ein.
„Männlich oder weiblich?“
„Keine Aufregung, es ist ein Er.“
Das schränkte den Kreis der Verdächtigen noch mehr ein, reduzierte ihn sozusagen auf Null, und Marc konnte sich nicht vorstellen, von wem Tobi sprach. Um das Rätsel zu lösen, eilte er in sein Zimmer und traute seinen Augen nicht. Es war Steven, und er sah ihn an als erwarte er einen Oscar. Für einen Augenblick wusste Marc nicht, was er sagen sollte, und seine Gedanken überschlugen sich. Gerade noch hatte er mit Julian über Freundschaften gesprochen und dabei für sich endlich akzeptiert, dass auch die dicksten Bande nicht ewig halten, und jetzt saß sein alter Schulfreund hier vor ihm als wäre das so selbstverständlich wie damals als sie sich fast jeden Tag gesehen hatten. Tausend Fragen schossen Marc durch den Kopf, und er wusste nicht, welche er zuerst stellen sollte. Falls Steven ihn überraschen wollte, war ihm das jedenfalls gründlich gelungen.
„Wo... ich meine, warum... also wie kommst du denn hierher?“
Stevens lächeln wurde noch breiter, und nicht ohne Stolz in der Stimme antwortete er: „Mit dem Fahrrad natürlich.“
Jetzt war Marc endgültig platt und musste sich erst einmal setzen. Bevor er weitere Fragen stellen konnte, fing sein Kumpel an zu erklären. Ihre Niederlage bei der letzten Tour und Marcs Enttäuschung sei ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, er habe sich als Verräter gefühlt, weil er derjenige war, der die Aktion abgebrochen hatte, und die ganzen letzten Tage hatte er das Gefühl gehabt, die Freundschaft mit Füßen getreten zu haben. Folglich hatte er sich ein paar Tage Urlaub genommen und sich auf den Weg gemacht. Und darum war er jetzt hier.
„Ich bin...“, stammelte Marc, „echt platt.“
„Das sieht man.“
Erst als Marc sich aus seiner Erstarrung gelöst hatte, bot er Steven etwas zu trinken an und stellte ihn dann den anderen vor. Marius lud Steven sofort ein, bis zur Party zu bleiben, und der nahm dankend an. Marc hingegen wischte alle trüben Betrachtungen über Freundschaft aus seinem Gedächtnis und freute sich schon jetzt auf die Rücktour, an der er natürlich teilnehmen würde. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Julian und Tobi vielsagende Blicke tauschten und offenbar nur zu gut verstanden, um was es hier ging.
*****
Als Tobi ins Zimmer platzte, spielte Yasmin gerade mit Lena und Tschaikowsky.
„Oh, hi Lena, hi Yasmin, hi Hasenbraten.“
„Tobi, du bist ein Ekel!“
„Wieso denn ich? Warst du es nicht, die das arme Karnickel anfangs als Ratte bezeichnet hat?“
Statt einer Antwort klärte Yasmin Lena lieber darüber auf, dass alle Männer eklig waren und dass sie sich bloß niemals auf einen einlassen sollte. Das Mädchen gab zurück, das wisse sie schon, Kira habe das auch schon gesagt, und überhaupt wisse sie sowieso nicht, was sie mit Jungs anfangen sollte.
„Ich bin mir sicher, da kommst du auch noch hinter“, sagte Tobi mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen und fügte dann hinzu, „aber eigentlich wollte ich kurz mit Yasmin reden.“
Lena nickte und forderte dann den Hasen auf: „Okay, dann gehe ich jetzt Tschaikowsky füttern. Los, komm mit Tschaikowsky.“
Wie ein Hund folgte das Kaninchen ihrer Aufforderung wirklich und hoppelte hinter dem Mädchen her. Schon komisch, dachte Tobi, dass selbst ein Hase aufs Wort gehorchte, wenn es ums Fressen ging.
„Also“, forderte Yasmin ihn auf, „worüber wolltest du mit mir sprechen?“
„Hm... na ja“, druckste Tobi ein wenig herum, „es geht um uns, also um das, was ich dir neulich gesagt habe, ich meine das mit dem Verknallen, du weißt schon...“
Augenblicklich stand Yasmin vom Boden auf und wurde ernst. Sie hatte seit langem mit seiner Frage gerechnet, dessen war er sich sicher, und vermutlich hatte sie sich auch schon seit geraumer Zeit eine Antwort darauf überlegt.
„Okay, Tobi“, fing sie an, „ich versuche mal, ganz ehrlich zu dir zu sein und hoffe, du bist mir hinterher nicht böse.“
„Böse vielleicht nicht, aber wie du klingst, könnte ich enttäuscht sein, oder nicht?“
„Möglich. Willst du es trotzdem hören?“
Allen Mut zusammennehmend, nickte er. Schon oft hatte er Niederlagen einstecken müssen, er konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals etwas so gelaufen wäre, wie er sich das vorgestellt hatte, schon gar nicht in Bezug auf Frauen. Das erste Mädchen, das er zu küssen gewagt hatte, hatte ihm damals mit einer Ohrfeige geantwortet, und seitdem hatte er seine Körbe zwar weniger gewalttätig, aber nicht unbedingt schmerzfreier kassiert.
„Gut, ich weiß zwar nicht, wie ich anfangen soll, aber ich habe ehrlich lange darüber nachgedacht, ob das mit uns klappen könnte.“
„Und du bist zu dem Entschluss gekommen, es würde nicht funktionieren, weil du nämlich nicht mit einem Versager zusammen sein willst.“, nahm er ihr die Worte aus dem Mund.
„Nein, das ist nicht der Grund. Aber ich bin trotzdem davon überzeugt, dass es auf lange Sicht nicht gut gehen würde, und ich habe Angst davor, mich auf dich einzulassen, nach ein paar Monaten nur noch zu streiten, weil wir eben doch zu verschieden sind, und dich dann auch noch als Freund zu verlieren.“
Damit schwand auch der letzte Funken Hoffnung auf einen positiven Ausgang ihres Gespräches und Tobi sank in sich zusammen.
„Ich verstehe.“
„Nein, das glaube ich nicht. Aber ich möchte, dass du mich verstehst, weil ich dir nämlich nicht wehtun will.“
Gut, sie waren verschieden und es gab immer wieder Streit zwischen ihnen, weil sie nun einmal in den meisten Dingen unterschiedlicher Auffassung waren. Doch war das Grund genug, es nicht einmal zu versuchen? Und selbst wenn sie sich schon nach einigen Monaten wieder trennten, weil es nicht klappte, musste das gleich bedeuten, dass danach auch die Freundschaft im Eimer war?
„Also zieht Julian doch bald wieder in dein Zimmer ein?“
Kopfschüttelnd legte Yasmin ihre Arme um ihn.
„Mit Julian hat das nichts zu tun. Mit ihm könnte ich genauso wenig noch einmal zusammen sein, und mit Felix auch nicht.“
„Was hat denn Felix damit zu tun?“
„Ach, nichts weiter, nur der hat mir vorgestern auch seine Liebe gestanden.“
„Diese hässliche kleine Kröte?“
„Er ist keine Kröte!“
„Okay, okay, das 'hässlich' und die 'Kröte' nehme ich zurück, aber zu jung ist er trotzdem für dich.“
Noch einmal versuchte Yasmin ihm klar zu machen, warum sie ihn leider enttäuschen musste. Er war für sie zu ihrem besten Freund geworden, und das wusste sie zu schätzen. Etwas anderes war es allerdings nicht und würde es auch niemals werden. Sie sagte das nicht, um ihn zu verletzen, sondern weil sie seine Verliebtheit nicht auf die leichte Schulter nahm, sondern fürchtete, sie würde nur mit ihm spielen und damit alles riskieren, wenn sie auf seine Verliebtheit einging.
„Ich habe dich gern, Tobi, ehrlich, aber bitte versuche mich zu verstehen.“
„Schon gut, ich glaube, ich habe kapier, was du mir sagen willst.“, lenkte er matt lächelnd ein, doch er wusste, in Wirklichkeit würde es noch eine ganze Weile dauern, bis er ihre Entscheidung akzeptieren und eventuell sogar nachvollziehen konnte.
*****
Ohne Vorwarnung verstummte plötzlich die Musik, das Licht ging aus, und nur ein einziges Spotlight richtete sich auf die Bühne und irrte dort suchend umher. Ganz leise erklang eine Melodie, die entfernt an Wagners Walkürenritt erinnerte und sich langsam steigerte. Als sich alle Augen gespannt auf die Bühne richteten, mischte sich ein Donnergrollen unter die Musik, und wenig später explodierte mit einem lauten Knall und viel Kunstnebel der Vulkan, auf den sich der Spot jetzt richtete. Zuerst spuckte er ein prasselndes Feuerwerk aus, dann blitzten überall in der Disco rote und orangefarbene Lichter auf, und wenig später stürzten zwei schwarzgekleidete Tänzer von links und rechts hervor und bewegten sich ekstatisch zu den Beats, die wie aus der Ferne heranzurollen schienen. Unter diese minimalistische Musikkulisse mixte sich eine einschmeichelnde elektronische Melodie, deren Auftreten ein Auftauchen etlicher Tänzerinnen in weißen Gewändern mit sich brachte. Die Tänzerinnen umgarnten die beiden Tänzer als wenn sie sie auffordern wollten und alles gleich einem Wirrwarr, mit der Zeit aber konnte man Synchronismus erkennen und aus dem Durcheinander entwickelte sich eine Choreographie. Die Show wurde von weiteren Feuerwerken und einem wahren Gewitter der Laserlights begleitet, und die Menge hielt begeistert den Atem an. Die Musik wurde schon bald rhythmischer, die Tänzerinnen schälten sich aus ihren Gewändern und waren darunter farbig gekleidet, grüne und blaue Laser kamen zu den roten hinzu, und als die Tanzfläche von ihnen erhellt wurde, brauchte es nicht viel, um die Zuschauer mitzureißen.
Tobi stand am Rande und betrachtete die Szenerie wohlwollend. Marc hatte seine Sache gut gemacht, die Performance war großartig, und selbst die, die nicht viel mit elektronischer Musik anfangen konnten, hatte die Show überzeugt. Nach dieser ersten Einlage trat Marius hinter das Mischpult, begrüßte seine Gäste, was mit einem tosenden Applaus belohnt wurde und begann dann mit seinem Set.
Erst jetzt fiel alle Anspannung von Tobi ab und er konnte anfangen, den Abend zu genießen. Nur zu deutlich sah er Marius an, wie glücklich er dort hinter den Plattentellern war, er war ganz in seinem Element, und immer noch überwältigt, weil seine Mitbewohner dies hier für ihn auf die Beine gestellt hatten. Die Party hatte begonnen, und wenn es weiterging, wie es angefangen hatte, würde sie noch lange nicht zuende sein.
Die erste seiner Mitbewohner, die ihm schließlich über den Weg lief, war Kira, und er empfing sie mit den Worten: „Na, was meinst du, es läuft doch prima, oder nicht?“
„Von wegen prima“, bremste sie seine Begeisterung, „hast du dich mal umgesehen?“
Selbstverständlich hatte er das, und dabei festgestellt, dass jeder hier gute Laune hatte und voll mitzog. Daher verstand er nicht, was Kira mürrisch stimmte.
„Ja, aber fast alle, die hier sind, sind Gäste von Marius. Bis jetzt haben wir kaum zahlende Gäste, weil nämlich der VFL heute um den Aufstieg in die zweite Fußballliga gespielt hat und in der Stadt jetzt überall Siegesfeiern stattfinden. Wenn das so weitergeht, entwickelt sich unsere Party zum finanziellen Fiasko.“
Das Lächeln auf Tobis Gesicht wich augenblicklich und machte einer nachdenklichen Besorgnis Platz. Daran hatte er natürlich nicht gedacht, und wer konnte auch ahnen, dass die meisten Leute sich mehr für Fußball als für ihre Party interessierten. Aber solche Siegesfeiern konnte doch nicht ewig dauern, oder? Man fuhr ein paar Mal hupend mit dem Auto quer durch die Stadt, schwenkte ein paar Fahnen und trank dann noch auf den siegreichen Verein.
„Ja genau“, stimmte Kira ihm zu, „und danach hat man selber eine Fahne und fährt nicht mehr in die Disco.“
Das hatte leider Logik. Aber war er denn jetzt Schuld, weil er nicht bedacht hatte, dass der VFL aus unbegreiflichen Gründen ebenso viele Anhänger hatte wie eine Nationalmannschaft? Es gab doch schließlich genug Menschen, die sich nicht für Fußball interessierten, und die sollten gefälligst baldmöglichst ihren Arsch hierher bewegen.
Kira zog wieder ab und ließ Tobi grübelnd zurück. Wenn sie Recht hatte, schossen ihre ausgaben in die Höhe, während die Einnahmen verschwindend gering bleiben, und auch wenn die Party noch so gut war, konnte das nicht im Sinne des Veranstalters sein. Schnell überlegte er, ob es Sinn machte, den Geburtstagsgästen jetzt noch Geld abzunehmen oder ob Marius ihm dann morgen den Kopf abreißen würde. In seiner Planung hatte er fest mit mindestens hundert zahlenden Besuchern gerechnet und das schon als niedrig angesehen. Falls sie nun selbst diese Marke nicht erreichten, würde dies das mit Abstand teuerste Geburtstagsgeschenk sein, das er je gemacht hatte und auch je machen würde. Und auch seine Karriere als Veranstalter stünde dann unter keinem guten Stern, denn wer würde ihn noch engagieren, wenn er schon pleite war, bevor er richtig angefangen hatte?
Wenig später riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken, und als er sich umdrehte, stand Anna vor ihm. Zuerst hätte er sie kaum erkannt, weil sie sich ziemlich herausgeputzt hatte, doch dieses aufgeschlossenen Lächeln, das er schon bewundert hatte als sie noch Marcs Freundin gewesen war, war unverkennbar.
„Ich find die Party einfach megagigantisch“, juchzte sie und fiel Tobi dabei um den Hals.
„Und vor allem finde ich es echt super, dass ihr sowas für Marius auf die Beine gestellt habt. Es war doch deine Idee, oder?“
Etwas verschüchtert, was er sonst nicht von sich kannte, bejahte Tobi und durfte sich noch einmal anhören, wie bewundernswert sie es fand, was sie für ihren Freund getan hatten. Im Grunde hatte sie vollkommen recht. Sie hatten es für Marius getan, nicht für die große Karriere oder um Geld zu scheffeln, sondern deshalb, weil er Marius glücklich machen wollte. Und das hatte er immerhin geschafft. Ein Blick zum DJ-Pult verriet ihm, dass er Recht hatte, denn das Geburtstagskind stand noch immer da oben, legte seine Platten auf und strahlte übers ganze Gesicht. Seit er bei ihm eingezogen war, hatte er seinen Vermieter noch nicht zufriedener gesehen, und das war es, was er von Anfang an gewollt hatte. Er fragte Anna, ob sie tanzen wolle, und als sie nicht ablehnte, schob eine gute Portion Stolz alle Bedenken an die Seite.
