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6 Seiten

Play the Game - Teil 5

Schauriges · Kurzgeschichten
Alex überlegte hin und her. Sollte er seinem Freund helfen und dabei sein eigenes Leben riskieren? War es nicht das, was Freundschaft ausmachte? Würde Felix das nicht auch für ihn tun?
Nein, rief er sich zur Vernunft. Freundschaft zeichnete sich nicht zwingend dadurch aus, leichtsinnig für den anderen das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Solche Situationen kamen in der Realität eben kaum vor. Und nein, er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Felix umgekehrt sein Leben über das eigene stellen würde.
Es ging hier nicht um Egoismus, sondern, wenn überhaupt, um den Überlebensreflex, der nun einmal sehr stark war. Niemand würde sich einfach so in eine Klinge stürzen, nur um einen anderen zu schützen. Ein Leben für ein anderes war kein guter Tausch, erst recht nicht, wenn es das eigene war.
Dennoch sprang Alex testweise ein Spielfeld zurück. Sobald er die Plattform erreicht hatte, öffnete sich die Luke darüber und die zweischneidige Axt fuhr ein Stück herunter. So sprang er umgehend zurück auf sein Feld und sah erleichtert zu, wie die Luke sich kurz darauf wieder schloss.
Felix zu helfen war keine Option, das Spiel ließ es nicht zu. Er hatte es nicht anders erwartet und es bestätigte seine Befürchtungen. Das einzige, was ihm noch einen kleinen Stich versetzte, war, dass er sich tief in seinem Herzen oder seinem Bauch oder worin auch immer erleichtert fühlte, dass es jetzt nicht mehr seine Verantwortung war, Felix zu helfen.
Der klemmte immer noch zwischen den beiden Säulen, stemmte die Hände gegen die eine, die Füße gegen die andere. Sein linkes Bein begann zu zittern. Es musste ungemein kraftraubend sein und zudem eine schreckliche Folter, da er die Metallspitzen ja die ganze Zeit unter sich sehen konnte.
Seinem Gegner aus dem Zweikampf erging es kaum besser, der hing nämlich inzwischen nur noch mit den Fingerspitzen an der Kante. Zwischendurch hatte er versucht, sich hochzuziehen, da er aber keinerlei Halt an der glatten Säule fand, war er nur weiter abgerutscht. Jetzt hing er dort, krallte sich mit den Fingern oben fest und versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen.
Felix allerdings wagte jetzt, die linke Hand und den rechten Fuß für den Bruchteil einer Sekunde zu lösen und nach oben zu schieben. Anschließend ließ er die rechte Hand und den linken Fuß folgen. Es war nicht viel, nur ein paar Zentimeter, doch immerhin konnte er sich auch weiterhin zwischen die beiden Säulen klemmen und hatte so relativ sicheren Halt.
Nach einem Augenblick wagte er es erneut, stemmte sich so noch ein Stück weiter hinauf. „Ja, Felix, du schaffst das!“, rief Xenia ihm nun zu und auch Alex feuerte ihn an. „Gib nicht auf, es ist nicht mehr weit“, rief er. Wie um zu zeigen, dass es ihm neuen Mut gab, stemmte sich Felix wiederum ein paar Zentimeter nach oben.
Er musste die Körperspannung halten, aufpassen, dass er nicht abrutschte. Dann aber konnte es ihm gelingen, zurück nach oben zu klettern und dieses Duell für sich zu entscheiden. Alex sah zu Xenia, sie beide drückten ihm innerlich die Daumen, schafften es sogar, einander ein hoffnungsvolles Lächeln zuzuwerfen.
Der grüne Spieler merkte ebenfalls, dass auf der anderen Seite der Säule etwas vor sich ging und so bemühte er noch einmal, sich nach oben zu ziehen. Die Muskeln seiner Arme tratzen hervor, es kostete ihn wohl übermenschliche Anstrengung. Dabei suchte er mit den Füßen Halt, doch da die Säule wie alles andere im Raum aus glattem Metall war, gab es den nicht und anders als Felix hatte er ja von nirgendwo Gegendruck.
