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4 Seiten

Der Einsame

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
"Es ist nicht schön, allein zu sein"

So lautet die Hymne der deutschen Rock-Poeten Tocotronic auf die Frau, mit der der Sänger den Rest seines Lebens scheinbar verbringen möchte. Wie schon in früher Kindheit stellt sich mir auch heute die Frage, warum denn so viele Lieder, so viel Musik und Lyrik überhaupt, generell so viele kreative Werke, der Liebe gewidmet seien. Doch im Gegensatz zur frühen Kindheit spüre ich die Antwort tagtäglich in mir, ohne sie richtig artikulieren zu können. Diesen Versuch möchte ich jetzt starten.

Ich gehe von der Situation aus, die vielleicht als die kompliziertere zu erörtern scheint, ohne doch dabei die komplexere zu sein, nämlich der, des alleine seins. Fühlt der Einsame sich zu seiner Einsamkeit hingezogen - ist er also mit dem Zustand des alleine seins einverstanden und zufrieden, hat er ihn mithin unter äußerster Freiwilligkeit gewählt - so darf man ihn dabei nicht stören. (Dabei gehe ich bewusst von DEM Einsamen aus, da mit Annahmen und Mutmaßungen über DIE Einsame zu dreist und gewagt erscheinen.) Der gewählte Einsame fühlt sich in seinem Zustand wohl und spürt nicht das Verlangen oder einen merkwürdigen Drang, dies zu verändern. Ich möchte nur annehmen, dass ein solcher Zustand, so bemerkenswert und bestrebenswert er auch für den Einzelnen sein mag, nicht ein Dauerhafter bleiben kann.

Sobald der Einsame jedoch, sich seiner Einsamkeit bewusst, mit seiner Lage nicht mehr in Einklang steht, sobald ihm seine Einsamkeit zur Qual wird, weil die momentane Situation nicht seinem Wunsch entspricht und daraus eine jede Minute seines Lebens erfüllende, reißende Spannung wird, stößt er hervor aus seiner Geborgenheit, sucht den Zusammenhang, sie Sozialität, in Gedanken noch mehr als mit seinem Körper. Er fühlt den Zwang, überall dazugehören zu wollen, jedem Menschen ein Teil zu werden, und Persönliches nicht nur sich Kund zu tun, und entfremdet sich so der Welt, wenn er dies nicht schafft. Der Einsame, in seiner Einsamkeit trainiert und sonst wo ungeübt, fällt leicht in diesen Spalt zwischen Angehörigkeit und absurder Verlassenheit und triebt ihn nur allzu gerne in den Zynismus, die gröbste Untugend aller, die sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zerren möchten. Gelänge es dem Einsamen jedoch, sich einzugliedern, ist damit nur der erste von hunderttausend Schritten getan.

Nur allzu leicht spürt er eine große Gebundenheit zu einem bestimmten Menschen seiner Wahl, ohne - nur in seiner geborgenen Einsamkeit geübt - überhaupt einschätzen zu können, wer denn dieser Mensch sei und was dieses Gefühl der Gebundenheit zu bedeuten habe. Zu unerfahren noch ist er, als dass er wissen könne, was in den Menschen er denn überhaupt suche. Und zu naiv ist er, als dass er jedes positive Gefallen von jenem positiven Gefallen zu unterscheiden wüsste. So passiert es nur zu häufig, dass er in Menschen die Erfüllung sieht, die ihn aber zwangsläufig, unausweichlich enttäuschen müssen, und das ist ihm eine grausame, schmerzhafte Erfahrung. So mag es passieren, dass er sich verletzt wieder in seine Geborgenheit flieht, die ihm sodann keinerlei Ausweg mehr lässt. Aber schafft es der Einsame, zu der einen oder anderen Enttäuschung Distanz zu gewinnen, ist damit bald ein großes Stück Weg geschafft, und er weiß besser zu unterscheiden, was sein Zustand und was er selbst verlangt.

Die süße Vorstellung, nicht mehr nur er selbst zu sein, sondern in einem anderen Menschen sich selbst zu sehen, sich durch andere zu definieren, in anderen mehr zu sein, als der Einsame in seiner Einsamkeit, wird nun verstärkt und aber fundierter. Allein den Arm um einen Menschen zu legen und dessen Eigenständigkeit zu spüren, wie eine Katze, die sich geschickt aus dem Griff entwendet, wird zu einem einzigartigen Erlebnis, jedes Mal von neuem, das den Einsamen beglückt und aber verblüfft, dass er es nie mehr missen möchte. Den Duft zu atmen, die Wärme zu spüren, von Küssen noch vollkommen abgesehen.