*****
Inzwischen hatte Marius sein Set beendet und drehte jetzt eine großzügige Runde, um mit jedem seiner Gäste wenigstens ein paar Worte zu wechseln. Den Platz hinter dem Mischpult betrat ein blasses Mädchen mit etlichen Piercings und pink gefärbten Haaren. Es musste Pepsi sein, die Schulfreundin von Felix, der übrigens seit Stunden wie ein Flummy über die Tanzfläche hüpfte. Als sie ihre erste Platte auflegte, änderte sich die Geräuschkulisse schlagartig, und das, was Ramona eben noch als Musik hatte einordnen können, ging über in ein Gewummer harter Bässe, das für sie nun noch nach Krach anhörte. Vielleicht war sie auch schlicht zu alt für sowas und konnte nicht mehr mitreden. Allerdings schienen sich auch einige andere an dem unmelodiösen musikunähnlichen Gebolze zu stören, denn etliche, die eben noch tanzten, verdrückten sich jetzt irritiert an die Theken und harrten dort der Dinge, die da kommen würden.
Julian stellte sich zu Ramona und prostete ihr zu. Sie stieß mit ihm auf die gelungene Tanzshow an, worauf er allerdings abwiegelte und meinte, dazu müsse sie Marc gratulieren.
„Der ist aber gerade mit Yasmin auf der Tanzfläche und hat keine Zeit. Ihr habt es jedenfalls gut gemacht und mir hat es gefallen.“
„Die Show mag ja gut gewesen sein, aber wenn man Kira glauben darf, dann lassen unsere Einnahmen zu wünschen übrig, weil der VFL heute gewonnen hat und jetzt überall Siegesfeiern stattfinden.“
Das klang wiederum gar nicht gut, und sie versuchte Julian dadurch aufzuheitern, dass die, die hier waren sich besser amüsierten als sie das auf jeder anderen Party tun könnten, obwohl sie wusste, dass das bei der Finanzierung letztlich auch nicht weiterhalf.
„Hey, wie findet ihr Pepsi?“, unterbrach Felix das Gespräch, der sich aus der Masse der tanzenden gelöst und zu ihnen gestellt hatte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und seine Augen vor Begeisterung.
„Sie mag ja ganz nett sein“, antwortete Ramona wahrheitsgemäß, „aber was hat sie mit der Musik gemacht?“
„Das ist Schranz.“, erklärte Felix wenig aufschlussreich.
„Kann man das nicht abstellen?“
Julian lachte lauthals und lenkte dann ein: „Ich glaube, das muss so klingen, aber nichts desto trotz versaut sie fast jeden Übergang.“
„Ja leider, aber doch nur, weil sie nervös ist.“, nahm Felix sie in Schutz.
Dass die Musik weder den Geschmack der Gäste noch eine angemessene Lautstärke traf, war inzwischen auch anderen aufgefallen, und Marc und Tobi diskutierten darüber, wie man dem Mädchen am schonendsten beibringen konnte, dass sie sich vom Acker machen sollte. Marius wollten sie nicht noch einmal bitten, weil der sich um seine Gäste kümmern musste, und der Resident DJ war nur für zwei Stunden bezahlt worden, und mehr war bei den jetzigen Budgetaussichten auf keinen Fall drin. Als Retter in letzter Not kam ihnen Steven, Marcs Schulfreund, zur Hilfe, der sich anbot, er könne sich an den Decks versuchen, wenn man ihm nur ein paar Platten zur Verfügung stellen würde. Da er in Magdeburg schon öfter aufgetreten war, vertraute Marius ihm seinen Koffer an und hoffte sehr, damit den Strom derer, die ganz plötzlich aufbrechen wollten, versiegen lassen zu können.
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Felix wie dieser Steven auf die Empore zum DJ-Pult stieg und Pepsi kurz darauf ablöste. Die zog zügig ab und als Felix ihr folgen wollte, war sie schon verschwunden. Da sie keinesfalls dumm war, musste sie mitbekommen haben, warum man sie ihres Platzes verwies, und sie tat ihm leid. Dafür, dass die anderen keinen Sinn für gute Musik hatten, konnte sie nichts, und die versauten Übergänge konnten schon mal passieren, wenn man zum ersten Mal vor großem Publikum auflegte. Dazu fühlte er auch eine gewisse Mitschuld, denn er hatte Pepsi schließlich empfohlen und sie überredet, aufzulegen, obschon sie ihm vorher gewarnt hatte, sie könne leicht Lampenfieber bekommen.
Er fand seine Freundin schließlich in einer dunklen Ecke, wo sie auf dem Boden hockte und den Kopf auf die Hände gestützt hatte. Deutlich war ihr die Enttäuschung anzusehen, und Felix suchte händeringend nach Worten des Trostes.
„Die wissen eben alle nicht, was gut ist“, setzte er an, „ich fand dein Set jedenfalls klasse.“
„Ach ja? Ich habe jeden Übergang versemmelt und außerdem sollte ein guter DJ merken, was seinem Publikum gefällt. Bei mir haben die Leute aber reihenweise den Club verlassen und ich hab’ es nicht mal gerallt!“
„Ja okay, es war scheiße. Aber dafür bist du halt beim nächsten Mal umso besser.“
Entmutigt schüttelte sie den Kopf und bezweifelte, dass es ein nächstes Mal geben würde. Tränen kullerten ihr über die Wangen und Felix konnte sich vorstellen, wie weh ihr diese Niederlage tat. Er hockte sich neben sie, legte seinen Arm um ihre Schultern und versuchte ihr dann zu erklären, dass ihre Auswahl gar nicht schlecht gewesen war, und was die Technik betraf, daran könne sie arbeiten.
„Sagst du das nur, um mich zu trösten oder meinst du es ernst?“
„Ich meine es ernst. Du hast was drauf, ehrlich. Und selbst die besten haben mal klein angefangen.“
„Danke. Du bist echt lieb.“, flüsterte sie, bevor sie ihm einen langen Kuss gab.
*****
Yasmin erwachte, weil sie von starken Armen sanft gestreichelt wurde. Ohne die Augen zu öffnen schmiegte sie sich an den warmen Körper neben sich und ließ die letzte Nach Revue passieren, die ihr wie ein Traum vorgekommen war. Bis jetzt wusste sie nicht, wie es zu alledem gekommen war, sie wusste nur, dass sie sich selten so geborgen und glücklich gefühlt hatte. Außerdem hatte sie Stunden voller Leidenschaft erlebt und fühlte sich entspannt wie nie zuvor.
Ein langer, zärtlicher Kuss brachte sie in die Gegenwart zurück, und sie öffnete langsam die Augen als Marc ihr ins Ohr flüsterte, dass die anderen schon beim Frühstücken seien. Wie würde Tobi reagieren, schoss es ihr durch den Kopf. Schließlich hatte gestern niemand mitbekommen, wie sie und Marc fast den ganzen Abend zusammen verbracht und sich dabei immer näher gekommen waren. Auch würde keiner verstehen, warum sie in Marc genau die Wildheit, Dominanz und Geborgenheit fand, die sie bei Julian und Tobias vergeblich suchte. Jedenfalls war ihr mulmig zumute als sie sich zu den anderen in die Küche gesellten.
Sie spürte förmlich die Blicke der anderen und wie es in deren Köpfen zu arbeiten begann, doch dann musste auch sie schlucken und ihr Verstand war mit einem Schlage wach. Dort am Tisch saßen nicht nur ihre Mitbewohner, sondern auch Anna, und die noch dazu händchenhaltend mit Tobi. Yasmins Gedanken überschlugen sich. War sie im falschen Film? Träumte sie noch? Oder hatte sie gestern Abend etwas verpasst? Es war jedenfalls unverkennbar, dass Tobi keine Zeit für Eifersucht hatte, weil er selbst bis über beide Ohren verliebt schien und übers ganze Gesicht strahlte.
Ohne unnötige Erklärungen, setzten sich Marc und Yasmin an den Tisch und begannen, ihre Brötchen zu schmieren. Der letzte, der die Küche betrat, war Julian. Er sah noch immer verschlafen aus, was vielleicht der Grund war, warum er sich nicht über die beiden Pärchen wunderte. Auf eine Weise tat er Yasmin leid, denn immerhin war sie als seine Exfreundin nun mit seinem besten Freund zusammen, und die Frau, wegen der er sie verlassen hatte, saß an Tobias Seite. Das alles registrierte Julian vorerst jedoch noch nicht, er wendete vielmehr seine ganze Kraft auf, um seine Augen offen zu halten.
„Du siehst aus als hättest du gestern eine anstrengende Party gehabt....“, stichelte Kira zur Begrüßung.
„Ich fühle mich als hätte mich jemand mit Koffeintabletten vollgestopft.“
„Dann“, deutete Tobi seine Aussage und griff nach der Kanne, „willst du jetzt wohl keinen Kaffee.“
„Und ich nehme meinen schwarz.“, schaltete sich jetzt auch Lena ein und riss Tobi die Kaffeekanne mit einem schelmischen Grinsen aus den Händen.
„Möchtest du vielleicht noch einen Schuss Rum hinein?“
Lena schüttelte angewidert den Kopf.
„Nee, aber die Überraschung aus der Müslipackung kannst du mir geben.“
Mit einer schnellen Bewegung krallte sich Yasmin die Packung, fischte das kleine Plastiktierchen heraus und klärte Lena dann auf: „Da du alt genug für Kaffee bist, bist du sicher auch schon zu alt für das Spielzeug, und darum behalte ich es.“
Das Mädchen setzte einen Schmollmund auf, verzichtete großzügig auf den Kaffee und erbettelte sich dann doch noch die Überraschung. Während sie auspackte, griffen die anderen bei den Brötchen beherzt zu und stichelten dabei weiter als hätte es niemals Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben. Yasmin genoss diese Atmosphäre, nicht nur, weil sie eine willkommene Abwechslung darstellte, sondern vor allem, weil sie damit den Fragen, sie und Marc betreffend, entging. Sie hätte ja noch nicht einmal eine Antwort gehabt, wenn Tobi oder Julian sie gefragt hätten, wie das denn hatte passieren können, und außerdem wollte sie sich durch Eifersüchteleien nicht den Tag verderben lassen.
„Wie schafft ihr es eigentlich“, wunderte sich Marius, nachdem er sich die Frotzeleien lange genug angehört hatte, „nach einer langen Nacht derart gut drauf und vor allem ausgeschlafen zu sein?“
„Tja, wir sind eben noch jung und nicht schon über dreißig.“
Zuerst grummelte Marius über Annas Bemerkung, dann griff er blitzschnell nach einem Brötchen und warf es nach ihr.
„Ich sage es ja immer wieder: trau keinem über dreißig!“
„Stimmt, Männer werden ab dem Alter noch kindischer als sie ohnehin schon sind.“
*****
Intermezzo
Die junge Frau saß in Frankfurt inmitten ihres Gepäcks auf dem Bahnsteig und wartete auf den Zug, der sie die letzte Etappe ihrer Reise befördern sollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, allen Schwierigkeiten der Reise zu trotzen und sich nicht mit negativen Gedanken zu quälen über das, was sie am Ziel erwartete. Erst einmal lagen jedoch ein leeres Gleis, ein Bahnsteig und eine Anzeigetafel vor ihr, die ihr unmissverständlich sagte, dass es noch fast zwanzig Minuten dauern würde, ehe der Zug eintreffen würde. Die Kulisse wurde vervollständigt von einem missgelaunten Bahnbeamten, der zwischen der Schalterhalle und dem Getränkeautomaten am Ende des Bahnsteigs hin und hertigerte, von vereinzelten Wartenden und von einem trüben grauen Regenschleier, der sich über die Stadt gelegt hatte. Sie steckte sich eine Zigarette nach der anderen an, als würde die Zeit mit der zu Boden fallenden Asche schneller verrinnen. Nach und nach füllte sich der Bahnsteig, bis schließlich eine dichtgedrängte Menschenmasse den besten Platz und somit die größte Chance auf einen Sitzplatz zu ergattern versuchte. Sie fand es faszinierend, Menschen auf Bahnsteigen zu beobachten, wie sie sich die Wartezeit vertrieben, sei es durch ständiges Vom-einen-Fuß-auf-den-anderen-Treten oder durch lautstarkes Streiten mit ihren Reisebegleitungen. Keinem von ihnen schenkte sie jedoch mehr Aufmerksamkeit, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Zeiger der großen Bahnhofsuhr zu hypnotisieren.
Zwanzig Minuten und fast ebenso viele Zigaretten später, kam Bewegung in die Masse, und man stellte sich so weit wie möglich an die Bahnsteigkante. Leider umsonst, denn gerade in dem Augenblick zerfetzte eine knisternde Lautsprecherstimme das Gemurmel der Reisenden, die verkündete, der Zug werde voraussichtlich cirka fünf Minuten später eintreffen. Im gleichen Moment hörte man auch das Klacken der Anzeigetafel, auf der nun die fünf Minuten Verspätung auch noch visualisiert wurden, was die Zeit doppelt so lang erschienen ließ. Leider war sie schon bald auch doppelt so lang, und nach einer Viertelstunde, erklang endlich eine neue blecherne Auskunft, die die Wartenden davon in Kenntnis setzte, dass die Verspätung sich nun auf etwa eine halbe Stunde beliefe. Als Grund hierfür wurde eine 'Verzögerung des Betriebsablaufes' angegeben, was ebenso einleuchtend wie unsinnig klang. Also kaufte sie sich neue Zigaretten, durchstöberte den Zeitschriftenladen und stand sich dann weiter die Beine in den Bauch. Die Leute um sie herum boten schon lange keine Ablenkung mehr, und wenn sich im Warten tatsächlich der wahre Charakter eines Menschen zeigte, wie sie einmal gelesen hatte, dann waren die Leute hier charakterlose Wesen, denen es nicht gelang, sich ihre Zeit sinnvoll zu vertreiben.