Durch sein Zappeln drohten seine Finger abzurutschen, er versuchte immer wieder, nach oben zu greifen, was ihm aber nicht gelingen wollte. Schließlich ließ er sich kraftlos wieder hängen, sah sich zu seinen verbliebenen Mitspielern um, von denen aber keiner Anstalten machte, zu ihm zu gelangen. Als ob dies die letzte Rückversicherung für ihn war, dass es keinen Ausweg aus dieser Situation gab, rutschten seine Finger nun wie in Zeitlupe ab und er stürzte nach unten.
„Dein Gegner ist weg, wenn du nach oben kommst, hast du es geschafft!“, hörte Alex nun Xenia rufen. Ja, sie hatte Recht, keine Frage. Er hatte genau das Gleiche gedacht, es eben nur nicht ausgesprochen. Dennoch erschreckte ihn, wie sie den Tod eines Menschen inzwischen so einfach wegstecken und nur noch als gelungenen Spielzug verbuchen konnten.
Dieses Spiel machte mehr mit ihnen als sie nur in Lebensgefahr zu bringen. Es veränderte sie auch. Auf lange Sicht machte es sie genau zu den kalten Spielfiguren, die sei sein sollten. Zumindest, wenn sie dem hier zu lange ausgeliefert waren und sich nicht dagegen wehrten. Das durften sie nicht zulassen. Auf keinen Fall. Trotzdem überwog auch bei Alex die Freude, dass Felix‘ Chancen sich durch den Absturz des anderen verbessert hatten.
Leider währte sie nur kurz, denn schon beim nächsten Versuch, sich weiter nach oben zu drücken, versagten Felix die Kräfte, er rutschte mit dem Fuß ab, es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können und er stürzte in die Tiefe. Dabei warf er Alex einen letzten Blick zu, einen Blick, der sich tief in seine Seele einbrannte. Verzweiflung lag darin, ebenso Erstaunen und Wut.
Allerdings wusste Alex nicht, ob es Wut auf das Spiel war, Wut auf die, die ihnen all das hier angetan hatten, oder aber auf Alex und Xenia, die sich doch zu schnell hatten abschrecken lassen, ihm zu helfen. Es konnte beides sein, Alex würde diese letzte Gewissheit nie erlangen können.
Felix Todesschrei drang zu ihm hinauf und bevor er den Blick abwandte, sah er seinen Freund und Teamkameraden kurz dort unten aufgespießt und blutend zwischen den Stacheln hängen und zucken. Warum hatte er hingesehen, fragte er sich. Ein erster Reflex, bevor die Schutzmechanismen seines Verstandes ihn dazu gebracht hatten, den Kopf abzuwenden. Auch dieses Bild, diesen Anblick der Todesqualen würde er nie wieder vergessen können.
Das Spiel ging unerbittlich weiter. Xenia war dran, würfelte eine Eins, sprang ein Feld vorwärts und wäre dabei fast abgerutscht, weil der Schock auch bei ihr tief saß. Zum Glück konnte sie sich doch noch fangen und ließ sich dann entkräftet auf die Plattform sinken. Anschließend war eine Spielerin aus Team Blau am Zug, danach der letzte verbleibende Spieler aus Team Rot, die es bisher am schlimmsten getroffen hatte.
Alex verfolgte all das kaum, auch nicht als die nächste grüne Gegnerin würfelte. Eine Sechs. Damit durfte sie weit vorrücken und dabei das Feld, auf dem Xenia stand, überspringen. Seit dem Tod ihres Teamkameraden hatte diese Spielerin sich ebenfalls nicht gerührt. Alex meinte, sie aus einer Fernsehshow zu kennen, eine dieser Kuppelshows an irgendeinem Strand, bei der sich die Teilnehmer früher oder später total zerstritten und Mobbing zur Abendunterhaltung erhoben.
Jetzt erinnerte er sich, dass er auch den Gegner von Felix aus der letzten Runde aus dem Fernsehen kannte. Diese beiden Spieler kannten sich also vielleicht auch. Er spürte Mitleid mit der Frau, die nun von Säule zu Säule sprang und der Xenia die Hand hinhielt, um ihr beim Überspringen zu helfen.