Der Einsame muss lernen, sich in andere Menschen hineinzudenken, verstehen zu können, so wie sie verstehen, auf die Leute einzugehen, so wie es die Menschen brauchen, nicht nur so, wie er es kann. Tut er das nicht, geht er an seiner eigenen Unfähigkeit zu Grunde, wenn ihm dies nur mal bewusst wird.

Und plötzlich sieht sich der Einsame einer Aufgabe gegenüber, die ihm schier nicht zu bewältigen scheint. Plötzlich wird ihm klar, wie schwer es dem Ungeübten fällt, sich wirklich anderen Menschen zu widmen, tatsächlich ein Teil des Gegenübers zu werden, als nur ein bloßes Anhängsel, dessen man sich entledigen und das leicht ersetzt werden kann. Spürt der Einsame erst diese Überforderung, so darf er dabei die Motivation nicht verlieren. Nur zu gerne verliert er sich in ziellosen Versuchen und vergisst sich selbst und andere in reiner Methode. Auch nur allzu gerne gibt er erst am Fuß des Berges, auf und tritt den Rückzug in seine Höhle an.

[Dem Einsamen bleibt also, gibt er sein Vorhaben nicht vorschnell aus, was ihm zu raten wäre, nichts anderes, als die schwierige, mühsame Besteigung des Berges anzutreten. Diese fordernde Tätigkeit mag sich der Einsame doch erleichtern: er mag vielleicht die Augen schließen und loslaufen, alles nieder rammen, was ihm im Weg stehe, doch muss er darauf achten, dabei nicht draufzugehen; auch mag er Drogen nehmen, die ihm den Anstieg wie eine gemütliche Seerunde erscheinen lassen, aber man verliert den Zugang zu sich selbst und seiner eigen bestandenen Aufgabe nur zu leicht, und gerade dieses Gefühl sucht der Einsame; oder er mag sich eine Begleitung suchen, die ihn sicher, wenn er wankt, an der Hand nimmt und weiter zieht, wenn er keucht, und der er zeigen kann, was er alles neues gelernt hat, damit er sich ein wenig selbst bestätigt fühlen darf.]

In seiner Einsamkeit geübt betrachtet dieser die Gegen- und Umstände, vor allem aber die Menschen, mit denen er zu tun hat, wenn er sie nicht als bloße Unwichtigkeiten abtut (was wohl eher dem Depressiven zuzuschreiben ist), entweder als Aggressoren oder als bloßes Spiel, ohne jeden Belang auf sein Leben. Ist er ersteren Umgang gewöhnt, so bleibt zu hoffen, dass er in einer gravierenden Konfrontation eines besseren belehrt würde. Ist er aber jenen, so darf es nicht passieren, tut es aber leider allzu oft, dass ihm sein Gegenüber als belangloses Objekt der Experimentierung dient. In stundenlangen Gesprächen analysiert der Einsame und versucht das Gegenüber zu durchschauen, und dringt er ein Stückchen vor, so freut er sich, als hätte er ein neues Level geschafft.

Aber solche Situationen entfremden den ohnehin schon Realitätsfernen. Er muss sich anfangs stets vergewissern, dass er einem Menschen gegenüber sitzt, einem Menschen, den er hassen oder lieben kann, soll und darf, einem Menschen, der seinen eigenen Weg geht und eigene Persönlichkeit entwickelt, einem Menschen, wegen dem andere weinen, lachen, gehen, kommen, Lieder komponieren, sich betrinken, oder Kriege angefangen werden könnten. Und erkennt der Einsame an diesem Punkt von Neuem, dass da vor ihm ein fühlendes Wesen sitzt, vollgestopft mit Erfahrungen, Geschichten eines bewegten Lebens und Möglichkeiten, so hat er erneut einen riesigen Schritt getan, denn er hat die Bedingungen der Möglichkeit gesehen, einen Menschen von ganzem Herzen lieben zu können.
 
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Kommentare  

Die Sprache ist sehr schön, der Schluss auch sehr gut gelungen. Den Anfang "stellt sich mir auch heute die Frage" kling ein wenig unoriginell, aber der Einstieg per Liedtext ist gut gelungen. Das einzige was ich als wirklich nicht besonders gelungen empfinde ist der Rahmen, zu trocken, eine "wissenschaftliche Anhandlung" regt mich selten zum Nachdenken an, eher zum Lernen und sinnlos in mich reinfressen. Gruß

Eden (03.02.2005)

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