Einen Augenblick lang machte sie sich Gedanken darüber, wie man all die Zeit, die sie in ihrem Leben bisher mit Warten vergeudet hatte, besser hätte nutzen können. Dabei ging es jedoch nicht nur um die Zeit effektiven Wartens wie hier am Bahnsteig oder an der Kasse im Supermarkt, sondern um all die schöne Zeit, die man aufbringt, um die Wohnung zu putzen und sich mit den Unannehmlichkeiten des Lebens herumzuschlagen, Zeit, die man sinnvoller hätte nutzen können, und um Lebenswege, die sich erst im Nachhinein als sinnlos herausstellten. Wenn sie all dies aus ihrem Leben streichen könnte, sagte sie sich, würde sie es damit wahrscheinlich auf höchstens eine Viertelstunde komprimieren. Bevor sie sich allerdings ausgiebig ihrer Depression und ihrem Selbsthass hingeben konnte, zog ihn die Stimme aus dem Lautsprecher wieder freiwillig auf sich, indem sie ankündigte, der Zug würde jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach mit fünfundvierzigminütiger Verzögerung eintreffen. Ein Grund wurde diesmal nicht genannt. Von da ab fixierte sie die Bahnhofsuhr mit einem bösen Blick und fragte sich, warum denn der Zeiger schneller lief als bei anderen Uhren, dann aber, wenn er oben angekommen war, einen Augenblick dort verweilte. Was machte er da? Musste er sich ausruhen? Wusste er den Weg nicht mehr? Hatte er sich einfach geirrt und war zu schnell gelaufen? Machte es ihm Spaß, den Wartenden den Eindruck zu vermitteln, die Zeit liefe schneller ab als sie es tat und freute er sich dann ein Loch in den Bauch, wenn sie erkannten, dass es doch nicht so war?
Sie starrte auf die blöde Uhr bis es schließlich fünfzehn Uhr einundzwanzig war und eine Lautsprecherdurchsage sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
„Meine Damen und Herren, Achtung an Gleis acht, ihr Zug fährt jetzt ein. Planmäßige Abfahrt war vierzehn Uhr einundzwanzig.“
Wann sie planmäßig hätten abfahren sollen, wusste sie, was sie nicht wusste war, ob der Zug jetzt nur ein oder dann auch noch weiterfuhr, und nach diesem Beginn des Tages, war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Aber egal, sie krallte sich ihr Gepäck, schubste sich an einigen älteren Menschen und etlichen Kindern vorbei in den Waggon und stürzte sich somit in dem Wettkampf um einen Sitzplatz, wenn möglich sogar einen ohne undefinierbare Krümel oder Colaflecken darauf. Leider unterlag sie in diesem Wettkampf einer fetten Mittvierzigerin mit ebensolcher Familie, die sich wie eine Furie auf die letzten freien Sitzmöglichkeiten stürzte, und so musste sie es sich im Gang auf ihrem Gepäck bequem machen. Aber auch das war egal, denn oben in den oft fälschlicherweise als Gepäcknetz bezeichneten Zeitungsablagen hätten ihre Koffer und die Reisetasche sowieso keinen Platz gefunden, denn immerhin trug sie mehr mit sich herum als nur flache Gegenstände von der Größe einer Hanuta-Tafel. Sie hasste Zugfahren, wie sie auch vieles andere hasste, was in ihren Augen typisch deutsch und damit spießbürgerlich war. Fast schon zweifelte sie an ihrer Entscheidung, zurückzukommen, aber eine andere Möglichkeit würde sich erst mit der Zeit ergeben, und deshalb gab es jetzt nur den Weg nach vorne. Selbst wenn dieser sich später einmal auch als Teil jener Zeit herausstellen würde, die sie sich hätte sparen können.
Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung und der letzte Abschnitt ihrer Odyssee konnte beginnen. Hoffentlich wurde sie am Ziel wenigstens mit offenen Armen empfangen, dachte sie sich und fluchte dabei leise vor sich hin. Früher war immer alles einfach gewesen, alles, was sie angefasst hatte, war ihr gelungen, doch dann hatte ihr Leben plötzlich eine krasse Wendung genommen und sie war von einer Pleite in die nächste geschlittert. Niemand hatte sich ihren Bedürfnissen angepasst, nirgendwo hatte sie die Erfüllung gefunden, nach der sie sich sehnte und die ihr ihrer Meinung nach zustand. War es denn zu viel verlangt, man selbst und dabei glücklich zu sein?
Wenn der Zug an einem Bahnhof hielt, hatte sie das Gefühl, alle Reisenden steigen genau dort ein, wo sie mit ihrem Gepäck im Gang saß. Leider stieg aber kaum jemand aus, so dass sie auch nach etlichen Stunden noch keinen Sitzplatz fand und ihren unkomfortablen Platz behalten durfte. Zwischendurch fragte sie der Schaffner etliche Male, ob sie eine noch Zugestiegene sei, worauf sie ihm brav ihre Fahrkarten unter die neugierige Nase hielt, und in Köln hieß es dann umsteigen. Sie war spät dran, hatte ihren eigentlichen Anschlusszug längst verpasst, doch wenn sie sich beeilte, konnten sie noch eine Regionalbahn in gleicher Richtung erwischen, aber nur, wenn sie sich beeilte. Sie schnappten also ihre Sachen und hetzte los, einmal quer über den Bahnhof, rücksichtslos durch die Menge, bis hin zu einem Bahnsteig, auf dem sie mit einer krächzenden Lautsprecherstimme begrüßt wurde, die ihr mitteilte, dass der Zug noch auf Anschlussreisende warte. Schwitzend und schnaufend sprang sie auf, bereit, sofort weiterzuhetzen, doch wie sich herausstellte, zog sich das Warten auf die Anschlussreisenden noch etwas hin. Dafür aber fand sie endlich einen Sitzplatz, einen dieser alten, schön kunstledern gepolsterten, die um einiges älter waren als sie selbst, und dass der Stempel 'Deutsche Reichsbahn' fehlte, war dann auch schon alles. Die Anschlussreisenden trafen nach und nach ein, es füllte sich, eine Frau mit mehreren Einkaufstüten setzte sich neben sie und steckte sich eine Zigarette an, eine Aktion, die sie fortan immer wiederholte, sobald sie die alte gerade ausgedrückt hatte. Sie waren froh, dass sie kurz darauf noch einmal umsteigen musste, auch wenn es langsam zur Nerverei wurde, mit dem sperrigen Gepäck immer wieder über überfüllte Bahnsteige zu hetzen, aber wenigstens war der Zug diesmal wieder moderner, und Sitzplätze waren auch noch frei. Ermattet ließ sie sich in die Polster fallen, fühlte sich ausgelaugt und hatte den Kampf gegen die Erschöpfung längst verloren. Es wurde Zeit, dass das Schicksal wieder gnädiger mit ihr umging und sie in Kürze einen Weg finden ließ, der ihr mehr zusagte als alle bisherigen. Verdient hatte sie das auf alle Fälle, denn im Grunde verlangte sie doch nicht mehr als das Leben führen zu können, das sie sich erträumte.
*****
Aufgrund der Hitze, die seit Tagen über der Stadt lag und sich nachts in den Zimmern einnistete, schlief Ramona schlecht, hatte wirre Träume und erwachte meist noch, bevor morgens ihr Wecker klingelte. Auch heute wälzte sie sich schon früh in ihrem Bett herum und stand bald schon sehr früh auf, weil es sich nicht lohnte, noch einmal einzuschlafen. Da ihr zur lästigen Hausarbeit die Lust fehlte, holte sie stattdessen Brötchen und deckte einen üppigen Frühstückstisch. Leider hatte es sich bei ihr und Felix eingebürgert, morgens zu spät aufzustehen und daher hetzen zu müssen, und das Familienleben blieb dabei auf der Strecke. Sie wollte Felix auch nicht das Gefühl geben, eine Glucke zu sein oder ein hilfloses Mütterlein, um das er sich zu kümmern hatte, was oft dazu führte, dass sie manchmal tagelang gar nicht miteinander sprachen, weil er morgens in der Schule und sie nachmittags bei der Arbeit war.
Als es für Felix Zeit wurde, aufzustehen, betrat sie langsam sein Zimmer und wurde beinahe vom Schlag getroffen. Trotz der Hitze war das Fenster geschlossen, und das dem Geruch nach schon seit mehreren Wochen, und außerdem sah es aus als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall lagen Kleidungsstücke herum, vom Teppich war kaum noch etwas zu sehen, und wenn sie nicht gewusst hätte, wo das Bett ihres Sohnes stand, hätte sie es in dem Durcheinander sicher nicht gefunden.
Ohne Vorwarnung zog sie ihrem Sohn mit einem Ruck die Bettdecke weg, was ein unmotiviertes Grummeln zur Folge hatte. Felix war schon immer ein Langschläfer gewesen, weshalb es lebensgefährlich werden konnte, ihn aus seinen Träumen zu reißen. Geistesgegenwärtig duckte Ramona sich zur Seite weg und entwich dadurch dem Kissen, das ihr Sohn im Halbschlaf in ihre Richtung warf. Das Kissen traf auf der Fensterbank auf und riss den Blumentopf des halb vertrockneten Efeus herunter, was aber das Chaos im Zimmer nur unwesentlich vermehrte.
„Komm schon, steh auf, Schlafmütze, du musst dich fertig machen und zur Schule.“
„Lass mich, ich schwänze heute.“, kam es gemurmelt aus dem Bett zurück.
„Ach wie nett. Und darf ich auch erfahren, wieso?“
„Weil ich deprimiert bin, und nun gib mir meine Decke wieder.“
Ramona dachte gar nicht daran, seiner Aufforderung nachzukommen, sondern zog ihm auch noch das Kissen unter dem Kopf weg und gab ihm damit einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. Es hätte keinen Sinn gemacht, ihn zu fragen, warum er deprimiert war, solange er noch halb im Land der Träume war, darum ging sie nach unten, setzte Kaffee auf und wartete. Zehn Minuten später schlurfte ihr Sohn dann auch in die Küche, rieb sich den Schlaf aus den Augen und steuerte wie sonst auch auf den Kühlschrank zu, um sie wie sonst seine Milch zu holen. Plötzlich fiel sein Blick auf den gedeckten Tisch, und er zog die Stirn kraus.
„Ähm... gibt’s irgendwas zu feiern? Habe ich deinen Geburtstag oder Muttertag vergessen?“
Sein irritiertes Gesicht brachte Ramona zum Schmunzeln, und sie ließ ihn einige Sekunden zappeln, bevor sie Entwarnung gab.
Nach dem ersten Bissen von seinem Brötchen und dem ersten Schluck Kaffe, wirkte Felix wieder ansprechbar, so dass sie endlich ihrer Neugierde nachgab und fragte, welche Laus ihm über die Leber gelaufen sei.
„Pepsi“, gab er missmutig Auskunft, „auf der Party war sie noch total super zu mir und gestern hat sie mich eiskalt abblitzen lassen.“
Er beichtete Ramona, ernste Absichten zu hegen, und das hatte er Pepsi, die eigentlich Pia hieß, auch gestanden, doch sie habe ihm erklärt, er sei nicht ihr Typ und sie wolle nur eine gute Freundschaft mit ihm. Vielleicht war Ramona, was moderne Musik betraf nicht mehr up to date, aber es gab Dinge, die änderten sich nie, und die Enttäuschung, die der Begriff 'gute Freundschaft' auslöste, gehörte definitiv dazu. Leider wusste sie auch nicht, wie sie Felix trösten sollte, denn egal, was sie ihm sagen würde, helfen konnte es nicht.
„Trotzdem solltest du deswegen nicht die Schule schwänzen, das bringt nämlich nichts.“
„Das sagst du nur“, antwortete Felix trotzig, „weil du glaubst, es sei deine pädagogische Pflicht, das zu sagen.“
„Das sage ich, weil ich genau weiß, dass es nichts bringt, sich abzukapseln. Aus pädagogischer Pflicht rate ich dir dringend, heute Nachmittag dein Zimmer aufzuräumen! Und lüften könntest du übrigens auch mal wieder.“
„Sag mal, hast du heute deinen autoritären Tag?“
„Vielleicht“, holte Ramona mit ernster drohender Stimme zum vernichtenden Schlag aus, „aber wenn du nicht aufräumst, sehe ich mich gezwungen, bis drei zu zählen!“
Beide sahen sich an und mussten laut lachen.
„Okay, wenn das so ist, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich gebe mich geschlagen.“
*****
Das Seelachsfilet brutzelte in der Pfanne vor sich hin, es musste nur noch etwas Weißwein und Dill in die Soße, dann würden sie endlich essen können. Tobi deckte schnell noch den Tisch, dann kehrte er in sein Zimmer zurück, um Anna zu holen. Als er eintrat, saß sie vor dem Computer und fluchte.
„Was ist denn los? Ärgert er dich wieder?“
„Ach was, der Rechner ist brav, seit ich ihm damit gedroht habe, seine Festplatte vor einen Zug zu schmeißen. Aber jetzt spinnt der Drucker.“
Tobi beugte sich über die Tastatur, klickte alle Fehlermeldungen weg, die aufgetreten waren, schloss Word und öffnete es erneut, klickte auf 'drucken' und alles funktionierte perfekt. Auf Annas Frage, wieso das Ding bei ihm das machte, was es sollte, bei ihr aber nur Mist fabrizierte, antwortete er kichernd, sein Rechner sei eben weiblich und daher von Natur aus zickig. Anna revanchierte sich mit einem Tritt vor sein Schienbein und warf dann dem PC einen giftigen Blick zu, der hasserfüllter nicht hätte sein können.
„Ich habe ja schon immer behauptet, die Dinger sind intelligente Wesen, die die Menschheit ausrotten wollen, indem sie uns in den Wahnsinn treiben.“
„Zumindest den letzten Teil könnte man von euch Frauen auch behaupten. Was machst du da eigentlich?“
Sie kopierte sich Texte von einer Website in Word, um sie dort dann auszudrucken, weil sie angeblich am Bildschirm nicht lange lesen konnte. Solange der Drucker aber nicht das tat, was sie von ihm verlangte, setzte sie hinzu, konnte sie leider auch auf dem Papier nicht lesen.
„Ja ja“, kommentierte Tobi sarkastisch, „das sind die modernen Zeiten. Früher hat man sich ein Buch gekauft, heute druckt man sich sein eigenes aus dem Internet.“
Anna erklärte, er solle sich gar nicht darüber lustig machen, denn unter diesen Webstories gäbe es etliche, die besser seien als manches, was gedruckt würde. Anfangs habe sie es auch nicht glauben wollen, aber je mehr sie auf der Seite gelesen habe, desto besser habe es ihr gefallen. Einige Leute veröffentlichten dort sogar ihre Romane, berichtete sie vor Begeisterung sprühend, und wenn der Drucker sich nicht querstellte, würde sie sich nachher auch noch einen davon ausdrucken.