Sie ergriff die Hand, doch sah Xenia dabei nicht an. Stattdessen biss sie sich fest auf die Lippe und in diesem Moment dämmerte Alex, dass sie vielleicht mehr um ihren Mitspieler trauerte, als ihnen bewusst war. Nein, es war nicht nur Trauer, sondern ebenso Wut.
Die Erkenntnis kam zu spät. Denn sobald Xenia nun die Hand der anderen losließ, versetzte diese ihr einen Stoß vor die Brust und sah ihr nach, wie sie unten aufkam. Es war eine Racheaktion, ganz eindeutig. Nicht nötig für das Spiel, sondern Rache für die Zurufe von Xenia, der sie nun offenbar Schuld am Tod ihres Teampartners gab.
Fassungslos sah Alex zu der Frau hinüber und schrie: „Nein!“ Er konnte nicht fassen, dass Xenia so plötzlich nicht mehr da war, dass auch sie in diesem Spiel den Tod gefunden hatte. In diesem Moment wäre er am liebsten die wenigen Felder zurückgesprungen und hätte sich seinerseits für Xenias Tod gerächt. Es war das, was das Spiel aus ihnen machte. Spielfiguren, die nicht mehr Herr ihrer Sinne waren.
„Das war gegen die Regeln“, erklang stattdessen die Stimme aus den Lautsprechern. Über der grünen Spielerin öffnete sich die Luke und die Axt schwang heraus. Sie sprang zum nächsten Feld, doch auch hier öffnete sich die Luke über ihr. Da sie wusste, was ihr drohte, wenn sie stehenblieb, sprang sie einfach mehrere Felder zurück, auch wenn es ja letztlich kein Entkommen gab.
Überall schwangen nun Äxte herunter, wohin sie sich auch bewegte. Einige Male wich sie noch aus, dann aber verfehlte sie eine Plattform und stürzte. Die ganze Aktion hatte nicht lange gedauert, hatte dafür aber noch einmal deutlich gemacht, dass das Spiel unerbittlich war und sie keine Chance hatten. „Spielt weiter!“, kommandierte die Stimme.

Die folgenden Runden erlebte Alex wie in Trance. Zwar würfelte er und sprang die erforderliche Anzahl Felder vorwärts, was sonst um ihn herum geschah, bekam er jedoch nicht mit. Es interessierte ihn auch nicht, das Spiel interessierte ihn nicht, er spürte nur noch Verzweiflung.
Immer wieder kamen Erinnerungen an Xenia, Felix und Maxim in ihm hoch. Wie sie sich das erste Mal in einem Stream unterhalten hatten, wie sie angefangen hatten, gemeinsam zu zocken, an etliche gemeinsame Videoideen, die nicht immer gut, nicht immer fair, aber im Rückblick doch harmlos und lustig gewesen waren. Ihre Freundschaft war eine überwiegend virtuelle, dennoch war es eine Freundschaft. Es gab vieles, was sie verbunden hatte, gemeinsame Leidenschaften.
All das hatte hier ein Ende gefunden. Die drei anderen hatten hier ihr Ende gefunden, in diesem unsinnigen, unmenschlichen und unfassbaren Spiel. Der Hass in Alex wuchs und er wünschte sich nichts mehr als die, die ihnen das angetan hatten, zur Verantwortung zu ziehen. Im gleichen Maße schwand aber auch seine Hoffnung, dass er die Gelegenheit dazu bekommen würde.
Xenia, Maxim und Felix waren tot. Außer ihnen noch etliche andere. Von den anfänglich sechzehn Spielern waren noch sechs übrig. Das waren nicht viele. Und wofür? Was war, wenn sie die Plattform am Ende des Spielfeldes erreichten? Würden sie dann in Sicherheit sein? Alex fiel es schwer, daran zu glauben.
Trotz aller Verbitterung, die er spürte, gab es auch eine Stimme in ihm, die dennoch wissen wollte, was am Ende geschah. Ein Funken Neugier, vielleicht der Mut der Verzweiflung oder wie immer man es nennen sollte. Er wollte bis zum Ende durchhalten und erfahren, was ihn im Ziel erwartete.
