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3 Seiten

Marzouk

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Ich war mit dem Wagen auf dem Weg zur Post, um Briefe loszuwerden und um bei Martine, der Postbeamtin, ein Schwätzchen zu halten, falls am Schalter in ihrem kleinen Büro nichts los sein würde. Da sah ich vor mir auf der Straße einen Hund, groß wie ein Schuhkarton und blondgelockt. Ich umfuhr ihn vorsichtig, ahnend, dass wir dann, wenn ich anhalten würde, einen vierten Hund haben würden. Im Rückspiegel sah ich ihn weglaufen.

Martine hatte nicht viel zu tun, so dass sie mich in ihre angrenzende Wohnstube zu einem Kaffee nebst Plausch einlud. Das Telefon unterbrach unsere tiefsinnigen Lebensbetrachtungen. Nachdem Martine den Hörer aufgelegt hatte, meinte sie leicht grinsend, ich solle mal nach Hause fahren, um unseren blondgelockten vierten Hund zu begrüßen. Ich verabschiedete mich von Martine mit der Bemerkung, dass dieser vierte Hund leider keine Überraschung für mich darstelle. Zuhause angekommen, habe ich mich sofort in den Keller begeben und mich an eine seit langem aufgeschobene Arbeit gemacht. Denn diesem vierten Hund durfte ich unter keinen Umständen von Angesicht zu Angesicht begegnen, denn dann würde er automatisch Familienmitglied mit Vollpension, so wie z. B. auch die sieben Katzen, die sich nach und nach bei uns eingefunden haben.

Barbara und Sabine kamen abwechselnd in den Keller, um mir Details des Neuzuganges zu berichten und um herauszufinden, was diesbezüglich in mir vorginge. Aber ich knurrte nur, man möge sich den Hund schnappen und rumfragen, ob er bekannt sei. Nach zwei Stunden kamen die beiden Damen mit der Nachricht in den Keller, dass ihn keiner kenne, und dass ihn keiner haben wolle. Außerdem habe das Tierheim telefonisch verlauten lassen, dass jetzt im Winter täglich vier bis fünf Hunde eingeliefert würden, wovon die alten nach acht Tagen getötet werden müssten. Eine Tierärztin, die die beiden Damen mit dem Hund aufgesucht hatten, habe zudem gemeint, dass dieser auf einem Auge blind und alt sei, und dass er auch nur noch vereinzelt Zähne im Maul habe. Somit schied schon mal das Tierheim aus – aber auch jegliches hartes Trockenfutter. Als Futter kam also nur jenes schmackhafte, in Döschen verpackte Nassfutter in Frage, das die Werbehunde im Fernsehen aus silbernen Schüsselchen bei Kerzenlicht und Klaviermusik schmausen.

Da es für mich im Keller allmählich kalt zu werden drohte, und ich dort kaum die Nacht verbringen wollte, wagte ich mich nach oben, wo Sabine einen blondlockigen, breit wie langen, etwa schuhkartongroßen Hund bürstete, dessen Vorne vom Hinten nur dadurch zu unterscheiden war, dass an einem Ende offensichtlich ein Stück Schwanz wedelte. Meiner ansichtig, befreite er sich aus Sabines Händen und sprang an mir hoch, wobei er bis zu meinem Knie schaffte. Nun ja, lieb schien der Kleine zu sein. Barbara nahm ihn wie ein Baby auf den Arm. Und beide Damen riefen im Chor: „Ist er nicht süß!“ Auf meine Bemerkung „Ja, süß und hässlich“ erntete ich zwei zornige Blicke.

Barbara, die ansonsten das Recht der Namengebung innehat, wie z. B. Berta, Anton, Willi, Olga, fragte mich, wie ich ihn denn nennen wolle. „Wieso ich?“, fragte ich vorsichtig zurück. „Nun“, meinte Barbara, „weil Du für seinen Unterhalt aufkommen musst.“ Als wenn das nicht bereits auch der Fall war bei den anderen Tieren im und am Haus. Aber sie dachte wohl unausgesprochen an „den teuren Unterhalt“. Nun, damit war die Sache entschieden. Und ich verkündete spontan „Marzouk soll er heißen“. Sabine meinte, ob ich mich damit nicht vergriffen habe, denn Marzouk sei doch der Name eines Wolfes gewesen. „Deshalb eben“ erwiderte ich, zum Nachdenken anregend.

Danach wurde ich sogar auch noch gefragt, ob man ihn nun mit den anderen drei Hunden zusammen bringen könne: mit Luna, der sanften aber stürmischen Schäferhündin, mit Berta, der alten und schon mal hinterlistigen und eifersüchtigen Mischlingshündin, und Anton, dem Hund, der eher einem Rhesusaffen ähnelt und sich schon mal leicht im Streit mit anderen Hunden überschätzt.
„Kein Problem“, sagte ich knapp. Und es gab auch kein Problem. Nach spätestens zehn Minuten, wobei auch unsere drei Hunde das Vorne und das Hinten bei dem Neuankömmling suchten, waren alle vier bereits alte Bekannte, und man zog sich danach wieder auf das Sofa und den Sessel zurück. Sabine meinte, mit dem noch intakten einen Auge könne Marzouk unter seinem Pony bestimmt schlecht sehen und schnitt ihm kurzerhand den Haarvorhang ab. Nun konnte man bei Marzouk auch sofort Vorne von Hinten unterscheiden.

Beim Abendbrot war Marzouk, das Wie, Warum, Wo und Wer, das einzige Thema, wobei es auch zu mannigfaltigen Wiederholungen kam, sonst wäre dieses Thema allzu früh ausgeschöpft gewesen. Nach vielerlei Abwägen kam man trotz des guten Erhaltungszustandes von Marzouk letztlich doch zu der übereinstimmenden Überzeugung, dass auch ihn wegen seines Alters solch ein menschliches Schwein ausgesetzt habe. Und Sabine drohte damit, diesen Schweinemenschen anzuzeigen, wenn , ja wenn sie seiner habhaft werden würde. Daß Sabine diese Drohung sofort wahrmachen würde, habe ich ihr ohne Zögern abgenommen, zumal ich sie schon seit längerer Zeit „Zorro“ nenne.

Für die Nacht wurden dann mehrere Polsterungen ausprobiert, bis sich Marzouk für eine entschied. Vor dem Schlafengehen hat er auch noch gezeigt, dass er bellen kann, weil er nicht alleine gelassen werden wollte. Also bezog er Quartier an Barbaras Bettseite, denn das Bett selbst beherrschte bereits Anton. Diese Position konnte ihm Marzouk von sich aus auch nicht streitig machen, weil das Bett etwa ein Meter hoch ist, und Marzouk nicht so behende hochspringen kann wie Anton.

Diese erste Nacht mit Marzouk verlief störungsfrei. Am Morgen danach wurde Marzouk das besagte Weichfutter gereicht. Und zwei Stunden später holte ihn der glückliche Besitzer ab, der die Verstümmelung seines Lieblings durch Sabine zwar lautlos doch stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm.
 
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