„Ich glaube, du bist regelrecht internetsüchtig, aber mach du nur“, bremste Tobi sie besserwisserisch aus, „ich kümmere mich jetzt lieber ums leibliche Wohl.“
„Ach, ihr Männer seid doch alle gleich! Kaum interessieren wir uns für etwas und erzählen euch davon, tut ihr es als langweilig ab und hört uns gar nicht mehr zu.“
Statt einer Antwort setzte Tobi einen schuldbewussten Blick auf, dann ergriff er ihre Hand und zog Anna mit in die Küche. Kaum roch sie den Fisch, vergaß sie die Literatur und ihren Vorwurf, für Tobi ein Beweis dafür, dass keine Geisteswissenschaft gegen menschliche Grundbedürfnisse bestehen konnte. Er schenkte zwei Gläser Weißwein ein, setzte sich zu ihr und ließ es sich schmecken. Das Essen war besser gelungen als er erwartet hatte, und ihm schoss kurzzeitig durch den Kopf, eine Karriere als Meisterkoch zu machen. Zumindest hatte er auf dem Gebiet einige Vorkenntnisse, und eine Pleite wie bei seinem Ausflug in die Welt der Eventmanager würde ihm nicht drohen. Erst gestern hatte er mit Kira noch einmal Bilanz gezogen und dabei festgestellt, dass sie für den Verlust, den sie gemacht hatten, den Club auch gleich hätten kaufen können.
„Gut, ich habe mich geirrt“, murmelte Anna mit vollem Mund, „du bist doch nicht wie alle anderen Männer. Ich kenne absolut keinen, der so gut kochen kann.“
Für das Kompliment bedankte er sich mit einem Kuss, dem sie aber auswich, weil sie, wie sie erklärte, gerade etwas gefunden habe, was ihr noch besser schmecke als seine Küsse. Tobi dachte noch immer über die Party nach, ärgerte sich noch immer, ganz egal, wie oft er sich auch einredete, dass sie ja ihr eigentliches Ziel erreicht hätten.
„Hey, was ist denn los“, wunderte sich Anna immer noch kauend, „das sollte ein Scherz sein...“
„Was?“
„Das mit den Küssen war als Scherz gemeint. Sag mal, worüber denkst du überhaupt die ganze Zeit nach?“
Da er keine Lust hatte, sich von ihr noch einmal sagen zu lassen, dass sie Marius glücklich gemacht hatten und dass alleine das zählte, winkte er ab und verbot sich insgeheim, weiter über die Party nachzudenken. Rückschläge gab es immer wieder, sein ganzes Leben war voll davon, und wenn man sich davon alles verderben ließ, war man selber Schuld.
„Kann ich mal eine von deinen Geschichten lesen?“, fragte er deshalb.
Nach dem Essen reichte Anna ihm einige ihrer Ausdrucke, er setzte sich aufs Bett und fing an zu lesen. Schon nach der ersten Geschichte musste er ihr Recht geben, das, was da geschrieben wurde, war tatsächlich nicht schlecht, manches sogar sehr amüsant, und ablenken konnte man sich damit außerdem. Er las sich regelrecht fest und merkte darum auch nicht, wie Anna ihn von der Seite beobachtete.
„Du sag mal“, unterbrach sie ihn schließlich, „kannst du mir mal verraten, warum du die ganze Zeit beim Lesen mit dem Blatt hin und her wackelst?“
„Was? Tue ich das? Hm... na, das ist doch Internetliteratur, und ich hatte Angst, dass ein Bildschirmschoner kommt, wenn ich zu lange nicht umblättere.“
„Schon klar“, lachte Anna, „ich glaube nur, ich bin nicht die einzige, die hier internetsüchtig ist.“
*****
Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel herab, keine Wolke war zu sehen und der Sommer zeigte sich von seiner besten Seite. Marc und Steven waren froh, dass der Fahrtwind sie ein wenig abkühlte, denn sie waren schon seit Stunden mit ihren Rädern unterwegs und strampelten, was das Zeug hielt. Auf Pausen hatten sie bisher weitestgehend verzichtet, denn schließlich galt es, sich etwas zu beweisen, und sie wussten, wenn sie wieder in jedem Dorf eine Pause machten, würden sie nie zuhause ankommen. Auch sprachen sie nicht viel miteinander, nur am Anfang, inzwischen aber hing jeder von ihnen seinen Gedanken nach und genoss die Schönheit des Wiehengebirges und der einsamen kleinen Straßen, die sie fuhren. Marc genoss die Illusion vollkommener Freiheit ebenso wie die körperliche Anstrengung, denn beides ließ ihn sich lebendig fühlen wie selten zuvor. Dazu kam jenes Glücksgefühl, das anhielt, seit er Yasmin zum ersten Mal geküsst hatte.
Vorhin erst hatte Steven sie als süßes Schnittchen bezeichnet und Marc zu seiner Eroberung beglückwünscht. Früher hätte er sich über ein derartiges Kompliment, das nicht ganz frei von Neid war, sicher gefreut, heute hatte es ihn geärgert. Yasmin war ganz bestimmt kein Schnittchen oder dergleichen, und eine Eroberung war sie auch nicht. Sie war nicht wie die anderen Mädchen, mit denen er sich die Zeit vertrieb, sondern zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau, die er als Partnerin sah, jemand, der mit ihm auf einer Stufe stand und damit alles andere als seine Beute war. Er konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob sie ihm oder er ihr ins Netz gegangen war, weil es unwichtig war. Aus einer Art Verachtung, die daher rührte, dass sie sich im Grunde sehr ähnlich waren, war eine gewisse Achtung und schließlich Liebe geworden. Marc sah in Yasmin das weibliche Gegenstück zu sich selbst, sie war selbstbewusst, zielstrebig und erreichte immer das, was sie sich vorgenommen hatte. Anfangs hatte ihn das abgestoßen, weil es ihm einen Spiegel vorhielt, der ihm nicht gefiel, dann hatte er sie dafür bewundert und inzwischen wusste er, sie beide waren sich nicht nur ähnlich, sondern ergänzten sich zu einem unschlagbaren Team. Vielleicht konnte das niemand nachvollziehen, doch ihm war jetzt glasklar, dass er sich eben nicht nach einer Frau sehnte, die ihn bedingungslos bewunderte und damit seinem Ego schmeichelte, sondern jemanden, der ihm stark gegenüber trat.
Neugierig wie er war, hatte sich Steven auch dreist nach Yasmins Qualitäten im Bett erkundigt, und Marc hatte ihm wahrheitsgemäß geantwortet, es gäbe keinen Grund zur Klage. In Wirklichkeit war es sogar besser als das, denn seine bisherigen Freundinnen hatten selten die Initiative ergriffen, ganz im Gegensatz zu Yasmin, die auch in dieser Hinsicht genau wusste, was sie wollte. Aber wenn er früher oft mit seinen Bettgeschichten geprahlt hatte, behielt er die Details diesmal für sich, und schließlich merkte selbst Steven, dass die Beziehung seines Freundes eine andere Qualität hatte als die meisten bisherigen.
Ihr weiterer Weg führte sie über längere Zeit bergauf, sie kamen langsamer voran als zuvor, die Sonne knallte ihnen jetzt genau ins Gesicht, und der Schweiß rann ihnen von der Stirn. Steven spürte wie seine Beine schmerzten und er brauchte dringend eine Pause, nur würde er sich bestimmt nicht die Blöße geben und Marc um eine Rast bitten. Also kämpfte er weiter gegen die Steigung an, biss die Zähne zusammen und dachte sehnsüchtig daran, dass jeder Weg, der einen Berg hinauf führte, irgendwann auch wieder abwärts gehen musste. Leider stellte sich diese Annahme heute als falsch heraus, denn anstatt bergab, ging es lediglich eben weiter, und Steven bewunderte seinen Begleiter für dessen Kondition und folgte ihm keuchend. Im Grunde hatte er Marc schon immer bewundert, war immer derjenige gewesen, der ihm gefolgt war. Schon zu Schulzeiten war Marc immer jemand gewesen, dem alles zu gelingen schien, der sozusagen alles zu Gold machte, was er anfasste und dabei eine Selbstsicherheit und vor allem Selbstzufriedenheit ausstrahlte, von der andere nur träumten. Es war mehr als bequem, mit einem solchen Menschen befreundet zu sein, hatte Steven sich immer gesagt, denn ein wenig davon würde ganz sicher auf ihn abfärben. Darum hatte er schon immer versucht, zu Marcs engsten Freunde zu gehören, und auch die Fahrt zu ihm, war im Grunde nur der Versuch, an dessen Glück teilzuhaben. Inzwischen aber war das bei Steven vorherrschende Gefühl Neid, weil ihm selbst leider längst nicht alles gelang, während Marc immer noch von der Welle des Glücks getragen wurde. Ihm gelang immer noch alles, und er kannte nicht das Gefühl, noch immer bei den Eltern wohnen zu müssen, obwohl alle Freunde in die Welt hinausziehen, feststellen zu müssen, dass Freundschaften nur so lange existieren wie die Umstände, unter denen sie zustande kamen, und auch nicht den Schmerz, den man empfindet, wenn man von der Freundin mit dem besten Freund betrogen wird. All dies würde es niemals in Marcs Leben geben, und darum beneidete er ihn, aber er würde sich lieber die Zunge abbeißen als das jemals zur Sprache zu bringen und über seine wahren Motive für diese Fahrt zu reden.
*****
Voller Hingabe schrubbte Lena den Hasenkäfig, während das Tier neben ihr saß und interessiert dabei zusah. Marc war noch immer auf seiner Fahrradtour, und ihr hatte er aufgetragen, sich um Tschaikowsky zu kümmern. Die Aufgabe erfüllte sie mit Stolz und sie bewältigte sie spielend. Außerdem hatte ihr Papa ihr erlaubt, sie dürfe Tschaikowsky die ganze Zeit über in ihrem Zimmer lassen, und das war natürlich das allertollste. Abends vorm Zubettgehen streichelte sie ihn lange oder las ihm etwas vor, und den ganzen Tag über konnte sie das Kaninchen wann immer sie wollte aus seinem Käfig holen und mit ihm spielen.
Auf einmal klingelte es an der Tür, und da niemand außer ihr zuhause war, riss sich Lena von ihrer Arbeit los und öffnete. Ein großer, dicker Mann stand vor ihr, mit einem noch größeren Paket.
„Na du kleine Maus“, nuschelte er, „ich soll euren neuen Kühlschrank bringen. Darf ich reinkommen?“
Normalerweise durfte sie niemanden ins Haus lassen, wenn keiner da war, aber bei dem Mann mit dem Kühlschrank konnte sie bestimmt eine Ausnahme machen, und darum ließ sie ihn herein und zeigte ihm die Küche. Den großen Karton schleppte der Mann mit, und als er ihn auspackte, war tatsächlich ein Kühlschrank drin.
„Sag mal, bist du denn ganz alleine im Haus?“, fragte er als er das Gerät aus der Pappe wuchtete.
„Nein, ich bin nicht alleine, Tschaikowsky ist doch da.“
Zuerst guckte der Mann komisch, doch als Lena ihm erklärte, wer Tschaikowsky war, lächelte er und meinte dann: „Na, das ist ja ein ganz Süßer. Und du bist übrigens auch 'ne süße Maus.“
Dabei sah er Lena ganz merkwürdig von der Seite an, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Beim Einbauen des neuen Kühlschrankes, fragte er sie aus, wo denn ihr Vater wäre, und ob sie denn keine Angst habe, ganz alleine in dem großen Haus. Lena lachte und erklärte ihm, ihr mache das nichts aus, immerhin habe sie ja Tschaikowsky zum Spielen da, und langweilig würde ihr bestimmt nicht.
„Und wie lange sind deine Eltern noch weg?“
„Papa kommt heute Abend wieder, aber meine Mama ist für immer weg. Ich glaube die kommt nie wieder, und sie hat sich nicht mal verabschiedet.“
„Und dann spielst du den ganzen Tag mit deinem Kaninchen? Also wenn du willst kann ich dir auch noch ein paar tolle Spiele zeigen.“
Schon wieder grinste er dabei komisch, so dass Lena ein wenig Angst vor ihm bekam. Er war ihr unheimlich, obwohl er ja nur der Kühlschrankmann war und bestimmt nicht böse. Aber sie mochte ihn trotzdem nicht und wollte nicht mit ihm spielen. Außerdem stank er nach Schweiß und hatte Mundgeruch.
„Also, was meinst du“, drängte er, „soll ich dir ein schönes Spiel zeigen?“
„Nee ich mag nicht mit dir spielen.“
„Nun stell dich nicht an, Kleine, das Spiel wird dir gefallen.“
Als er das sagte, kam er auf sie zu und sie konnte seinen Atem riechen. Wenn sie eben noch neugierig war und überlegt hatte, ob sie doch mit ihm spielen sollte, hatte sie jetzt nur noch Angst und wollte, dass der Fremde ging. Diesen Gefallen tat er ihr allerdings nicht, sondern er kam immer näher auf sie zu, Schritt für Schritt, und Lena wünschte sich, ihr Papa oder Kira wären hier.
„Komm schon, ich werde dir ein Geheimnis zeigen“, säuselte der Mann, „es wird dir gefallen. Du musst mir aber versprechen, dass du niemandem etwas erzählst.“
Mit einem weiteren Schritt nach vorne, packte er sie am Arm und zog sie zu sich. Von seiner Stirn lief jetzt der Schweiß, und er leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Lena wusste nicht, was er mit ihr vorhatte, sie war sich allerdings sicher, dass sie nicht mit ihm spielen wollte, egal, wie toll das Spiel auch werden mochte, denn sie hatte inzwischen mächtige Angst vor ihm und wäre am liebsten weggelaufen.
Dann schwang mit einem Mal die Küchentür auf und Julian stand im Zimmer. Der Kühlschrankmann zuckte zusammen und sofort riss Lena sich von ihm los und rannte Julian in die Arme. Sie zitterte und ein paar Tränen kullerten ihr über die Wange.
„Entschuldigung, dass ich störe!“, begrüßte Julian den Mann mit einem scharfen Unterton in der Stimme.
„Oh... ich bin hier, um den Kühlschrank einzubauen... und ich habe mich nur gerade ein wenig mit ihrer Tochter unterhalten... Sie sind doch der Vater, oder?“
„Nein, bin ich nicht. Ich bin nur der Spielverderber.“
Aus sicherer Entfernung beobachtete Lena wie der Mann jetzt ganz rot im Gesicht wurde, und sie war sich sicher, dass er doch böse war.