So würfelte er weiter, rückte stetig Felder vor und schaffte es schließlich, ins Ziel zu gelangen. Erst einmal passierte nichts. Er musste auf eine Plattform springen, die größer war als die normalen Spielfelder und zur Mitte hin ausgerichtet war. Sie war zu drei Seiten mit einem Gitter umgeben, beinahe wie eine Fahrstuhlkabine.
Von dort aus verfolgte er das weitere Spielgeschehen. Noch einmal gab es einen Rauswurf, so dass es am Ende noch fünf Spieler waren, die das Ziel erreichten. Zwei aus dem blauen Team, aus jedem anderen lediglich einer. Sie alle standen nun in ihren Käfigen, erschöpft, ein wenig ratlos, auf keinen Fall glücklich über ihren Sieg, wenn überhaupt erleichtert, noch am Leben zu sein.
Die Monitore fuhren von der Decke herunter und die schwarze Maske erschien darauf. „Glückwunsch, ihr habt gewonnen“, sagte sie tonlos, wobei es trotzdem höhnisch wirkte. Alle Spieler nahmen es ohne große Reaktion auf. Sie blieben auch noch teilnahmslos, als sich vor jeder ihrer Käfige Türen schlossen und sie nun erneut eingesperrt waren.
„Warum?“, rief schließlich die Spielerin des roten Teams voller Resignation, „Was soll das alles?“ Die Maske schien sie von den Monitoren anzusehen, auch wenn keine Augen, kein Gesicht dahinter zu sehen waren.
„Brot und Spiele“, antwortete die Stimme schließlich. „Das ist es, was Menschen wollen. Das war schon immer so.“ Alex ließ sich auf den Boden der Plattform sinken und lehnte sich erschöpft gegen die Gitterstäbe. Die meisten anderen taten es ebenso. Sie waren ausgelaugt, kraftlos, gebrochen.
„Warum wir?“, fragte Alex und merkte dabei, dass es ihm kaum gelang, seiner Stimme noch den nötigen Druck zu verleihen. „Weil ihr Spieler seid“, kam es hallend aus den Lautsprechern. „Ihr habt in Realityshows für Aufmerksamkeit eure Würde verkauft, ihr habt im Internet alles getan, um Klicks zu bekommen, habt Freunde, Ideale und euch selbst verraten, um zweifelhaften Ruhm zu erlangen. Dies hier ist nur die nächste Stufe dieses Spiels. Und es gibt Leute, die viel Geld zahlen, um es zu sehen.“
Die Worte verhallten und hallten in Alex noch lange nach. Er war zu kraftlos, um darüber nachzudenken, zu erschöpft, um dagegen zu protestieren, zu leer, um weiterhin nach einem Ausweg aus all dem hier zu suchen. So registrierte er, wie die Plattformen sich in Bewegung setzten und wie Fahrstühle tatsächlich nach unten fuhren.
Die Stacheln waren im Boden verschwunden, nur das Blut war noch da. Und die Leichen. Als vermummte Wächter kamen, um sie aus ihren Zellen zu führen, bemühte er sich, nicht in die Richtung von Maxim, Felix und Xenia zu schauen. Er hörte, wie einer der anderen sich übergeben musste, eine andere Spielerin brach in Tränen aus. Alex schloss einfach die Augen und ließ sich von den Maskierten in einen anderen Raum führen.
Erst dort öffnete er die Augen wieder. Der Boden hier war zweifarbig. Hell und dunkel, quadratische Felder, acht mal acht insgesamt. Die Wände waren ebenso massiv wie im Raum zuvor, er ahnte, dass es auch hier keinen Ausweg gab. Einer der Wächter drückte ihm ein Holzschwert in die Hand, schob ihn auf eines der Felder in der zweiten Reihe. Die anderen bekamen andere, meist bessere Waffen, einige auch eine Rüstung.
Als sich zwei Gruppen zu je sechzehn Personen gegenüberstanden, erklang erneut die Stimme: „Ihr habt euch für die zweite Runde qualifiziert. Spielt das Spiel.“
 
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