„Ich glaube, es ist besser, wenn sie jetzt gehen!“, forderte Julian tonlos und nahm Lena dabei in die Arme.
Ohne ein weiteres Wort packte der Kühlschrankmann seine Sachen zusammen und verschwand. Lena wusste noch immer nicht, was er von ihr gewollt hatte, und als sie Julian danach fragte, antwortete der nur, sie solle in Zukunft besser niemanden mehr ins Haus lassen, wenn sie alleine war.
*****
Die Freude über den neuen Kühlschrank wurde bei Marius extrem getrübt als er von Julian hörte, was vorgefallen war. Ohne zu Zögern erstattete er bei der Polizei Anzeige, wenngleich die Beamten ihm auch keine großen Hoffnungen machten. Zum einen war nichts passiert, und zum anderen würde man dem Mann leider keine unehrenhaften Absichten nachweisen können. Wenigstens hatte Lena die Angelegenheit schnell vergessen und widmete sich den ganzen Abend über dem Kaninchen.
Marius hingegen war fassungslos über das, was hätte geschehen können und seine Gedanken überschlugen sich ein ums andere Mal. Wie ein Tiger lief er im Wohnzimmer auf und ab, konnte keine Ruhe finden und sich auf nichts anderes konzentrieren. Gott sei Dank war Julian früher als geplant nach Hause gekommen, denn wenn Lena etwas passiert wäre, hätte Marius sich das nie verzeihen können. Das Mädchen war das absolut Wichtigste in seinem Leben, sein Lebensinhalt und die Vorstellung, dass jemand seiner Tochter etwas antun könnte, wühlte unbekannte Gefühle in ihm auf. Zum Glück war es aber nicht dazu gekommen, beruhigte er sich immer wieder und schickte ein Dankgebet zum Himmel. Lenas Schutzengel hatte in Julians Gestalt ganze Arbeit geleistet, und er musste sich zwingen, sich nicht auszumalen, was gewesen wäre, wenn es anders gekommen wäre.
„Hey, beruhige dich“, besänftigte ihn Kira, die er nicht hatte ins Zimmer kommen hören, „es ist alles in Ordnung.“
Damit hatte sie Recht, nur beruhigte es Marius nicht, er machte sich Sorgen und unerklärliche Vorwürfe, nicht genug für seine Tochter da zu sein und ihr nicht das zu bieten, was sie verdient hatte. Der Gedanke, sie könne es schlechter haben als andere Kinder, die in einer heilen Familie aufwuchsen machte ihm zu schaffen, nicht zuletzt, weil Lenas Lehrerin sich kürzlich wieder über deren Unkonzentriertheit in der Schule beklagt hatte. Der Gedanke, etwas falsch zu machen, ließ Marius nicht los, dabei wollte er doch nur das Beste für Lena.
„Weißt du“, schüttete er Kira sein Herz aus, „ich habe einfach Angst, ein schlechter Vater zu sein.“
Kira wiedersprach ihm energisch, versuchte ihm klar zu machen, dass längst nicht alle Väter so besorgt um das Wohl ihrer Kinder waren und gab zu, ihn sogar für seine Erziehungsmethoden zu bewundern. Er nehme Lena ernst, führte sie aus, nahm sie für voll und schaffe es dennoch, ein gesundes Maß an Autorität zu wahren. Sie fand es toll, dass ihm seine Tochter über alles ging, das sei längst nicht selbstverständlich. Dabei sah sie Marius tief in die Augen, und er wusste, sie meinte es ernst, was sie sagte.
Endlich gelang es ihm, sich ein wenig zu entspannen und er ließ sich neben Kira aufs Sofa fallen. Vielleicht lag sie gar nicht falsch, und immerhin bemühte er sich nach Kräften. Aber gerade das war oft sehr zermürbend, gab er zu, immer versuchen, stark zu sein und die Kontrolle zu behalten. Kira legte den Arm um ihn und verlangte zu wissen, warum er denn glaubte, nicht auch mal Schwächen zugeben zu dürfen. Niemand konnte immer nur alles richtig machen, wenn es nicht auch Momente gab, in denen er schwach war und bei anderen Kraft schöpfte. Zuerst verstand Marius nicht, was sie damit meinte, doch als er fragen wollte, schüttelte sie nur den Kopf und zog ihn dann sanft zu sich heran. Bevor Marius realisierte, was geschah, gab er ihr auch schon einen zärtlichen Kuss, bei dem alle Selbstbeherrschung von ihm abfiel. Als wäre sein Kopf ausgeschaltet und der Bauch habe das Kommando übernommen, umarmte er sie, genoss ihren warmen Körper, der sich eng an seinen schmiegte und ließ es geschehen. Es war als platze bei ihm ein Knoten, und durch all die aufgestaute Anspannung der letzten Wochen und Monate brach plötzlich wieder sein unsicheres und sich nach Halt sehnendes Unterbewusstsein durch. Mit einem Mal wusste er, was ihm die ganze Zeit gefehlt hatte, und zwar Emotionalität, menschliche Wärme, dieses kleine Gefühl, jemanden zu haben, von dem man geliebt wurde. Allein von seiner Sehnsucht gesteuert umarmte und küsste er Kira, fühlte ihre weiche Haut unter seinen Fingern, schmeckte ihre Lippen und spürte eine Wärme in sich, die er viel zu lange verdrängt hatte.
Bis jetzt hätte er sich niemals eingestanden, wie lange er sich nach diesem Augenblick sehnte, nicht nur nach diesem Gefühl der Zuneigung, sondern nach genau dieser Frau, die seit Wochen mit ihm unter einem Dach lebte und ihm gerade gehörig den Kopf verdrehte. Er streichelte sie sanft, genoss ihre Finger, die über seinen Körper glitten, und vergaß die Welt um sich herum. Alles außer ihnen beiden war ausgeblendet, nur noch ihre Küsse zählte noch und die tiefe Leidenschaft, die sich mit seinem Blut durch seinen Körper und seine Gedanken pumpte. Er genoss jeden Zentimeter ihres Körpers, dort, wo sie ihn berührte, fing seine Haut an zu kribbeln, und er wünschte sich, dieser Augenblick würde ewig dauern.
Leider rief Lena in diesem Moment nach ihm, er solle ihr noch eine Geschichte vorlesen und zerstörte damit jäh den Zauber, der sie hatte schweben lassen. Kira lächelte ihn an, gab ihm einen letzten Kuss auf den Mund und riet ihm dann, er solle den Wünschen seiner Tochter lieber nachkommen. Ein wenig enttäuscht aber noch mehr verwirrt und aufgewühlt folgte Marius Lenas Ruf und setzte sich zu ihr ans Bett. Er las ihr etwas vor, hätte jedoch später nicht mehr sagen können, um was es sich handelte, denn sein Bewusstsein war wie von einer schneeweißen Wolke umnebelt. Es würde ein wenig dauern, bis er seine Gedanken wieder ordnen und das, was gerade über ihn gekommen war einschätzen könnte. Auch wenn er es noch nicht verstand, war er sicher, dass es nicht falsch sein konnte, im Gegenteil, es war vielleicht das richtigste, was er in letzter Zeit getan hatte. Vor allem überraschte es ihn, dass so wenig so viel Gefühl auslösen konnte, und er fragte sich, wie es sich anfühlte, wenn sie beim nächsten Mal einen Schritt weiter gingen.
*****
Nach der Vorlesung und einem Abstecher in die wie immer überfüllte Mensa ließ sich Tobi mit einigen Kommilitonen im Schlosspark nieder und genoss die Sonne. Neben ihnen spielten einige Leute Frisbee, eine junge Frau tollte mit einem großen Berner-Sennenhund herum, und weiter hinten kickten ein paar Jugendliche mit einem Fußball herum. Tobi und seinen Freunden war es aber entschieden zu heiß für körperliche Ertüchtigungen, und darum lagen sie lediglich faul herum und genossen die zwei freien Stunden bis zur nächsten Veranstaltung. Ihre Gespräche kreisten um die Wochenendplanung, das Unvermögen der Lehrenden, ihnen den zu vermittelnden Stoff schmackhaft zu machen und natürlich um peinliche und pikante Geschichten aus dem Leben der Mitstudenten, die gerade nicht anwesend waren. Schließlich kamen sie auch auf die Planung der Sommersemesterferien und jemand fragte, wer von ihnen denn wohin in Urlaub fahren würde. Ziele wie Holland, Italien oder Ibiza wurden genannt, und Tobi wunderte sich wieder einmal über die finanziellen Möglichkeiten besonders derer, die sich sonst ständig über zu wenig Bafög beklagten.
„Wenn meine Freundin Urlaub bekommt, fliegen wir in die Dominikanische Republik“, verkündete jemand, „ist aber leider noch nicht raus.“
„Solltet ihr unbedingt machen, es ist echt super da.“, kommentierte jemand anders.
Ab und zu warf Tobi auch etwas ins Gespräch ein, doch die meiste Zeit über starrte er nur müde in den Himmel und sah den Wolken zu. Die vergangene Vorlesung hatte ihn gelangweilt, und die Gespräche der anderen schafften es auch nicht restlos, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Vielmehr genoss er das Nichtstun und seine Tagträume.
„Ich werde dieses Jahr überhaupt nicht groß in Urlaub fahren“, verkündete nun Raul, „dafür will ich allerdings unbedingt zum Hurricane-Festival.“
„Und wir werden auf jeden Fall zur Nature One fahren.“
„Seid ihr denn wenigstens im September alle wieder da, wenn wir unsere große Fachbereichsparty machen wollen?“
„Wir machen 'ne Fachbereichsparty?“
„Klar, zumindest wollten wir. Nur leider hat sich bisher niemand gefunden, der die Organisation übernimmt. Hey! Willst du das nicht machen, Tobias?“
Als er seinen Namen hörte, schreckte Tobi hoch und war sofort ganz Ohr. Er hatte schon vor Wochen das Gerücht gehört, dass einige Leute in den Semesterferien unbedingt eine Party veranstalten wollten, nur bis jetzt wusste er nicht, um was es dabei gehen sollte. Ihm wurde erklärt, es sei die Idee aufgekommen, eine Fete zu veranstalten, um damit vielleicht genug Geld für eine für den Herbst geplante Exkursion eintreiben zu können.
„Komm schon, du hast doch im Labor neulich erst irgendetwas organisiert, und das soll nicht mal schlecht gewesen sein.“
„Na ja, schlecht war die Party vielleicht nicht“, räumte er ein, „aber zumindest finanziell war es ein Fiasko, und ich weiß nicht, ob ihr das Risiko eingehen wollt.“
Noch eine Weile wurde hin und her überlegt, am Ende stand jedoch fest, Tobi war der einzige, der schon mal eine größere Veranstaltung organisiert hatte. Sein Zögern wurde ihm als Bescheidenheit ausgelegt, und Raul, der einzige von den anderen, der beim 'Dance on Volcano' dabei gewesen war, beteuerte immer wieder, dass es eine tolle Party gewesen war und Tobi sein Handwerk verstand. Das Lob ging ihm natürlich runter wie Öl, und nachdem die anderen ihm versicherten, er müsse diesmal keinesfalls das finanzielle Risiko tragen, willigte er ein.
Nachdem dies also geklärt war, richtete Tobi seinen Blick wieder gen Himmel und ließ seine Gedanken schweifen. Selbstverständlich fühlte er sich geschmeichelt, noch einmal die Chance zu bekommen, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen, und in seinem Kopf entwickelten sich auch bereits die ersten Ideen dafür. Vielleicht war ja seine Karriere als Partyveranstalter doch noch nicht komplett gestorben.
*****
„Kann mir nicht mal einer von euch sagen“, fragte Felix in die Runde, „wie man ein Mädchen rumkriegt, von dem man schon einen Korb geerntet hat?“
„Ist doch ganz einfach“, antwortete Marc ihm prompt und zwinkerte ihm dabei zu, „du lässt auf einer Party deinen Charme spielen, machst ihr schöne Augen und Komplimente, und wenn du sie weichgekocht hast, steckst du ihr, was du wirklich willst. Das klappt immer, sogar bei Yasmin hat es funktioniert.“
Noch bevor er den Kopf einziehen konnte, schlug Yasmin nach ihm und fluchte etwas, das die Worte 'Männer' und 'Schweine' beinhaltete. Alle anderen mussten jedoch lachen und amüsierten sich über ihre Entrüstung.
„Und falls die Masche von unserem Obermacho wider Erwarten nicht ziehen sollte“, schaltete sich jetzt auch Tobi ein, „füllst du sie mit Alkohol ab bis sie willenlos ist.“
Seine Äußerung ließ Yasmin von Marc ablassen und jetzt auf ihn losgehen. Felix musste natürlich mitlachen, war allerdings mit der Antwort nicht zufrieden. Er hatte es ernst gemeint, denn er hatte sich bis über beide Ohren in Pepsi verknallt und wollte auch nach ihrer Abfuhr nicht kampflos aufgeben.
„Ich meine ja nicht nur rumkriegen, sondern vielmehr ihr Herz gewinnen. Wie stelle ich es an, dass sie sich in mich verliebt?“
„Also dann musst du härtere Geschütze als nur deinen Charme auffahren und ihr rote Rosen schicken, Liebesbriefe schreiben und nachts unter ihrem Fenster ein Ständchen singen.“
„Ach ihr seid doch alle blöd! Ich habe nicht vor, mich lächerlich zu machen, sondern will eine Beziehung mit ihr.“
Er hätte gar nicht fragen sollen, schoss es ihm durch den Kopf, sie machten sich doch nur über ihn lustig. Dabei war es ihm ernst, und er hätte gerne einen ehrlichen Tipp erhalten. Ein Patentrezept gab es für sowas bestimmt nicht, aber wenigstens eine Idee, wie er es anstellen könnte, die nicht komplett bescheuert war.
„Im Grunde ist es gar nicht falsch“, meldete sich Kira zu Wort, „Frauen mögen es, wenn sie umschwärmt werden und wenn man um sie kämpft. Und Rosen mögen zwar aus der Mode gekommen sein, aber ich finde sie dennoch romantisch.“
Julian zuckte mit den Schultern und bezweifelte dann kopfschüttelnd: „Mag ja sein, aber wenn sie ihm sowieso schon einen Korb gegeben hat, ist es zwecklos. Da bleibt dann nur noch aufgeben und auf die nächste Gelegenheit warten.“
„Nicht jede Liebe ist eine Liebe auf den ersten Blick“, widersprach ihm Marius, „manchmal dauert es eben, bis man merkt, was man für einen Menschen empfindet. Und dann wäre es schade, wenn man zu früh resigniert hat.“
Auf keinen Fall hatte Felix vor, die Flinte zu früh ins Korn zu werfen. Immerhin hatte sich Pia von ihm küssen lassen, und ihre aussage, er sei nicht ihr Typ klang auch eher nach einer Ausrede. Er hoffte jedenfalls darauf, dass es nur noch ein wenig Überzeugungsarbeit bedurfte, um ihr Interesse an ihm zu festigen.
„Ich finde, wenn du denkst, sie mag doch schon und ist sich nur noch nicht ganz sicher“, schlug jetzt Yasmin vor, „dann solltest du dich rar machen und abwarten.“
„Genau, oder besser noch dich in Pias Gegenwart mit anderen Mädchen zeigen und sie damit eifersüchtig machen.“
„Und außerdem könntest du andere Leute bitten, sie sollen in ihrer Gegenwart von dir schwärmen.“
Nachdenklich hörte Felix sich die Vorschläge an und ließ sie sich durch den Kopf gehen. Auf den ersten Blick klang das alles nicht dumm, und dennoch konnte er sich nicht vorstellen, mit solchen Tricks bei Pepsi Eindruck zu schinden. In amerikanischen Teenagerkomödien klappte das vielleicht, doch im wahren Leben würde er sich vermutlich nur lächerlich machen.
Während Felix seinen Gedanken nachhing und sich vorstellte, wie er von Pia ausgelacht wurde, redeten sich die anderen in Rage.
„Du könntest sie natürlich auch entführen lassen“, machte Tobi einen neuen Vorschlag, „jemand hält sie einen oder zwei Tage lang in einem dunklen Keller gefangen, und dann kommst du und rettest sie. Danach weicht sie bestimmt nicht mehr von deiner Seite.“
„Das ist doch alles viel zu unspektakulär. Wenn schon, dann muss ein Terrorist sie verschleppen, und gerade, wenn er sie unter dem Heger Tor hindurchschleift, springt Felix von oben im Spidermankostüm auf ihn nieder und überwältigst den Kidnapper.“
Felix musste lachen und erklärte kopfschüttelnd: „Dann wäre mir Batman aber lieber. Und außerdem kann Yasmin dann meinen Robin spielen.“
„Ich? Wieso denn ich?“
„Natürlich du“, konterte Marc, „wer würde dich nicht gerne in grünen Strumpfhosen sehen?“
„Strumpfhosen? Trägt Robin nicht kurze Hosen? Das mit den Strumpfhosen war Robin Hood.“
„Umso besser! Yasmin in Hotpants ist doch auch 'ne nette Vorstellung.“
Die Diskussion ging noch eine ganze Weile weiter, und schließlich war es Lena, die sie zu einem Ende brachte. Die ganze Zeit über hatte sie still neben Felix gesessen und sich alles angehört, doch jetzt resümierte sie: „Also wenn ich Pepsi wäre, würde ich mich in dich verlieben. Immerhin hast du mich vor dem blöden Christian gerettet als der mich verprügeln wollte. Das war viel cooler als Batman und Spiderman zusammen.“
*****
Übers Wochenende war Julian zu seinen Eltern gefahren, hatte sich dort mit alten Freunden getroffen und dabei die gleichen Erfahrungen gemacht, von denen auch Marc ihm erzählt hatte. Er hatte sich weiterentwickelt, nur in seiner Heimat hatte sich offenbar nichts verändert, sein Vater wollte ihn nach wie vor dazu überreden, in seiner Firma einzusteigen, und auch sonst war alles beim alten. Julian war inzwischen mehr denn je davon überzeugt, auf eigenen Füßen stehen zu wollen und nicht seinen vorgegebenen Lebensweg zu beschreiten. Wieder einmal hatte dieses Thema zum Streit zwischen ihm und seinen Eltern geführt, und er war gegangen, um den ewigen Bevormundungen aus dem Wege zu gehen.
Jetzt stand er mit drei ehemaligen Freunden vor dem Eingang ihrer ehemaligen Stammdisco, um hier alle leidigen Gedanken zu verdrängen. Die Schlange an der Kasse war deutlich kürzer als früher, aber noch immer beäugten die Türsteher jeden potentiellen Gast mit kritischem, arrogantem Blick. Vor ihnen strichen sich einige Mädchen, die aussahen als seien sie gerade erst vierzehn, nervös die Kleidung glatt und versuchten einem der muskelbepackten Aufpasser, die sich inzwischen Security-Guards nannten, klarzumachen, sie seinen achtzehn und hätten bloß ihren Ausweis vergessen.
Julian verdrehte die Augen, denn schon bei ihm vor einigen Jahren hat diese Ausrede nicht gezogen. Und wenn doch mal, dann hieß es meist nur, mit Turnschuhen käme man sowieso nicht rein. Dabei waren sie damals immer stolz gewesen, wenn sie, obschon noch lange nicht volljährig, das Wochenende mehr in einer dunklen, stickigen Disco als zuhause mit den Eltern Wetten-Dass-guckend verbracht hatten. Außerdem hatte es damals am Eingang meist noch einen dieser schicken Stempel auf den Handrücken gegeben, statt der Karten, die sie heute bekamen, mit den vielen Löchern und Zahlen darauf, die niemand begreifen konnte. Die Stempel konnte man am Montag wenigstens als Beweis anbringen, dass man dort in dieser Oase des Erwachsenwerdens und der Selbstbestimmung gewesen war. Nur war es dumm, wenn man keine Erlaubnis gehabt hatte, die Nacht in dieser die Jugend verderbenden Zone zu verbringen, und dann sonntags vor dem Mittagessen die blauschwarze Farbe vom Handrücken abzurubbeln bis die Haut ganz rot wurde, was leider auch nur unzureichend gelungen war.
Später als sie schon achtzehn waren und den ersten eigenen Honda Civic, ja, Honda, denn der Generation Golf waren sie knapp entsprungen, fuhren, galt es eine zeitlang als besonders gewagt oder beneidenswert, an einem Wochenende mehrere Discos aufzusuchen. Dann konnte man nämlich am Montag darauf gleich mehrere dieser Stempel aufweisen, und wer die meisten hatte, konnte sich etwas darauf einbilden.
Je mehr Julian in Erinnerungen schwelgte, desto glücklicher machte es ihn, dass diese Zeiten vorbei waren, und auch, wenn längst nicht alles lief, wie er es sich wünschte, genoss er es, ein eigenes Leben zu führen, das nicht von Gruppenzwang und Vorschriften durch Eltern und Lehrer geprägt wurde. Er traf inzwischen eigene Entscheidungen, machte eigene Fehler und war selbst für sein Handeln verantwortlich.
Als er nun mit seinen Freunden an der Theke ein Bier bestellte und sie ihre Augen über die Tanzfläche gleiten ließen, dachte er an die vergangenen Zeiten, die langsam aber sicher zu Erinnerungen verblassten. Anders als Marc wollte er die Zeit nicht zurückdrehen, sondern war froh über die Veränderungen und es fiel ihm nicht viel ein, was er hätte anders machen sollen. Der Blick auf die Tanzfläche belehrte ihn jedoch eines Besseren, denn einen Punkt gab es, an dem er damals gerne anders gehandelt hätte. Dort in der Menge tanzte Katharina, die Frau, die sich damals in sein Herz gebrannt hatte und die er niemals würde vergessen können. Ja, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen, dann würde er sie so hinbiegen, dass er sich damals getraut hätte, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Er würde die Uhr genau auf jenen Zeitpunkt stellen, an dem sie kurz vor dem Abitur genau hier zusammen getanzt hatten, die ganze Nacht hindurch, jenen Augenblick als er überlegt hatte, ob er es ihr endlich sagen solle. Damals hatte er nicht den Mut dazu gefunden, wenngleich ihm auch der Gedanke durch den Kopf geschossen war, es könnte vielleicht seine letzte Chance sein.
Aber warum? Warum sollte es seine letzte Chance gewesen sein? War es jetzt etwa zu spät dafür, ihr zu gestehen, was er all die Jahre für sie empfunden hatte? Mehrere Minuten lang beobachtete er sie, wie sie sich zur Musik bewegte und in den Melodien zu schwimmen schien. Alles um ihn herum verlor an Bedeutung, blendete sich aus seinem Bewusstsein aus, und es gab nur noch Katharina und ihn und die unausgesprochenen Gefühle, die zwischen ihnen standen. Was hatte Marius neulich noch zu Felix gesagt? Manchmal ist es schade, wenn man zu früh aufgibt. Bei Marius und Kira hatte es auch lange gedauert, bis sie sich gefunden hatten, aber schlussendlich hatte das Warten sich ausgezahlt. Und auch Yasmin und Marc waren glücklich, genauso wie Tobi und Anna, warum also sollte ihm das nicht auch gelingen?
Langsam leerte er sein Glas, atmete tief durch und begab sich dann auf die Tanzfläche, diesmal entschlossen, Katharina die Wahrheit zu sagen.
*****
Draußen war es immer noch schwül, und trotz des geöffneten Fensters stand die Luft im Zimmer und war zum Schneiden dick. Yasmin und Marc lagen ohne Decke im Bett, kaum mehr in der Lage, sich zu rühren, denn jede Bewegung war bei der Hitze schweißtreibend. Marc bemühte sich, einzuschlafen und träumte sich gerade an einen von Palmen eingerahmten Swimmingpool mit kristallklarem blauen Wasser als Yasmin sich abrupt im Bett aufsetzte.
„Hasi, hörst du das?“
„Was soll ich hören?“, murmelte Marc schlaftrunken zurück und kletterte gedanklich wieder aus seinem Pool.
„Na da“, sie deutete in die Dunkelheit, „dieses Surren.“
Ein wenig genervt spitzte Marc die Ohren und lauschte. Außer einem vorbeifahrenden Krankenwagen und wenigen Stimmen, die von der Straße her zu ihnen heraufdrangen, hörte er gar nichts. Gerade schon wollte er sich wieder in die Kissen zurücksinken lassen als Yasmin neben ihm plötzlich schrill aufschrie.
„Doch! Ich habe es ganz deutlich gehört. Da ist eine Mücke!“
Das letzte Wort sprach sie mit einem Unterton der Verachtung aus, zu dem nur Frauen fähig sind, und der ihm sagte, dass sein Pool noch etwas auf ihn warten musste. Wieder lauschte er mit ihr zusammen angestrengt in die Nacht, und diesmal hörte er auch tatsächlich ein leises die Stille brutal zerschneidendes Sirren. Es rührte unverkennbar von einer Mücke her, und Marc ahnte bereits, was zu tun war.
„Du weißt ganz genau, dass ich die Viecher nicht ausstehen kann, Hasi“, schmollte Yasmin und ließ ihre Stimme dabei dennoch fordernd wirken, „Und ich kann nicht schlafen, solange dieses Monster in meinem Zimmer ist.“
„Vielleicht fliegt sie ja raus, das Fenster ist schließlich noch auf.“
„Nein, sie fliegt nicht raus! Niemals fliegt sie raus. Du musst sie töten!“
Wie ein getreuer Ritter wischte Marc sich den Schlaf aus den Augen und stand auf, um für sein Burgfräulein den Drachen zu erlegen. Er schnappte sich eine Zeitung und lauschte angestrengt. Nichts war zu hören. Bestimmt hatte der kleine Blutsauger ihn bemerkt und versteckte sich jetzt bis Marc sich wieder hingelegt hatte, nur um dann erneut zu testen, wie schnell er den Feind zur Raserei brachte. Aus einem Impuls heraus versteckte Marc die zusammengerollte Zeitung hinter seinem Rücken und verharrte mitten im Zimmer. Und richtig, nach kurzer Zeit erklang wieder dieses nervenaufreibende Sirren.
„Da, da hinten“, rief Yasmin und fuchtelte mit den Armen, „da ist das Biest!“
Durch ihren Hinweis übertönte sie leider den schrillen Ton der Mücke und Marc verlor ihre Spur. Da ihm aber nichts anderes übrig blieb, drehte er sich in die von Yasmin angewiesene Richtung und verharrte erneut. Wieder dauerte es nicht lange, bis er den kleinen Vampir hörte, und diesmal sagte Yasmin zum Glück nichts. Er lauschte genauestens darauf, welche Richtung die Mücke einschlug, verfolgte sie, immer noch darauf bedacht, seine Waffe hinter seinem Rücken verborgen zu halten. Geduldig wartete, bis der Blutsauger sich setzte. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und nach kurzer Zeit, machte er auf der Spitze der Lavalampe eine kleine Gestalt aus. Luftanhalten, ausholen und zuschlagen. Die Zeitung traf die Lampe leider schräg von der Seite, so dass sie krachend zu Boden gefallen wäre, wenn Marc nicht schnell genug reagiert hätte. Er lauschte. Stille. Er lauschte noch einmal, immer noch Stille. Doch gerade wollte er schon in sein Bett zurückkehren, da surrte auch schon der Blutsauger ganz dicht an seinem Kopf vorbei als wolle er den Jäger verhöhnen. Wieder nahm Marc die Verfolgung auf und fühlte sich dabei wie ein Recke in schimmernder Rüstung, der sich vom übermächtigen Drachen nicht einschüchtern ließ. Diesmal nahm die Mücke auf dem Bücherregal Platz. Der nächste Schlag musste sitzen, denn die Bücher konnte er nicht alle daran hindern, polternd zu Boden zu fallen und eventuell das ganze Haus aufzuwecken. Marc spannte seine Muskeln an, fixierte den Feind mit entschlossenem Blick, dann zückte er sein Schwert und holte zum tödlichen Streich aus. Bevor er jedoch zuschlagen konnte, surrte der blutsaugende Vampir davon und entschwand durchs geöffnete Fenster und dann aus seinem Blickfeld.
Müde ließ Marc die Zeitung sinken. Er hatte den Drachen zwar nicht getötet, aber wenigstens vertrieben. In Anbetracht der Übermacht des Feindes war dies ein Erfolg für ihn, und er konnte mit Stolz geschwellter Brust zu seiner Königin zurückkehren. Nach einem letzten Lauschen tappte er zurück zum Bett. Anstatt von Yasmin jedoch wie ein Held empfangen zu werden, war sie inzwischen eingeschlafen und träumte wahrscheinlich gerade von seinen nächsten Heldentaten. Ohne Rücksicht zu nehmen, ließ er sich schwungvoll neben sie auf die Matratze fallen, wovon sie wieder erwachte und ihn verschlafen anblinzelte.
„Lieg doch mal still, ich will endlich schlafen“, grummelte sie statt einer Lobeshymne auf seine Heldentat.
Lächelnd schloss Marc sie in die Arme, gab ihr einen langen Kuss und legte sich neben sie.
„Eins wollte ich dir aber noch sagen“, mahnte er, bevor sie wieder einschlief, „Nenn mich nie wieder 'Hasi'!“
*****
Ein Mückenstich ließ Ramona erwachen. Sie reagierte instinktiv und klatschte blitzschnell in die Hände. Der Vampir erlag auf der Stelle seinen Verletzungen, doch auch ihre Hoffnung auf noch ein halbes Stündchen Schlaf war damit gestorben. Noch einmal versuchte sie ohne Erfolg, sich auf die andere Seite zu drehen und wieder einzuschlafen, dann stand sie auf und schnappte sich das Buch, in dem sie gestern Abend gelesen hatte. Die Geschichte um einen Schriftsteller, der ein Findelkind bei sich aufnimmt, fesselte sie bis es Zeit wurde aus den Federn zu kriechen. Während sie das Frühstück machte, musste sie daran denken, dass auch sie gerne noch ein zweites Kind gehabt hätte, am liebsten ein Mädchen, denn das hatte sie sich immer gewünscht. Nicht, dass sie mit Felix unglücklich war, aber früher hatte sie immer von einer großen, kinderreichen Familie geträumt, und auch ihrem Sohn hätte es bestimmt gut getan, mit einer kleinen Schwester aufzuwachsen. Wenn sie sich ansah, wie vernarrt er seit kurzem in Lena war, wusste sie, dass sie Recht hatte. Und auch sie selbst hätte sich drüben bei Marius sicher sehr wohl gefühlt, denn wenn ihre Nachbarn auch keine Familie waren, so beobachtete sie dort doch einen Zusammenhalt, den sie noch aus ihren Kindertagen auf dem Bauernhof ihrer Eltern kannte. Damals hatte sie es genossen, mit ihren Geschwistern, Eltern und Großeltern zusammen aufzuwachsen, und genau dieses Gemeinschaftsgefühl hatte sie später oft vermisst. Vielleicht waren aber Marius und seine Mitbewohner der Beweis dafür, dass man enge menschliche Bande in jeder Situation knüpfen konnte, und wenn sie es waren, war sie stolz darauf, wenigstens ein bisschen zu dieser Gemeinschaft zu gehören.
Als ein weicher Kaffeeduft sich wohlig in der Küche ausbreitete, unterbrach sie ihre Gedanken und machte sich auf den Weg, um Felix zu wecken. Sein Zimmer fand sie wie immer unaufgeräumt vor, aber zu ihrem Erstaunen konnte man wenigstens ansatzweise eine Ordnung erkennen, und zudem war das Fenster gekippt und es roch ausnahmsweise nicht muffig. Wie ritualisiert zog sie mit einem Ruck die Bettdecke weg, weil das die einzige Möglichkeit war, um Felix wachzubekommen, und starrte dann auf das ungewohnte Bild, das sich ihr bot. Felix war nämlich nicht alleine im Bett, sondern jenes Mädchen, dass er ihr als Pepsi vorgestellt hatte, lag neben ihm und blinzelte sie jetzt verschlafen an.
„Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht...“, erklärte Ramona peinlich berührt, „ich wollte Felix eigentlich wecken, aber ich wusste nicht, dass er nicht alleine ist.“
Schnell machte sie, dass sie aus dem Zimmer kam und deckte den Tisch eilig noch für eine Person mehr. Genauso gut hätte sie auch sauer werden können, fiel es ihr erst jetzt ein, denn schließlich war ihr Sohnemann noch minderjährig, und da konnte sie wohl verlangen, zu wissen, wen er mit nach Hause brachte.
Knapp fünfzehn Minuten später erschien Felix in der Küche, rieb sich den Schlaf aus den Augen und steuerte automatisiert auf den Kühlschrank zu. Kurz bevor er zur Milchtüte griff, entdeckte er den gedeckten Tisch und fragte: „Habe ich schon wieder eine Feierlichkeit vergessen oder wird das jetzt zur Gewohnheit?“
„Bei mir gibt es nichts zu feiern, aber bei dir vielleicht, oder?“
Felix setzte ein verlegenes Lächeln auf und wollte zu einer Erklärung ausholen, die er aber abbrach als Pepsi in der Küchentür erschien. Sie war im Gegensatz zu Felix frisch geduscht und ausgeschlafen. Prompt entschuldigte sie sich bei Ramona, dass sie es gestern versäumt hatte, sich vorzustellen, aber als sie mit Felix nach Hause gekommen waren, habe Ramona schon geschlafen. Da Ramonas Aufregung inzwischen sowieso verraucht war, nahm sie die Entschuldigung an.
„Nun setzt euch, solange die Brötchen noch einigermaßen warm sind. Möchte jemand Pepsi? Ich meine, möchte jemand Kaffee?“
„Ach so“, wandte das Mädchen ein, bevor sie Platz nahm und zugriff, „ich heiße übrigens Pia.“
Ihre offene Art machte sie Ramona auf Anhieb sympathisch und bügelte den ersten Eindruck, den sie durch die Musik auf Marius Party von ihr gewonnen hatte, gründlich aus. Der zweite Eindruck, den sie von Pia gewann, war äußerst positiv, das Mädchen schien sehr nett zu sein, es fiel beiden nicht schwer, Gesprächsthemen zu finden, und Ramona hatte auch nicht den Eindruck, sie verstelle sich nur, um bei der Mutter ihres Freundes gut Wetter zu machen. Es tat Ramona gut, endlich einmal wieder zu mehreren gemütlich zu frühstücken, auch, wenn Felix um diese Zeit noch nicht imstande war, viel zu den Gesprächen beizutragen.
„Ach, Felix“, setzte Ramona nach dem Frühstück an, „könntest du heute Nachmittag für mich einkaufen gehen? Der Zettel liegt auf dem Tisch.“
„Ja ja.“
„Nichts 'ja ja', ich habe keine Zeit, aber möchte heute Abend was zu beißen haben. Also denk bitte dran.“
„Muss ich“, hakte er mürrisch nach.
„Ja, du musst“, und dann fügte sie lächelnd hinzu, „ansonsten zähle ich bis drei...“
„Ja ja, schon gut.“
Felix nickte ergeben und machte eine Handbewegung, die andeuten sollte, wie wenig ihn das um diese Uhrzeit interessierte. Er hatte den Ruf, ein Morgenmuffel zu sein, und diesem Ruf musste er ja schließlich gerecht werden. Außerdem war er viel zu glücklich, um jetzt an profane Dinge wie einkaufen denken zu können.
„Wir müssen nachher eh noch in die Stadt“, fiel ihm Pia jetzt auch noch in den Rücken, „dann können wir gleich mit einkaufen gehen. Liegt doch auf dem Weg.“
Bis eben war er noch stolz auf seine Eroberung gewesen, doch langsam wurde ihm klar, dass jetzt die Frauen hier im Hause in der Überzahl waren. Nachdem seine Freundin gestern schon angefangen hatte, sein Zimmer umzuräumen, und sich jetzt mit seiner Mutter verbrüderte, konnten noch harte Zeiten auf ihn zukommen. Aber wenigstens verstand Ramona sich gut mit seiner Freundin, das war schon mal viel wert.
*****
Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass Kira menschliche Nähe und Wärme nicht als etwas Bedrückendes empfand. Marius Berührungen waren eine Wohltat für sie und weckten Gefühle, die sie jahrelang vermisst hatte. Im Gegensatz zu ihren vorherigen Beziehungen sehnte sie sich bei ihm nach Streicheleinheiten und hatte keinesfalls das Gefühl, sie würde ihn zu nahe an sich heranlassen. Sanft legte er seine Arme um sie, gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit und drängte sie zu nichts, was sie nicht wollte. Bei ihm konnte sie sich fallen lassen, spürte ein Kribbeln auf der Haut, wenn er sie berührte, und wünschte sich, dieser Augenblick könne ewig anhalten.
Die letzten Tage hatte sie oft an Lena gedacht und die Geschichte mit dem Mann, der den Kühlschrank gebracht hatte, war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. In ihren Träumen hatte sie sich an der Stelle des Mädchens gesehen und ihren Vater anstelle des Handwerkers. Oft war sie schweißgebadet aufgewacht, und jedes Mal hatte Marius sie tröstend in die Arme geschlossen und verständnisvoll auf sie eingeredet. Ohne viele Worte hatte er verstanden, was in ihr vorging, und ihre Ängste nicht als Verrücktheiten und Hysterie abgetan. Auf diese Weise gab er ihr die Kraft und den Halt, den sie all die Jahre vermisst hatte, ohne ihr dabei das Gefühl zu vermitteln, sie reagiere über oder sei therapiebedürftig. Lena selbst hingegen hatte den Vorfall längst vergessen, ihr war kaum bewusst, was hätte passieren können, und auch das machte Kira auf sonderbare Weise Mut. In ihrer kindlichen Naivität ließ das Mädchen nichts von dem an sich heran, redete kaum noch von dem bösen Mann und wusste, hier im Haus ihres Papas war sie in Sicherheit und niemand konnte ihr etwas anhaben. Und genau diese Sicherheit spürte Kira bei Marius auch.
Sie kuschelte sich jetzt noch enger an ihn, ergriff seine Hand und drückte sie zärtlich. Ihr Blick traf sich mit seinem, er lächelte, und sie versanken in einen langen Kuss. Neben aller Geborgenheit stieg nun auch Begierde in ihr auf, ein heißes Feuer loderte auf und als Marius sie weiter streichelte und über und über mit Küssen bedeckte, stand sie kurz darauf ganz in Flammen. Ihr Körper zitterte, jedoch nicht aus Angst, sondern aus dem unbekannten Gefühl der Leidenschaft heraus, einer Erregung, die stärker war als sie sich das je hätte träumen lassen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich ganz und gar auf den Mann neben ihr, ließ ihre Finger über seine Brust gleiten und überließ ihrem Unterbewusstsein die Kontrolle.
Bevor sie sich allerdings tiefer in ihr Liebesspiel verstricken konnten, unterbrach ein schrilles Klingeln an der Haustür ihr Schweben jenseits von Raum und Zeit und holte sie mit einem Schlag in die Realität zurück. Es klingelte noch einmal, und Marius lauschte. Wie so oft schien sich niemand im Haus für das Öffnen der Tür verantwortlich zu fühlen. Also erhob sich Marius mit einem Seufzer aus dem Bett und zog sich rasch an. Nach dem dritten Klingeln hörte Kira, dass die Tür doch noch geöffnet wurde, und da sie sowieso schon unterbrochen waren worden, lauschten sie beide gespannt, wer denn zu dieser späten Stunde geklingelt hatte.
Viel konnte Kira nicht verstehen, sie glaubte nur, Lenas Stimme zu erkennen und eine zweite, die sie nicht zuordnen konnte. Ein Blick zu Marius verriet ihr, dass auch er sich noch keinen Reim auf die späte Störung machen konnte. Offenbar handelte es sich allerdings um einen Bekannten, denn für einen Fremden unterhielt sich Lena schon zu lange mit dem Besucher. Da sie nicht wusste, was sie hätte tun sollen, zog Kira sich auch wieder an und schaute dann auf Marius, der immer noch lauschend und mit gerunzelter Stirn auf der Bettkante hockte. Sein kritischer Blick verhieß nichts Gutes, aber aus einem ihr unbekannten Grund zog Kira es vor, ihn nicht zu fragen, was dieser Ausdruck zu bedeuten hatte.
Wenig später hörte sie, wie die fremde Person offenbar hereingelassen wurde und daraufhin die Tür in Schloss fiel. Wenig später tappten schnelle, kurze Schritte über den Flur und Lena platzte aufgeregt ins Zimmer.
„Papa, du musst mal kommen.“, verlangte sie.
„Wieso, was ist denn los? Wer ist denn da?“
„Es ist Mama.“
*****
Völlig überrumpelt eilte Marius in die Küche und starrte Karina, die dort auf ihn wartete, unverwandt an. Sie war braungebrannt, hatte sich aber ansonsten kaum verändert. Trotzdem war sie wie eine Fremde für ihn, jemand aus einem anderen Leben, und auch wenn sie die Küche vor Jahren gemeinsam eingerichtet hatten, wirkte sie jetzt fehl am Platze.
„Karina“, fand er endlich seine Sprache wieder, „was tust du denn hier?“
„Ich bin zurückgekommen“, erklärte sie merklich nervös, „ich habe Frankreich verlassen, und jetzt bin ich wieder hier.“
Sie habe schon eher kommen wollen, fügte sie als Erklärung hinzu, habe aber bis heute nie den Mut dazu gefunden. In den letzten Tagen habe sie bei ihren Eltern gewohnt und hin- und herüberlegt, wie ihn und Lena am besten auf ihre Rückkehr vorbereiten sollte. Leider sei ihr dazu nichts eingefallen und sie habe sich überhaupt schwer damit getan, gab sie zu und vermied es die ganze Zeit, Marius ins Gesicht zu sehen. Das hier jetzt sei eher eine Kurzschlussreaktion gewesen, aber schließlich konnte sie nicht ewig warten, und ein unangekündigter Besuch sei ebenso gut wie jeder andere.
„Die Überraschung ist dir jedenfalls geglückt.“
„Das habe ich schon gemerkt als Lena meine Umarmung nicht erwidern wollte“, bestätigte sie konsterniert, „ich glaube, ich hätte mich wohl doch besser ankündigen sollen.“
„Was erwartest du?“, platzte es Marius heraus, „Du hast deine Tochter von einem Tag auf den anderen ohne Erklärung sitzen lassen. Das hat sie damals völlig aus der Bahn geworfen und nachhaltig das Vertrauen zu dir zerstört.“
Karina machte eine abwehrende Handbewegung und unterbrach Marius leise aber bestimmt: „Ich weiß, dass du mich vor dem Kind immer als die Rabenmutter hingestellt hast für die du mich hältst, aber darum geht es jetzt nicht.“
„Und worum geht es dann?“
In knappen Worten und als rede sie zu einem begriffsstutzigen Kind erklärte Karina ihm, sie habe sich damals in der Ehe nicht ausleben können, habe niemals zu sich selbst gefunden, habe sich von seiner fürsorglichen väterlichen Liebe erdrückt gefühlt, und deswegen sei sie gegangen. Sie habe dann mit ihrer Freundin in Frankreich ein neues Leben anfangen wollen, ein Leben, in dem sie die Person sein konnte, die sie war oder vielmehr sein wollte, doch auch das war gescheitert. Zu den Gründen wollte sie nichts sagen, das sei auch unwichtig, jedenfalls habe sie dort ihre Zelte abgebrochen und wollte nun in ihr altes Leben zurückkehren, um dort vieles besser zu machen als es früher gewesen war. Mit ihren Eltern hatte sie sich ausgesprochen, die Bande zu ihrer Freundin waren entgültig gekappt, und sogar in ihrem alten Job konnte sie wieder anfangen. Das einzige, was jetzt noch fehlte, waren Marius und Lena. Ihr war sehr wohl bewusst, dass es schwierig werden würde, und sie mache sich da auch keine Illusionen, sie sei sich jedoch ihrer Verantwortung als Mutter bewusst und das beste für ein Kind sei es nun einmal, in einer heilen Familie aufzuwachsen.
Nach ihrem Redeschwall brauchte Marius ein paar Minuten um alles, was sie gesagt hatte, in seinem Kopf zu ordnen. Wenn er sie richtig verstanden hatte, meinte sie, sie sei weggegangen, jetzt war sie wieder da und alles könne werden wie früher. Leider hatte sich jedoch bei ihm in der Zwischenzeit einiges gehörig verändert.
„Kannst du mir mal genau erklären, was du meinst“, fragte er, „ich meine, wie du dir vorstellst, was jetzt kommen soll?“
„Hundertprozentig genau weiß ich das auch noch nicht, ich denke nur, für das Kind ist es am besten, in einer heilen Familie aufzuwachsen, und daran sollten wir denken.“
„Das Kind heißt übrigens Lena, und sie wächst sehr wohl in geregelten Verhältnissen auf. Das, was sie aus der Bahn geworfen hat, war ihre Mutter, die sie ohne eine Erklärung zurückgelassen hat.“
Karina setzte ein überlegenes Lächeln auf wie sie es immer schon getan hatte, wenn sie versuchte, die Fassung zu wahren und wich dann aus: „Ich glaube, im Augenblick ist es der falsche Zeitpunkt, um sich zu streiten. Mir geht es nur darum, meiner Tochter alles zu bieten, was in meiner Macht steht, und ja, ich vermisse auch dich und möchte zu dir zurückkehren.“
„Karina, aber...“
Die Worte bleiben Marius im Halse stecken und nun war er es, der es vermied, sie anzusehen. Seine Gedanken überschlugen sich, lange verdrängte Gefühle schäumten in ihm hoch, er musste sich erst einmal setzen. Als wäre es gestern gewesen tauchten die Erinnerungen an den Tag als Karina ausgezogen war vor ihm auf. Seine verzweifelten Versuche, sie zurückzuhalten, ihre Entschlossenheit und die Hilflosigkeit, die er und Lena in den ersten Wochen ihres Alleinseins empfunden hatten. Dann erinnerte er sich an den Tag, an dem er beschlossen hatte, sich nicht dem Selbstmitleid zu ergeben, sondern einen Schritt nach vorne zu wagen und die Annonce in der Zeitung aufzugeben. Er erinnerte sich an die Tage als Tobi, Yasmin und Julian, Marc und schließlich Kira eingezogen sind. Alles, was sie innerhalb kürzester Zeit zusammen erlebt hatten, lief wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Der Stress als Julian mit Anna fremdgegangen war, sein Geburtstagsgeschenk, seine aufkeimende Liebe zu Kira, all das schoss ihm durch den Kopf und noch unzählige kleine Begebenheiten mehr.
„Karina, ich kann und will nicht mehr zurück“, sagte er mit entschlossener Stimme, „was mit Lena ist, weiß ich nicht, das musst du mit ihr besprechen, aber zwischen uns beiden ist zu viel kaputt gegangen als dass es noch reparierbar wäre, und in der Zwischenzeit ist zu viel passiert.“
Plötzlich merkte er, wie sich von hinten eine Hand auf seine Schulter legte und als er einen Blick zur Seite warf, stand Kira neben ihm. Karinas Blick verriet ihm, dass jede Erklärung überflüssig war. Wie ein störrisches Kind schob seine Exfrau sich an ihm vorbei, eilte schnellen Schrittes zur Haustür und ließ diese krachend hinter sich ins Schloss fallen. Marius atmete auf, dann schloss er Kira in die Arme und küsste sie, während alle Beklemmung, die er bis eben empfunden hatte, von ihm abfiel.
„Ich hatte Angst“, flüsterte Kira und sah ihn dabei mir ihren großen, dunklen Augen an, „Angst, dass du deine Meinung ändern könntest und ihren Wünschen nachkommst.“
„Das brauchst du nicht. Von Karina bin ich geheilt, und es gibt nur eine Person, mit der du mich teilen musst.“
„Lena?“
„Lena.“
Kira strahlte ihn an und küsste ihn abermals. Dann stellte sie mit einem Nicken fest: „Mit ihr teile ich gerne.“
*****
Epilog
Über dem großen Garten des idyllischen Grundstücks an der Côte d’ Azur schien die Sonne erbarmungslos und verbreitete eine schier unerträgliche Hitze. Kein Geräusch war zu hören, kein Wind wehte und jede Bewegung wurde zur Anstrengung. Nur ein Taxi fuhr über die Straße heran und hielt dann vor dem großen Haus. Ein Frau, bepackt mit zwei schweren Koffern, stieg aus, bezahlte den Fahrer und ging dann mit unsicheren Schritten auf die Haustür zu. Sie wirkte erschöpft und müde, und kurz nachdem sie geklingelt hatte, wurde ihr von einer zweiten Frau geöffnet. Die beiden unterhielten sich, dann gingen sie ins Haus, wo es etwas kühler war.
Karina war zurückgekommen, weil sie sich geirrt hatte. Es war nicht möglich, in ihr altes Leben zurückzukehren und dort weiterzumachen, wo sie vor Monaten aufgehört hatte. Darum hoffte sie, wenigstens hier eine zweite Chance zu bekommen, und ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es auch hier nicht möglich sein würde, ihre Entscheidungen ungeschehen zu machen. Zu viel war durch ihren Ausflug zerbrochen und die Ungewissheit würde von nun an zwischen den beiden Frauen stehen und das zerbrochene Vertrauen war nicht wieder zu kitten. Ihre Liebe war in Scherben zerbrochen und selbst, wenn sie die Teile wieder zusammensetzten, würde man immer noch die Bruchstellen erkennen können. Nach außen hin würden sie ihre Beziehung wieder aufnehmen und so tun als wäre alles wie vorher, doch in ihrem Inneren würden immer Risse zurückbleiben, die nicht einmal die Zeit vollständig heilen konnte.
Das Meer lag ruhig da, kein Lufthauch brachte es in Bewegung und auch an Land war alles in Stille und Bewegungslosigkeit gehüllt. Die Bäume, Sträucher und Blumen im Garten sahen aus wie Elemente eines Gemäldes, doch kein Leben ging von ihnen aus, alles lag da wie erstarrt und nur die Sonnenstrahlen überdeckten den Eindruck der Trostlosigkeit.
Während Südfrankreich unter der Hitzewelle nach Luft zum atmen schnappte, lockte der Sommer in Osnabrück die Menschen ins Freie und ließ sie diese schönsten Tage des Jahres in vollen Zügen auskosten. Ein frischer Wind schob weiße Wolken vor sich her, die Sonne durchflutete die Straßen und die angenehme Wärme sorgte offenbar überall für gute Laune. Die Zeitungsmeldung, Osnabrück sei die glücklichste Stadt Deutschlands schien sich heute zu bewahrheiten, und die Einwohner genossen ihr Glück. Kaum jemand blieb zuhause, die Fußgängerzone war gut besucht, und der Schlosspark quoll über vor Sonnenbadern. Bei den meisten Autos waren die Scheiben heruntergekurbelt, und vielerorts hörte man Musik aus dem Wageninneren.
Yasmin und Marc hatten sich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Rubbenbruchsee gemacht, um dort zu picknicken, und als sie jetzt durch die Stadt fuhren, kamen sie schneller voran als die meisten Autofahrer. Es war Yasmins Idee gewesen, ins Freie zu fahren, und Marc war sofort Feuer und Flamme für ein romantisches Picknick im Grünen gewesen. Komisch, dachte Yasmin, früher hatte sie sich nie viel aus der Natur gemacht, doch gemeinsam mit Marc genoss sie selbst hier in der Stadt schon die frische Luft, die ihnen um die Nase wehte. Dazu gab es ihr ein gutes Gefühl, wenn sie an all den Autofahrern vorbeiradelten, und Schadenfreude war bekanntlich die schönste Freude.
Marc fuhr hinter seiner Freundin her und ertappte sich immer wieder dabei, wie er ihr auf den Hintern guckte. Er hatte das große Los gezogen, sagte er sich immer wieder, und bis jetzt hatte er seine unzähligen One-night-stands nicht ein einziges Mal vermisst. Yasmin hatte alles, was er an einer Frau schätzte, und selbst ihre zickige Ader bekam sie bei ihm unter Kontrolle. Wahrscheinlich wusste sie, dass sie mit ihm nicht umspringen konnte wie mit Julian und arbeitete deshalb an sich, was ihr in Marcs Augen sehr gut bekam. Und seit einer Woche hatte sie ihn nicht einmal im Affekt noch einmal 'Hasi' genannt. Als sie jetzt endlich die Stadt hinter sich ließen, sog Marc die Sommerluft tief in seine Lungen auf und überlegte, wie er es anstellen konnte, Yasmin zu überreden, auch über Nacht hier draußen zu bleiben, denn eine Liebesnacht unter dem Sternenzelt würde sein Glück perfekt machen.
Ein Open Air Festival war wesentlich aufwendiger zu organisieren als eine Party in einem kleinen Club, musste Tobi feststellen, aber sie kamen gut voran bei der Planung der Fachbereichsparty, und das machte ihm Mut. Das Gelände für ihr Event sah noch aus wie ein mittelgroßes Schlachtfeld, aber bis zum Wochenende hatten sie noch Zeit, und bis jetzt lagen sie gut in der Zeit. Für Musik und Verpflegung war bereits gesorgt, die Plakate hingen überall in der Stadt, und vor allem waren die anderen von seinem angeblichen Organisationstalent total begeistert. Sie konnten ja nicht ahnen, dass er mangelnde Erfahrung mit Begeisterung ausglich, und außerdem schien er diesmal einfach ein glückliches Händchen zu haben. Bis auf wenige kleine Pannen klappte alles wie am Schnürchen, und das einzige, was noch fehlte, waren die Massen an Besuchern, die das Fest zu einem großen Erfolg machten. Aber die würden diesmal kommen, da war er sich ganz sicher, denn selbst der Vorverkauf war überraschend gut angelaufen.
Lena schob sich durch die Massen von Menschen, die heute in der großen Straße unterwegs waren. Vorhin hatten Felix und Pepsi sie gefragt, ob sie mit in die Stadt zum Shoppen kommen wollte, und sie hatte begeistert zugesagt. Inzwischen hatte sie allerdings keine Lust mehr, weil es viel zu voll in den Geschäften war und die grellbunten T-Shirts, die Pepsi ihr hatte aufschwatzen wollen, hatten ihr auch nicht gefallen. Am Anfang hatte es viel Spaß gemacht mit den beiden und sie war stolz, dass sie sie überhaupt mitgenommen hatten, doch jetzt wollte sie nicht mehr laufen und quengelte ein wenig herum. Zuerst dachte sie schon, Felix könnte sauer werden, aber dann gab er zu, dass auch er keinen Bock mehr hatte, und sie überlegten sich gemeinsam einen Plan, wie sie Pia wieder nach Hause locken konnten. Das Versprechen, ihr Papa habe noch ganz viel Eis im Kühlschrank überzeugte schließlich, und wenig später machten sie sich auf den Rückweg.
Nervös ging Julian vor der Eisdiele auf und ab und guckte alle paar Sekunden zur Uhr. Er war viel zu früh dran, und die Zeit verging auch nicht schneller, wenn er versuchte, die Zeiger mit seinen Blicken zu hypnotisieren. Dann endlich sah er sie, Katharina bog um die Ecke und steuerte mit einem Lächeln auf ihn zu. Als er sie beim Besuch bei seinen Eltern in der Disco getroffen hatte, hatte er sie gefragt, ob sie sich denn in Osnabrück nicht auch ab und zu treffen könnten, und sie hatte zugestimmt. Jetzt war es also soweit, und Julian hoffte, er würde sich nicht aus lauter Aufregung zu dämlich anstellen. Als Katharina ihn mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange begrüßte, konnte er nicht verhindern, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg, und weil sie ihn noch immer gut genug kannte, merkte sie sofort, was Sache war. Zu seinem Erstaunen ergriff sie jedoch nicht die Flucht, sondern lächelte ihr unnachahmliches Lächeln und ergriff wie selbstverständlich seine Hand als sie die Eisdiele betraten.
Kira streckte ihre Hand nach ihrem Glas aus und zuckte dann zurück als sie die Wespe daran sitzen sah. Sie saß mit Marius im Garten, ohne irgendetwas zu tun, und bis auf dieses penetrante kleine Insekt genoss sie den Tag als säße sie mitten im Garten Eden. Als Marius die Wespe bemerkte, holte er blitzschnell mit dem Buch, in dem er las, aus und schlug heldenhaft zu. Statt der Wespe traf er jedoch nur das Glas, das daraufhin klirrend zu Boden fiel und in tausend Scherben zerbrach. Kira lachte laut auf und erinnerte ihn daran, dass Scherben angeblich Glück brachten. Sein Glück habe er auch schon vorher gefunden, entgegnete er, dazu brauche er das blöde Glas nicht.
Während er grummelnd die Scherben vom Boden auflas, sah Kira ihm kichernd zu und verlangte, er solle sich künftige Heldentaten doch lieber verkneifen. Marius lächelte zurück und wurde sich mit einem Mal klar, dass er noch nie zuvor in seinem Leben glücklicher gewesen war. Vor gar nicht allzu langer Zeit war seine kleine Familie noch ein Trümmerhaufen gewesen und er wusste nicht, wie es weitergehen sollte, und jetzt hatte er eine neue Familie gefunden und konnte sich sicher sein, dass ihn nichts aus der Fassung bringen konnte. Gestern erst hatte er mit Lena über seine Liebe zu Kira gesprochen. Natürlich hatte das Mädchen die Tragweite seiner Ausführungen nicht begriffen, aber immerhin hatte er das Gefühl, sie leide nicht darunter, dass ihre Eltern nie wieder zusammenkommen würden, und diese Gewissheit war ihm wichtig, bevor er eine neue Beziehung einging. In den vergangenen Monaten hatte er die besten Freunde gefunden, die man sich wünschen konnte und jetzt auch eine Frau, die er bedingungslos liebte. Mehr konnte man nicht vom Leben erwarten, oder?
Ende